Ukraine-Krieg: Russland kann Kursk-Offensive strategisch aussitzen

Präsident Wladimir Putin spricht via Bildschirm mit dem Gouverneur von Kursk über die Situation

Präsident Wladimir Putin spricht mit dem Gouverneur von Kursk über die Situation. Bild: Kremlin.ru/ CC BY 4.0

Zermürbungskrieg im Donbass: Russische Truppen rücken weiter vor. Großer Artillerievorteil erschwert ukrainische Verteidigung. Einschätzung.

In einer neuen Phase des Ukraine-Konflikts haben russische Streitkräfte innerhalb eines einzigen Tages im Donbass 50 Quadratkilometer ukrainisches Territorium erobert. So konnten russische Truppen die Stadt Niu-York vollständig erobern und bereits in das nördlich gelegene Nelipiwka vordringen.

Ziel Torezk

Ziel des Vorstoßes nach Norden ist die Stadt Torezk, deren südlicher Stadtrand jetzt nur noch 2,5 Kilometer von den russischen Spitzen entfernt liegt. Auch westlich des Ortes im Donezbecken mit gut 30.000 Einwohnern dringen russischen Soldaten weiter in Richtung der Stadt vor.

Sie konnten jetzt auf voller Länge die Straße zwischen Piwnitschne und Nelipiwka überschreiten und die beiden gut befestigten Abraumhalden einnehmen.

Damit ist die gesamte zweite Verteidigungslinie der Ukraine in diesem Frontabschnitt unter russischer Kontrolle. Vor Torezk gibt es jetzt keine Verteidigungsanlagen mehr.

Die Einnahme der Stadt wäre insofern bedeutend, als es sich hier um eine ehemals gut befestigte Stellung handelt – mit Befestigungsanlagen, die seit 2014 ausgebaut wurden. Doch wäre die Einnahme nicht katastrophal wie etwa die Einnahme von Pokrowsk, da sich westlich von Torezk drei weitere Verteidigungslinien befinden.

Pokrowsk-Front: Prekäre Lage für ukrainische Verteidigung

An der Pokrowsk-Front ist die Lage für die Ukraine besonders prekär. Im südlichen Abschnitt rücken russische Truppen von Mykolaiv her kommend in Richtung der Kleinstadt Selydowe vor. Dort finden bereits Kämpfe um die nur 4,5 Kilometer vom Stadtzentrum von Selydowe befindliche östliche Zeche statt.

Wenn es russischen Truppen gelingen sollte, die Stadt einzunehmen, wären hier die südlich von Selydowe gelegenen Befestigungen bedroht. Eine Karte mit vermuteten Fortifikationen findet sich beispielsweise auf der Karte des dänischen Mappers WeebUnion.

Von Selydowe aus lassen sich die Hauptbefestigungsanlagen der Ukraine in diesem Abschnitt von der Seite und von hinten einnehmen.

Vorbereitung des Angriffs auf Pokrowsk

Um den Angriff auf die Agglomeration Pokrowsk vorzubereiten, scheint die russische Armee sich wie immer auf die Flankensicherung, hier besonders im südlichen Raum zu konzentrieren. Besonders die Einnahme von Ptyche wird wahrscheinlich eine Vorbedingung sein, um weiter Richtung Pokrowsk vorzurücken.

Südwestlich von Donezk mussten sich ukrainischen Truppen in Kostyantynivka weiter zurückziehen, russische Truppen stießen fast ins Dorfzentrum vor. Durch Kostyantynivka läuft die für die ukrainische Festung Wuhledar so wichtige Nachschubstraße O0532, die bereits an zwei Stellen unterbrochen wurde. Wuhledar ist der südöstlichste Eckpfeiler der ukrainischen Donbassfront und stark befestigt.

Russland versuchte einige äußerst verlustreiche Erstürmungen der ehemaligen Bergarbeiterstadt. Durch die Unterbrechung der Hauptnachschubroute zur Festung wird die Lage für die Verteidiger allerdings nun immer schwieriger.

Im Bereich Charkow gelingt es den dortigen russischen Truppen, wieder vorzurücken, und zwar auf das Dorf Lypzi. Das kann ein Indikator dafür sein, dass ukrainische Truppen aus diesem Abschnitt abgezogen worden sind, vermutlich in Richtung der Kursk-Front.

Kursk-Offensive: Versorgung der russischen Truppen erschwert

Im Bereich Kursk konnte die Ukraine kleinere Geländegewinne verzeichnen, allerdings blieben dort weitere raumgreifende Operationen aus, der russischen Armee ist es scheinbar gelungen, dort eine Front zu etablieren.

Ukrainische Kräfte konnten drei Brücken über das Flüsschen Seym zerstören. Dadurch sind die südlich des Seym gelegenen russischen Truppen vom Nachschub abgeschnitten. Allerdings konnten russische Pioniere bereits Ponton-Brücken errichten.

Trotzdem ist die Versorgung der russischen Truppen dadurch bedroht und es kann spekuliert werden, ob sich die russische Armee unter Aufgabe der südlich des Flüsschens gelegene Verteidigungsstellung auf das nördliche Ufer zurückziehen muss. Allerdings ist der Seym nur ein kleiner Fluß, oft nicht breiter als 20 Meter.

Die Standard-Mannschaftstransporter sind anders als die meisten westlichen Pendants schwimmfähig. Für sie stellt der Seym kein großes Hindernis dar. Deshalb bleibt abzuwarten, ob sich die russische Führung dazu entschließen sollte, die Verteidigungsstellung aufzugeben. Diese wird auch durch ukrainische Stöße von Osten her bedroht.

Kursk und Donbass: Strategisch bedeutsame Unterschiede

Es ist wichtig, sich noch einmal die Unterschiede zwischen der Region um Kursk und dem Donbass militärstrategisch klarzumachen.

Der Donbass ist seit den frühen Anfängen des Ukraine-Krieges im Jahr 2014 stark befestigt worden. Hier kämpft sich die russische Armee von Verteidigungslinie zu Verteidigungslinie. Zudem ist der Donbass reich an Bodenschätzen und Industrieansiedlungen.

Dagegen ist die Region um Kursk weder mit nennenswerten Verteidigungsanlagen bestückt, noch gibt es hier Industrie. Die Ausnahme ist die unmittelbare Umgebung um die Großstadt Kursk.

Aber von dieser ist die Ukraine weit entfernt, eine Bedrohung scheint fraglich. Obwohl es Russland im Moment nicht schafft, die ukrainischen Truppen zurückzuschlagen oder den ukrainischen Vormarsch zur Gänze zu stoppen.

Die Lage in der Ukraine bleibt jedoch angespannt, während sich der Konflikt in eine neue Phase bewegt. Wie das Wall Street Journal am 17. August berichtet, kämpfen ukrainische Truppen an der Ostfront mit einem gravierenden Mangel an Soldaten und Munition.

"Wir haben nicht genug Leute, um unseren Job richtig zu machen"

"Wir haben nicht genug Leute, um unseren Job richtig zu machen", zitiert die Zeitung den Kommandeur des 21. Bataillons der Separaten Präsidentenbrigade, der an der umkämpften Front bei Krasnohorivka stationiert ist. Diese Aussage unterstreicht die prekäre Situation der ukrainischen Streitkräfte, die sich einem zahlenmäßig überlegenen Gegner gegenübersehen.

Die Situation der ukrainischen Streitkräfte ist besonders kritisch im Hinblick auf die Artillerie. Das Wall Street Journal berichtet weiter, dass das russische Militär in einigen Gebieten einen 10-zu-1-Vorteil bei Artilleriefeuer hat. Darüber hinaus neutralisiert die russische Armee ukrainische Drohnen mit elektronischen Störsendern, was die Verteidigung weiter erschwert.

Diese technologische Überlegenheit Russlands stellt eine ernsthafte Herausforderung für die ukrainischen Verteidigungsbemühungen dar.

Gefährliche Wette auf emotionale Reaktion in Moskau

Die ukrainische Führung hat eine gefährliche Wette darauf abgeschlossen, dass sich die russische Führung dazu hinreißen lässt, auf die Kursk-Offensive emotional und unüberlegt zu reagieren, in dem sie etwa Truppen von anderen Frontabschnitten nach Kursk verlegt oder zu einer drastischen, unangemessenen Maßnahme greift, einer Art Vergeltungsoperation, die dazu geeignet wäre, dem Ansehen Russlands außerhalb der Sphäre der westlichen Verbündeten zu schaden.

Die dort gelegene Sphäre, die nicht von den USA dominiert wird, ist elementar wichtig für die russische Rüstungsindustrie, nachdem der direkte Austausch mit westlichen Industriepartnern schwierig geworden ist.

Rechnung mit Gesichtsverlust für den Kreml

Die zugrunde liegende Überlegung war wohl, dass es für Russland eine Art "Gesichtsverlust" bedeuten würde, wenn russisches Mutterland von der Ukraine besetzt wird. Eine entsprechende flankierende Medienkampagne in den Medien des globalen Westens und in den vom Westen unterstützten russischsprachigen Medien wurde offensichtlich als Maßnahme im Informationsraum zur Kursk-Offensive gestartet.

Doch außerhalb dieses emotionalen Faktors hat das ganze durch die Ukraine eroberte russische Gebiet keinerlei militärisch-strategischen Wert. Die Ukraine hat Wälder, Felder und Dörfchen besetzt. Und von Wäldern, Feldern und Dörfchen – davon hat Russland eine ganze Menge.

Nur das Atomkraftwerk Kursk hat strategischen Wert

Russland braucht dieses von der Ukraine jetzt besetzt gehaltene Gebiet in keiner Weise, um seine militärischen Anstrengungen gegen die Ukraine fortsetzen zu können. Es befindet sich keinerlei Installation von strategischem Wert in dem besetzten Gebiet. Die Ukraine kann theoretisch ihren Einbruchsraum glatt verdoppeln, ohne dass auch nur in Ansätzen eine strategische Relevanz eintritt.

Nur das Atomkraftwerk Kursk hat strategischen Wert. Auf die Bedrohung hat die russische Führung jetzt mit dem Blitz-Bau eines kilometerlangen Panzergrabens reagiert, der das Atomkraftwerk abschirmt und das Vorrücken auf das Atomkraftwerk deutlich erschweren dürfte.

Die russische Führung kämpft methodisch und kühl berechnend. Es hat nicht den Anschein, dass sie emotional-patriotisch reagiert und dem Zurückerobern der verlorenen Gebiete bei Kursk eine große Priorität einräumt. Die hat es militärisch auch nicht. Die Kursk-Offensive der Ukraine kann Russland aus strategischer Sicht einfach aussitzen.

Dagegen kann man die Lage für die Ukraine bei Pokrowsk nur als katastrophal bezeichnen. Fällt die Stadt, so kann Kursk ein spiegelverkehrter Ausblick auf kommende russische Manöver tief in das Gebiet der Ukraine hinein sein.