Ukraine-Krieg: Russlands Gleitbomben als Game-Changer
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Massenhafte Nutzung der Waffe beeinflusst Kriegsverlauf. Aktuell wird sie modernisiert. Die Ukraine hat bisher noch keine effektive Gegenstrategie.
Über 100 Gleitbomben kann die russische Armee angeblich jeden Tag über der Front zum Einsatz bringen. Der strapazierte Begriff des "Game-Changer" – hier kann er angewendet werden. Denn der anhaltende Vormarsch der Streitkräfte Moskaus können mit diesem Masseneinsatz der wirkmächtigen Bomben in Zusammenhang gebracht werden.
Man könnte sogar behaupten, dass Russland auf eine gleitbombenzentrierte Kriegsführung umgestellt hat.
Ukrainische Armee: Auf Verteidigung konzentriert
Seit der gescheiterten ukrainischen Frühlingsoffensive vor einem Jahr ist die Armee Kiews auf dem Rückzug. Und hat sich seitdem ganz auf die Verteidigung ihres Restterritoriums konzentriert. Schon seit 2014 hat die Ukraine teils weitläufige Verteidigungsanlagen gebaut. Und seit Ende des vorigen Jahres baut sie fieberhaft neue Stellungen, um das russische Vorrücken stoppen zu können.
Eigentlich sind die verteidigenden Kräfte im Vorteil. Sie können sich in vorbereiteten und gut geschützten Stellungen verbergen, während der Angreifende nahezu schutzlos das Vorfeld vor den feindlichen Stellungen überwinden muss.
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Die guten Verteidigungsanlagen der russischen Ingenieure waren der Hauptgrund für das Scheitern der ukrainischen Angriffsbemühungen im vorigen Jahr. Die ukrainischen Angriffe mussten aufgrund der hohen ukrainischen Verluste schließlich abgebrochen werden.
Von dieser gescheiterten Frühlingsoffensive haben sich die Streitkräfte der Ukraine bis heute nicht erholt und ihr bis jetzt jede Möglichkeit genommen, weitere Offensivoperationen durchführen zu können.
Zwar hatten die angreifenden Ukrainer Unterstützung durch eigenes Artilleriefeuer. Doch was ihnen fehlte, war nahezu jedwede Luftunterstützung.
Gleitbomben als effektive Waffe gegen Verteidigungsanlagen
Russland hat durch den massenhaften Einsatz der Gleitbomben einen Weg gefunden, sich den Weg durch die umfangreichen Verteidigungsanlagen der Ukraine regelrecht freizusprengen. Die Methode sieht grob beschrieben so aus:
Ein kleiner Stoßtrupp, in der Regel nicht mehr als 60 Soldaten, das entspricht der militärischen Teileinheit eines "Zuges", greift ukrainische Stellungen an. In den allermeisten Fällen geschieht der Angriff dieses Stoßtrupps sogar mit der Einheit einer "Gruppe", die maximal 15 Soldaten umfasst.
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Während des laufenden Angriffs werden mithilfe von Aufklärungsdrohnen gehärtete Widerstandsnester der Verteidiger aufgeklärt und kartografiert. Dann erfolgt die Zielzuweisung an Wirkmittel wie an die Artillerie, Raketenartillerie oder eben an die russische Luftwaffe, die dann Gleitbomben einsetzt.
Diese sind im Vergleich zur Artillerie ungleich wirkmächtiger, die übliche Masse einer solchen Gleitbombe beträgt 250, 500, 1500 und jetzt neu sogar 3000 Kilogramm. Eine 152 Millimeter Standard-Granate der russischen Artillerie wiegt in der Regel unter 50 Kilogramm.
Mit den entsprechend großen Sprengköpfen und der sich im Laufe der Monate gesteigerten Präzision sind diese großen Gleitbomben in der Lage, ganze Bunker und Stützpunkte auf einen Schlag zu vernichten.
Gleitbomben als Panzerersatz
Das spart den russischen Angreifern gepanzerte Fahrzeuge, denn statt Panzer vorzuschicken, um Fortifikationen zu bekämpfen, kann die russische Luftwaffe in nur einem Bruchteil von einer Sekunde eine Bresche in die Verteidigung der Ukrainer schlagen.
Nachgeführte russische Einheiten können nach dem Einschlag der Gleitbomben weiter vorrücken.
Hierbei ist noch wichtig zu bemerken, dass Russland nicht darauf abzielt, die so entstandenen Lücken für weite Durchbrüche und Stöße hinter die ukrainischen Linien auszunutzen. Die Taktik besteht darin, systematisch und langsam vorzugehen. Das vermeidet unnötige militärische Risiken und schont die Leben der Soldaten.
So sind die Gleitbomben eine Art Panzerersatz und schonen das Leben der Soldaten – kein Wunder, dass die russischen Ingenieure ihr Arsenal an Gleitbomben ständig weiterentwickeln.
Mit Laser-Führungsmodul im Gleitrüstsatz
Spätestens seit April ist eine Gleitbombe mit Laser-Führungsmodul im Gleitrüstsatz (UMPK) gefunden worden, wie der britische Economist aktuell berichtet.
Bisher gab es nur das sogenannte Kometa-Satelliten-Führungsmodul, das sowohl die russische Glonass-Satelliten-Konstallation als auch das US-GPS-Signal empfangen kann. Kometa ist gehärtet gegen Störversuche durch elektronische Kriegsführung. Es ist über die Zeit technisch aufgerüstet worden und umfasst jetzt acht statt nur vier Antennen, was eine Erklärung ist für seine verbesserte Präzision.
Die neue Implementierung eines Laser-Führungsmoduls bedeutet eine nochmals gesteigerte Präzision, wie sie sonst nur ungleich höherpreisige Marschflugkörper oder die kleineren Präzisions-Artilleriegranaten aufweisen.
Das Gros dieser Gleitbomben besteht aus einer mit einem Gleitrüstsatz (UMPK) umgerüsteten alten Fliegerbombe, die es in großen Mengen in den Arsenalen der russischen Luftwaffe gibt. Dieser Gleitrüstsatz ist technisch sehr grob, sehr einfach, schnell und billig zu bauen.
Deshalb kann Russland davon über 100 Stück pro Tag produzieren und über den ukrainischen Stellungen zum Einsatz bringen.
Gleitbomben der KAB-Serie
Russland hat seit der Sowjetzeit auch dezidierte Gleitbomben in seinen Arsenalen, die Gleitbomben der KAB-Serie. Auch diese gibt es in unterschiedlichen Gewichtsklassen, die schwerste ist hier die Familie der KAB-1500, die es in mindestens elf Ausführungen gibt und die eine Gesamtmasse von 1,5 Tonnen aufweist.
Die Gleitbomben der KAB-Serie sind technisch fortschrittlicher – und vermutlich teurer zu fertigen, deshalb kann man keinen Masseneinsatz in der Ukraine beobachten.
Allerdings berichtet das Fachportal Army Recognition im Mai von einem Einsatz von 40 KAB allein an einem Tag.
Weiterentwicklungen, die massenhaften Einsatz ermöglichen
Offensichtlich haben russische Ingenieure jetzt unter den Bedingungen eines Abnutzungskrieges, der schnelle, einfache und kostengünstige Lösungen erfordert, eine neue, dezidierte Gleitbombe entwickelt: die UMPB D-30SN. Das schreibt das Long War Journal Anfang Juni in einem ausführlichen Bericht.
Im Vergleich zur KAP-Serie scheint die neue Gleitbombe einfacher konstruiert zu sein. Da sie aber direkt aerodynamisch als Gleitbombe und nicht wie die FAB-Serie als Freifallbombe konstruiert wurde, hat sie gegenüber der FAB mit UMPK eine nochmals um 20 Kilometer erhöhte Reichweite von rund 90 Kilometern.
Das ist wichtig, weil es die Kampfflugzeuge in die Lage versetzt, einen größeren Abstand zu einer möglichen Bedrohung durch die ukrainische Flugabwehr einzuhalten. Oder noch weiter entfernte Ziele hinter der Front zu treffen.
Denn die Bedrohung durch die ukrainische Luftabwehr wird spürbar steigen, wenn die Ukraine bald insgesamt sieben Patriot-Batterien einsetzen kann. Das sind dann theoretisch 56 Starterfahrzeuge, wenn man die Sollstärke einer Patriot-Batterie zur Grundlage nimmt.
Allerdings gelang es den russischen Streitkräften in den vergangenen Monaten immer wieder, Patriot-Batterien aufzuspüren und zu bekämpfen. Der Bestand dürfte also deutlich darunter liegen.
Verstärkte Einsätze mit neuen Gleitbomben
Seit April bis Anfang Juni gab es laut eines vom Long War Journal verlinkten Dokumentes bereits 85 Einsätze mit den neuen Gleitbomben, bei denen 152 dieser Bomben abgeworfen wurden.
Die neue UMPB D-30SN haben kleine Flügel in den Bombenrumpf integriert, die sich unmittelbar nach dem Abwurf ausklappen. Das Gewicht der Bombe ist bisher nicht bekannt, der Sprengkopf soll aber 100 Kilogramm wiegen. Da die Gleitbombe aus einem Guss entworfen wurde, kann im Vergleich zur FAB mit dem zusätzlichem Gleitrüstsatz sicher Gewicht gespart werden.
Über die Kosten sind noch keine Angaben zu finden.
US-Gleitbomben-Modell SDB
Das US-Pedant der UMPB D-30SN, die GBU-39/B Small Diameter Bomb (SDB), soll gut 40.000 Dollar kosten. Es kann angenommen werden, dass die russische Konstruktion erheblich günstiger sein wird.
Das US-Gleitbomben-Modell SDB war höchstwahrscheinlich das Vorbild für die russische Neuentwicklung.
Von der amerikanischen SDB gibt es auch eine Variante, die nicht von einem Flugzeug zum Einsatz gebracht werden muss, sondern über das Raketenartillerie-System Himars verschossen werden kann. Hierzu wird die SDB mit einem Antriebs-Raketenmodul versehen.
Es wird vermutet, dass auch die russische UMPB D-30SN in einem weiteren Entwicklungsschritt so aufgerüstet werden soll. UMPB steht nämlich für "Interspezifische Gleit-Munition", und es wird spekuliert, ob das "Interspezifisch" für eine Weiterentwicklung hin zu einer bodengestützten Variante steht.
Hoffnungen der ukrainischen Armee
Die US-Gleitbombe, und hier besonders die bodengestützten Variante (GLSDB), wurden von den Truppen der Ukraine mit viel Hoffnung erwartet. Doch es hat sich herausgestellt, dass sie ineffektiv ist – die russischen Streitkräfte können sie jammen und sie so unwirksam machen.
Jetzt berichtet Business Insider davon, dass die GLSDB deswegen gänzlich aus der Ukraine abgezogen wurde. Dagegen scheinen ukrainische Jammversuche gegen russische Gleitbomben nicht erfolgreich zu sein.
Das gleiche Schicksal wie die GLSDB ereilte auch die "Joint Direct Attack Munition – Extended Range" (JDAM-ER), ein US-Analogon der russischen FAB-Bomben mit UMPK, die ebenfalls als Vorbild für die russische Entwicklung diente.
Auch die JDAM-ER wird durch russische elektronische Kriegsführung gestört und so offenbar weitestgehend unwirksam gemacht. Hier haben die Streitkräfte der Ukraine zusätzlich das Problem, die JDAM-ER Gleitbomben überhaupt zum Einsatz bringen zu können – es fehlen Flugzeuge als Plattformen für den Abschuss.