Ukraine: Kriegsverbrechen als Wimmelbild
Seite 3: Lwiw nach Kiew
Der Fahrt von Lwiw nach Kiew ging einer längeren Planung der Route voran. Ortskundige Fahrer gaben uns genaue Anweisungen, wie und über welche Routen, durch welche Orte und über welche Checkpoints wir fahren sollten und wann wir tanken müssen. Ein kompliziertes Unterfangen, was mit einem Plan endete, der an das Roadbook eines Rallyefahrers erinnert. "Ihr werdet mindestens zehn Stunden brauchen und um 21 Uhr ist Lockdown. Fahrt also spätestens um zehn Uhr los."
Wir hielten uns an die Vorgaben, starteten früh und fuhren mit genug Benzin im Tank und im Kanister, um im Notfall ohne Stopp an einer Tankstelle durchfahren zu können. Die Straße war je Richtung mal einspurig, mal zweispurig.
Je weiter wir Richtung Kiew kamen, desto dünner wurde der Verkehr. Ab dem Ort Zhytomir sollten wir dem Roadbook folgen. Doch wir sprachen vor Ort die Soldaten an, die uns sagten, wir könnten auch dem Highway E40 folgen, also der kurzen und direkten Route. "Ihr seid die Ersten, die hier durchfahren. Die Straße war bis gestern umkämpft. Also seid vorsichtig und hört auf die Kollegen. Fasst nichts an, hier können noch Sprengfallen sein. Alles Gute!", erklärte uns der Soldaten am Anfang.
Wir ließen uns auf den kurzen und schnellen Weg ein, zogen aber zur Sicherheit die schusssicheren Westen und Helme an. Die ukrainischen Sicherheitskräfte kontrollierten unsere Ausweise an einigen Checkpoints und lotsten uns durch die Trümmer und an den gefährlichen Stellen vorbei, wünschten uns alles Gute und erklärten, welche Bereiche sicher seien und welche nicht.
Das, was in den kommenden Stunden folgte, erinnerte an das Hollywood-Set dystopischer Spielfilme. Auf der Strecke begegneten wir langen Konvois des ukrainischen Militärs, die schweres Gerät verlegten. Die Soldaten saßen oft auf Panzern oder fuhren mit zerschossenen, privaten Fahrzeugen. Teilweise konnte man sich kaum vorstellen, dass diese Wagen noch fahrbereit waren.
Es folgten zerstörte Brücken und Straßen, von Panzern überrollte Leitplanken, Minen und Leichen. An etlichen Stellen sahen wir die zerstörten zivilen Fahrzeuge. Komplett zerschossen wie ein Nudelsieb. Dahinter die Leichen von Menschen, welche Schutz suchten, aber ihn hier nicht fanden. Ganz klar Zivilisten.
Auf den von uns aufgenommenen Fotos fanden wir am Abend beim Sichten immer weitere Zeichen für die Gräueltaten der russischen Armee. Kriegsverbrechen als Wimmelbild. Teilweise war die gesamte Straße voller zerstörter Fahrzeuge und Teile von diesen, so dass wir durch das Trümmerfeld oder drum herumfahren mussten.
Sechzig Kilometer vor Kiew mussten wir warten, bis gefundene Munition gesprengt worden war. An einer Stelle lag das Rohr eines Panzers auf der Autobahn. Eine Kette etwa zwanzig Meter weiter. Den Rest des Panzers lag überschlagen daneben.
Im Film würde man an dieser Stelle herausgehen uns sich beschweren, dass es unrealistisch sei. Wie soll ein mehrere zehn Tonnen schwerer Panzer so hoch fliegen? Hier sieht man, dass es geht.
Weiter vor Kiew, neben dem Ort Butscha, trafen wir langsam auf die nächsten Journalisten, welche aus Kiew hierhergekommen waren. Ein bizarres Bild, wie Pressevertreter mit Selfiesticks vor zerstörten Fahrzeugen stehen, den besten Winkel für die Leiche und den Panzer suchen, und den Balanceakt zwischen Sicherheit und guten Fotos meistern.
Für Ausstehende mag das abgebrüht und emotionslos wirken, doch für diese Menschen ist es Alltag. Und ihre Aufgabe ist es, eine ganze Situation in einem Bild einzufangen. Sie sorgen dafür, dass Menschen zuhause verstehen, was hier passiert. Dazu gehört eben auch, eine Leiche anzudeuten, ohne die ekeligen Details zu zeigen. Man muss die Kriegsverbrechen hier in die Wohnzimmer in Deutschland bringen, ohne dabei pietätlos zu werden. Ich beneide diese Menschen nicht um ihre Jobs.