Ukraine: Kriegsverbrechen als Wimmelbild
Seite 6: Journalisten und ihre Hotels
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Wir checkten im gleichen Hotel wie die anderen großen Redaktionen ein. Gerade aufgrund der nächtlichen Ausgangssperren ergibt dies Sinn. So kann man die Nächte für Gespräche untereinander nutzen, statt allein im Zimmer zu liegen. In solchen Gebieten kommen meist zuerst die großen US-Sender an. CNN, Sky, Fox, dicht gefolgt von der britischen BBC. Die ARD ist noch nicht vor Ort.
"Aber Ihr habt ja Ronzheimer, der die Fahne für die Deutschen oben hält!", meint ein US-Kollege. Gemeint ist Paul Ronzheimer von der Bild, welcher immer als einer der Ersten kommt und als einer der Letzten geht.
Aber auch andere Produktionsgesellschaften, Agenturen und Freelancer treffen sich hier. Die großen US-Sender quartieren sich vornehmlich in großen Hotels mit guter Reputation ein. Notstrom, stabiles Internet und ein hohes Dach in zentraler Lage gehören zu den üblichen Anforderungen.
Ein Pool ist auch wichtig. Nicht zum Schwimmen, sondern als Wasserspeicher, falls die Wasserversorgung zusammenbricht. Man kann noch wochenlang das Wasser aus dem Pool abkochen und trinken. Die anderen Journalisten gehen dann in das Hotel, in dem bereits viele Kolleginnen und Kollegen sind. Redaktionen mit kleineren Budgets schlafen in den Hotels drumherum und kommen tagsüber herüber.
So ergibt sich oft ein irreführendes Bild von Journalisten, welche im Kriegsgebiet im Luxushotel in der Lobby sitzen und von dort aus arbeiten. Die Szene ist überschaubar groß und sehr freundlich.
Egal, wie sehr die Redaktionen im Konkurrenzkampf stehen, oder wie sehr ein Kollege vom heimischen Schreibtisch aus gegen einen anderen gewettert hat: Hier gehen alle freundlich miteinander um. Oft sieht man an den verschiedenen Krisenherden der Welt dieselben Gesichter.
Man tauscht Kontakte und Informationen aus, warnt sich vor gefährlichen Gegenden, weist auf die guten Cafés hin oder verbringt einfach die Abende miteinander. Grundsätzlich wird man mit offenen Armen empfangen.
So luden uns die Kollegen von CNN direkt ein, ihr Studio zu besuchen und mit den Stars und Urgesteinen der Berichterstattung zu sprechen. Ebenfalls interessant ist der Kontakt zu den Sicherheitsleuten, welche die Journalisten umringen.
Ganze Teams von Fahrern, Personenschützern und Lageanalysten teilen sich zu Büros umgebaute Zimmer im Hotel. Auf Reihen von Monitoren und Karten gehen die Informationen ein, wie in einem militärischen Lagezentrum.
Es werden verschlüsselte Funkgeräte, Satellitentelefone und Personen- und Fahrzeugtracker genutzt. Auch die Sicherheitsteams der verschiedenen Sender stehen in engem Kontakt. Kein Anzeichen von Konkurrenzkampf. Am Ende haben alle das gleiche Ziel: Ihre Schützlinge sicher nach Hause bringen.
Vor der Tür des Hotels reihen sich die gepanzerten Geländewagen auf. Mittendrin steht Fidelis Cloer, welcher seit dreißig Jahren auch Medienunternehmen mit diesen Fahrzeugen versorgt. Er ist meist zur gleichen Zeit in den gleichen Hotels.
Er spricht mit seinen bisherigen und potenziellen Kunden, inspiziert die gelieferten Fahrzeuge und macht sich selbst ein Bild der Lage. Da wir oft aus verschiedenen Gründen die gleichen Ziele haben, reisen wir häufig zusammen in diese Gegenden. Er wird umringt von Sicherheitskräften, welche händeringend Fahrzeuge suchen.
"Ich versuche seit Tagen, dich zu erreichen. Gut, dass du jetzt hier bist!", sagt ein tätowierter, großer, breiter, bärtiger Mann und schiebt sich zu ihm durch. "Niemand hat uns vorhergesagt, dass der Krieg jetzt losgeht. Ich tue, was ich kann", erwidert Fidelis Cloer lachend, bevor sie sich über die Anforderungen des Unternehmens und die potenziellen Lieferungen unterhalten.
Vom Dach des Hotels aus kann man die ganze Stadt überblicken. "Aber geht da nicht einfach hoch, das macht die Ukrainer nervös", warnt uns ein Kollege. Man kann vom Dach aus auch auf umliegende Regierungsgebäude schauen oder ausspähen, von wo aus welche Flugabwehr abgefeuert wird. Wichtige Informationen für russische Spione.
Gerade in so einem harten und brutalen Krieg wie diesem ist der Spagat zwischen dem Schutz von Informationen und dem Verbieten selbiger sehr kompliziert. Unter Journalisten geht es oft darum, als Erster die am beste recherchierte Story über eine bisher unbekannte Sache zu bringen. Wie ein Wettrennen beim Sport. Der auf dem zweiten Platz ist der erste Verlierer. Auf der anderen Seite gibt es Informationen, welche aus guten Gründen nicht in die Öffentlichkeit gehören.
Werden etwa Journalisten getötet, so veröffentlicht man deren Identitäten erst, wenn die Familie informiert wurde. Als vor einigen Wochen zwei Journalisten angegriffen und einer von ihnen getötet wurde, wusste sein Kollege das noch nicht, und gab Interviews aus der Notaufnahme.
Prompt konnten es einige Kollegen abseits des Geschehens nicht lassen und schrieben ihm öffentlich auf Social-Media-Plattformen, dass sein Kollege bereits tot sei. Sie wollten einfach "Erster" rufen zu können, ohne Rücksicht auf das zweite Opfer oder auf die Familie zu nehmen.
Die ukrainische Armee bat darum, nicht in Echtzeit über Truppenbewegungen und Ähnliches zu berichten. Das heißt, dass man keine Militärkonvois fotografiert, um sie auf Twitter zu packen und nicht live den Beschuss einer Stadt überträgt, weil man dann aus den Fernsehbildern die Positionen der Flugabwehr erkennen kann.
Vor Ort wissen die Leute sowieso, wo welche Flugabwehr steht, wo eine temporäre Kaserne aufgebaut wurde oder warum welche Cruise-Missile welches Gebäude traf. Aber man spricht öffentlich nicht darüber.
Nach dem Krieg vermischen sich dann diese Informationen von vor Ort mit Gerüchten und Tratsch. Das Ergebnis nennt man den "Fog of war", den Nebel des Krieges, in dem Informationen verschwimmen und einige Dinge einfach nie genau ans Licht kommen.