"Unseren Medien geht der Atem aus"

Seite 2: Wer hat Interesse an der Nichtverständigung?

Das ist ja dann doch ein erschreckender Mechanismus, wenn man die ganzen Nachkriegsdialoge, Jugendaustausch mit Frankreich, England, Russland über Bord wirft. Das wird ausgerechnet jetzt in so einer Krisensituation in Frage gestellt, obwohl ich es immer so verstanden hatte, dass die Begegnungen genau einer solchen Situation vorbeugen sollten, dass man eben als Bevölkerung im Gespräch bleibt und sich nicht gegeneinander aufhetzen lässt.
Also konkret meine vielleicht ketzerische Frage: Wer hat Interesse an der Nichtverständigung? Wer profitiert von der Polarisierung, von der Dichotomie, die Sie nannten? Wie gelingt die Selbstidealisierung, wo ja eigene Kriege plötzlich weniger ins Gewicht zu fallen scheinen als der russische Angriffskrieg. Muss hier nicht schon ganz viel strategische Kommunikation angewandt werden, um solche Grundfesten unserer immer noch jungen Demokratie wieder auszuhebeln? Welche PR-Aktivitäten sind das konkret – etwa von der sogenannten East StratCom Task Force, einer Kommunikationsstabsstelle von EU und Nato?

Jörg Becker: Frau Schiffer, ich bin Ihnen wahnsinnig dankbar für genau dieses Beispiel und genau diese Frage. Ich erkläre kurz, warum. Zunächst einmal sehen wir auch an diesem Beispiel wieder, dass staatliche Institutionen bei uns Medienpolitik betreiben und dafür Geld ausgeben. Das widerspricht zumindest in Deutschland unseren Rechtsverständnis und unserem Artikel 5 im Grundgesetz, der genau dieses nicht zulässt. Das ist mein erster Gedanke.

Mein zweiter Gedanke: Mindestens seit der Neuausrichtung der Deutschen Welle im Nachgang zum Ukraine-Konflikt 2014 werden Sendungen produziert auch in russischer Sprache. Dabei ist rechtlich, wir hatten diese Diskussion in den 1960er und 1970er Jahren, zu unterscheiden – jetzt wirds sehr feinfühlig –, ob die Sprecher Exilanten sind oder Zweitsprachler.

Das eine war bei Radio Liberty und Radio Free Europe in München dauernd zu beobachten: Es wurden mit Vorliebe Exilanten eingesetzt in diesem Sender der CIA. Und Rechtsexperten sagten mir damals, wenn Du Exilanten einsetzt, wäre das rechtlich nicht zulässig. Ich wiederhole nur die Ergebnisse von Juristen, die eine andere Denke haben als ich. Der dritte Aspekt, über den wir nachdenken müssen, ist diese Form der Kooperation zwischen der EU und der NATO, die gegenwärtig ja soweit geht, dass wir gemeinsame Konferenzen finden, dass gemeinsame Waffengeschäfte getätigt werden, ist nach meiner Kenntnis der Lissabon-Akte nicht abgedeckt.

Nochmals, ich bin kein Jurist, man müsste das mal juristisch überprüfen. Wir kommen auf eine weitere Leerstelle der Medien: Warum wird das nicht thematisiert? Warum schreiben Juristen darüber nicht, was die Lissabon-Akte zulässt in Bezug auf die gegenwärtigen Waffenlieferungen der EU? Und warum wird nicht kritisch über die Briefings der East StratCom Task Force nachgedacht? Als das, was sie sind: PR.

Im Übrigen, gerade die Deutsche Welle macht natürlich verstärkt Programmangebot in Ukrainisch und in Russisch. Und ich hatte den Hinweis gebracht, das ist kein öffentlich-rechtlicher Rundfunk. Noch mal ein kleiner historischer Rückblick: Als der freie öffentliche Rundfunk in Deutschland nach 1945 aufgebaut wurde mit dem großen BBC-Vorbild in Norddeutschland, in Hamburg, unter Hugh Greene – ein hervorragender Reporter, ein hervorragender Vertreter des Freiheitsverständnisses von öffentlich-rechtlichem Rundfunk.

Hugh Greene hat bereits nach zwei Jahren Tätigkeit in Hamburg sein Handtuch geworfen und hat es aufgegeben, mit der Begründung: "Ich komme gegen die Staatsmanipulationen bei der Rundfunkgründung, die ich vorhabe, nicht voran; die fummeln mir dauernd dazwischen." So müssen wir immer wieder auch historisch gucken.

Wir brauchen endlich staatsfreie, unabhängige eigene Radiogesellschaften, wo sehr viel mehr an Kontroversen stattfindet und nicht irgendein Regierungsmitglied bei Anne Will abends irgendeine Entscheidung bekannt gibt, die es eigentlich im Bundestag bekanntzugeben hätte oder auf einer Pressekonferenz. Die ARD darf nicht länger als Sprachrohr einer Regierung in Berlin missbraucht werden! Das ist unerhört.

Nun, eigentlich hat das Körperschaftrecht ja Unabhängigkeit in der DNA. Die öffentlich-rechtlichen Medien bieten ja einen Rechtsanspruch auf Unabhängigkeit von staatlichem und auch anderem Einfluss, also idealtypisch, weil wir sie ja finanzieren. Und die jetzt diskutierten Möglichkeiten von Stiftungsgetragenem Mäzenatentum als Träger für einen gemeinnützigen Journalismus, ich bin unsicher, ob das ein Modell sein kann, um unabhängigen Journalismus nachhaltig zu finanzieren. Was würden Sie denn empfehlen?

Jörg Becker: Ich bin sehr mit einverstanden damit. Lassen Sie uns mal zum Ende unseres Gesprächs einen vielleicht einfachen und ganz simplen Gedanken von mir erörtern. Wer immer mit seinem Finger auf den bösen Feind zeigt und sagt: "Der macht aber Medienzensur!" Wer immer das tut, hat das Recht dazu nur dann, wenn er zunächst einmal seine eigene Medienlandschaft kritisch betrachtet.

Kritik fängt zuhause an und erst dann hat sie das Recht einen Schritt nach draußen ins Ausland zu tun. Das ist eine ganz simple und einfache Regel, die ich versuchen nach wie vor zu praktizieren. Ich bin alles andere als ein Verehrer der Medienpolitik in Russland, aber darum geht es hier auch nicht.

Mit diesem Schlusswort "Kritik beginnt bei der Selbstkritik" bedanke ich mich ganz herzlich bei Ihnen, Herr Prof. Becker, für das reichhaltige Gespräch!