Utopien aufsammeln und dafür Theoriefähigkeit und Phantasie entwickeln
- Utopien aufsammeln und dafür Theoriefähigkeit und Phantasie entwickeln
- Betonrealität und Ohnmachtsgefühle im Politikzusammenhang
- Die Öffentlichkeit (ver)schwindet, aber die Geschichte läuft zwangsläufig immer anders ...
- Marx neu und anders lesen und ihn praktisch aufsprengen
- Bilderlosigkeit und Urteilsvermögen: Optionen für die Zukunft?
- Auf einer Seite lesen
Zum achtzigsten Geburtstag von Oskar Negt
Brüche, Zusammenbrüche und moralische Wüsten
Oskar Negt, Sie gelten als einer der intellektuellen Protagonisten der 68er Protestbewegung. In einer Diskussionsrunde mit linken Intellektuellen haben Sie Anfang der 80er Jahre den Mai ‘68 als "den spektakulären Anfang einer ganz neuen Epoche bezeichnet". Auch wenn sich heute sicher eine gewisse natürlich-kritische Distanz zu diesen Ereignissen eingestellt haben dürfte, möchte ich Sie zu Beginn unseres Gesprächs zunächst fragen, ob Sie zu diesem Urteil auch heute noch, post anno ‘89, stehen?
Oskar Negt: Die Rede von Epochenschwellen zum Zeitpunkt, da die Ereignisse noch im Flusse sind, ist immer riskant. Auf Ihre Frage aber, ob sich hier ein neues Zeitgefühl, ein neues Bewußtsein auch der Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft, Bedürfnissen und Institutionen herausgebildet hat, kann ich - über zwanzig Jahre später und unter Berücksichtigung neuer Umbrüche - mit einem eindeutigen Ja antworten.
Eine neue Zeit ist angebrochen, in der viele der Kategorien, die sich aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts gebildet hatten, neu definiert werden. Auch wenn dieses Jahrhundert sicherlich eines der blutigsten der Geschichte ist - so viele Tote in einem so kurzen Zeitraum hat es nie gegeben -, so ist es doch auch eines der produktivsten gewesen, vor allem was die Veränderungen von Staatssystemen, von Nationalbewusstsein, von kultureller Integrität und Integration anging, schließlich in künstlerischer und theoretischer Produktivität.
Dieses ganze Jahrhundert zehrte in hohem Maß von diesen Brüchen, Zusammenbrüchen und Neuaufbauphasen. Trotz gewaltiger, auch kultureller Zerstörungen auf der einen Seite und gleichzeitigen Aufbrüchen und Neuentwürfen in der Kunst, der Literatur und der Philosophie auf der anderen Seite sind alle diese Dinge vorher nicht wirklich in die Subjekte eingedrungen. Erst als die verselbständigte Objektivität der Welt für einen Augenblick zurückgenommen und neu bearbeitet werden konnte, bildete sich eine neue Dialektik von Subjekt und Objekt.
Für mich bedeutet diese Protestbewegung: dass Subjektivität und die Rechte des Besonderen eingeklagt werden können; dass wir Politik nur machen können, wenn wir beteiligt werden; und dass Organisationen die Bedürfnisse der Individuen zu berücksichtigen haben - der Gedanke der Partizipation, der Mit- und Selbstbestimmung und der Erziehung in diesem Sinn. In vielen Bereichen dokumentiert sich das heute: im Erziehungswesen, in der Frage der Beziehung zur Sexualität, in der Frage der Aufarbeitung der Vergangenheit usw.
Im westdeutschen Nachkriegssystem ist die Vergangenheit nach 1945 nicht aufgearbeitet, geschweige denn durchgearbeitet worden, wie Freud Aufarbeitung verstand, nämlich Spuren, Materialien und Erinnerungen aufsuchen und sie durcharbeiten. Erst zwanzig Jahre später beginnt, verknüpft mit einem Generationenkonflikt, so etwas wie eine Aufarbeitung der Vergangenheit. Erst die Nachkriegsgeneration, die die Schwere des Krieges in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht mehr miterlebt hat, verfügt subjektiv über einen größeren Spielraum in der Bewegung ihrer Phantasie und ihres Oppositionsgeistes.
Vieles davon kehrt 1989 in den Bewegungen gegen die autoritären sozialistischen Systeme wieder, in Gestalt des Einklagens subjektiver Bedürfnisse als bestimmende Form der politischen Tätigkeit. Bürgerinitiativen, Einklagen von Menschenrechten, Menschenketten, Massenansammlung von Menschen auf großen Plätzen, die Wiederinbesitznahme dieser Plätze durch Menschen, die nicht mehr mitmachen wollen - alles das sind Politikformen des Massenprotests, die vorgeprägt wurden im Mai ‘68 in Frankreich, ‘68, ‘69 in Deutschland und vorher in den Vereinigten Staaten. Die Berkeley-Bewegung mit ihren Sit-ins und Go-ins hat prägend auf die rebellierenden Politikformen einer ganzen Epoche gewirkt, die noch nicht abgeschlossen ist.
Wenn Sie sagen, "diese Protestformen kehren anno ‘89 wieder", dann stimmt das m. E. nur zum Teil. Der gewitzte J. Baudrillard hat den Westen bereits kurz nach dem Stattfinden der Bürgerrevolutionen vor einer Virusinfektion durch den Osten gewarnt und zugleich damit die Warnung verbunden, die plötzlich entbundene Freiheit und Freizügigkeit im auseinandergefallenen Osten könnte in die "Blutbahnen des Westens eindringen und ihn seinerseits destabilisieren". A. Glucksmann befürchtet inzwischen gar die Wiederholung dieses ganzen Jahrhunderts.
Und wenn ich gleich anschließen darf. Ich bin gar nicht so überzeugt, ob der Sozialismus, wie Sie in den "Maßverhältnissen" schreiben, auf dem Feld des Politischen eine Leerfläche hinterlassen hat. Wie die Bürgerkriegsszenarien der letzten Woche in Rostock gezeigt haben, ist dieser "organlose Körper" überhaupt nicht leer, sondern mit den vielfältigsten, auch niedersten Bedürfnissen und Wünschen angefüllt. Die eigentliche Katastrophe des Sozialismus besteht meiner Einschätzung nach weniger in der ökonomisch- ökologischen Verwüstung der Landschaft als in der Hinterlassenschaft einer moralisch- ethischen Wüste. Im Vergleich mit dem, was an Spießertum und kleinbürgerlichem Muff und Mief hervorgekehrt worden ist, stellt der kurzfristige Protest, das kurzzeitige Aufbrechen des "Kontinuums der Geschichte" doch ein Epiphänomen dar.
Oskar Negt: Überall dort, wo Geschichte oder geschichtlich gestellte Probleme nicht ausgetragen werden oder keine Zeit haben sich auszutragen, machen sich die unbewältigten Probleme in Gestalt einer "Wiederkehr des Verdrängten" geltend. Und zwar umso verdrehter, je weniger Ausdrucksformen vorhanden waren, Probleme öffentlich zu machen und sie durchzuarbeiten. Das trifft besonders die Verfasstheit der sozialistischen und kommunistischen Länder im Ostblock. Keines der Probleme, die Marx in seiner Religionskritik angedeutet hatte, ist dort tatsächlich gelöst worden. Marx sagt darin: Religion kann man nicht abschaffen. Sie kann nur abschaffen, genau wie der Staat als Klasseninstitution.
Solange es das konkrete Elend gibt, solange es die Selbstzerrissenheit des Daseins gibt, entsteht eine kompensatorische Deutung der Welt, ein Beruhigungsmittel der Menschen. Religion hat etwas mit der Struktur der Gesellschaft zu tun. Deshalb muss man an die Veränderung dieses entwürdigten und vereinsamten Daseins gehen und nicht, wie im Ostblock, Geld in die atheistische Propaganda stecken, den Bau von Kirchen verbieten oder andere Institutionen einfach abschaffen wollen. Nach Marx zerstört der Sozialismus die entfalteten Formen des bürgerlichen Lebens nicht, sondern entwickelt sie weiter. Für Marx ist klar: Die bürgerliche Gesellschaft lebt von Öffentlichkeit und Kritik, sie ist ein Rechtsstaat und kennt keine Zensur.
Alle diese Mechanismen werden in diesen nachgeholten Industrialisierungssystemen, die sich auf der Grundlage einer zunächst proletarisch-bäuerlichen Revolution gründen, als bürgerlich denunziert und dienen dazu, die eigene Identität durch Ausgrenzung aufzubauen. Die Ausgrenzung der westlichen Denkweise wird zum Argument für die Integrität dieses Sozialismus. Dadurch entsteht in diesen Systemen ein wachsender Erfahrungsverlust im weltgeschichtlichen Kontext. Nicht nur, was den Austausch der Intellektuellen untereinander angeht, auch die Erfahrungsfähigkeit der Bevölkerung, wie die Welt sich weiter entwickelt hat, wird auf lange Zeit blockiert. Die Lebensstandardfrage dringt immer stärker durch die Medien in diese Systeme. Dass der Kapitalismus einen höheren Lebensstandard hat; dass die Propaganda, der Kapitalismus führe zu Verarmung und Elend nicht zutrifft, nimmt allmählich auch Besitz von den Köpfen dieser Menschen.
Sie haben mit Recht gesagt: Die Ökonomie und ihr Darniederliegen ist nicht das Hauptproblem. Die Frage, ob die deutsche Einheit finanzierbar ist, ist eindeutig zu verneinen. Sie ist auf der Ebene der Ökonomie nicht bezahlbar. Sie ist nur bezahlbar, wenn Prozesse in Gang kommen, die ganz anders ansetzen, beispielsweise bei der Bildung der Leute, bei der Beratung, und bei Formen, in denen sie sich selbstbewusst ausdrücken können, in denen sie lernen mit Rechtsproblemen umzugehen und in denen viele Dinge, die selbst in brüchigen Formen der bürgerlichen Gesellschaft selbstverständlich geworden sind, zu ihren inneren Bestandteilen werden.
Diese gesellschaftlichen Lern- und Bildungsprozesse sind zentral für die Reorganisation dieser Gesellschaft. Dagegen ist die Ökonomie buchstäblich ein abgeleitetes Problem. Oder umgekehrt: Man kann Millionen und Milliarden an Unterstützungsgeldern in den Wiederaufbau dieser Länder hineinpumpen. Einen nennenswerten Erfolg werden sie aber nur dann erreichen, wenn sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Veränderung der Subjekte ergeben, und diese Veränderungen zentral mit dem In-Gang-setzen von Prozessen zur Bewältigung der eigenen Vergangenheit verknüpft werden.
Möglicherweise sind Geldmittel, um Gremien und Organisationen zu schaffen, den Menschen bewusst zu machen, woher sie kommen, was sie gemacht haben, wie sie innerlich beteiligt gewesen sind an den Prozessen, wovon sie gelebt haben, was diese Daseinsfürsorge, die jetzt weggefallen ist, für sie bedeutet hat - möglicherweise sind Investitionen in solche politischen Bildungsprozesse langfristig viel kostensparender als der Aufbau eines Unternehmens, das im EG-Zusammenhang schnell wieder zugrunde geht. Diese Subjektseite, die sich jetzt zeigt, hat sicher damit etwas zu tun, dass die öffentlichen Ausdrucksformen, auf die Alexander Kluge und ich immer wieder beharren, fast vollständig gefehlt haben. Gefühle und Bedürfnisse konnten sich nicht wirklich realitätsgerecht entwickeln.
Es gab nur einen Bedürfnis- und Gefühlsstau, der überschüssig war und nicht realitätsangemessen ist. Realitätsunangemessene Gefühlsstaus führen zu Ersatzhandlungen. Der Glaube, man könne durch "ethnische Säuberung", siehe Serbien oder Georgien, die eigenen und vor allem sozialen und kulturellen Probleme lösen, ist eine solche Täuschung. Sie führt in der Tat - darin mag A. Glucksmann recht haben - zurück , aber nicht ins 19. Jahrhundert, sondern weit vor das 19. Jahrhundert. Denn die Nationalstaatsfrage im 19. Jahrhundert hat sich bekanntlich nicht an der Stammesgeschichte organisiert. Ganz im Gegenteil: Gerade der Territorialstaat versuchte, die Stammesunterschiede und die Religionskonflikte zu neutralisieren. Vermutlich geht es viel weiter in eine archaische Geschichte zurück, die vorstaatlich ist.
Ich sehe in der Tat in diesen Unterdrückungssystemen mit geringen Öffentlichkeitsformen Triebkräfte am Werk, die bedrohlich sind. Möglicherweise kann dieses Aufbrechen archaischer Triebenergien angstverdrehte Gefühle und unbefriedigte soziale Situationen in den westlichen Ländern, die es zweifellos gibt, zusätzlich anregen und weitertreiben.
Sie halten also eine Destabilisierung des Westens im größerem Ausmaß durchaus im Bereich des Möglichen? Die Festigtheit vieler Verhältnisse und Beziehungen, die wir jahrzehntelang erlebt und lieben gelernt haben, ist mithin bloß eine Fiktion?
Oskar Negt: Wissen Sie, die Destabilisierungsthese ist in dem Maße realistisch und zutreffend, wie sich die Herrschaftsformen, auch die bürokratischen, von den Ausdrucksformen der Subjekte getrennt halten wollen...
Auch des Systems?
Oskar Negt: Ja! Solange dieser Dualismus unser Denken und Handeln bestimmt. Im Augenblick existiert noch der Dualismus. Die Aushöhlung und Auszehrung dessen, was offizielle Politik ist, hat inzwischen einen Grad erreicht, der zu einem organisierten Widerstand gegen die Mobilisierung auch der niedersten Instinkte des Menschen, wie 1933, kaum fähig und dem am Ende auch nicht gewachsen wäre.
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