Vergebung für einen Terroristen

Seite 2: Blutiges Erinnern

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Sheila Whitaker war mit dem Ziel angetreten, das eher elitäre Festival für ein breiteres Publikum zu öffnen und es politischer zu machen. A Prayer for the Dying schien ihr als Eröffnungsfilm bestens geeignet, weil er ein spannender Thriller mit einem amerikanischen und zwei britischen Stars war und weil man den Film als Einladung zu einer dringend erforderlichen Diskussion über den Nordirlandkonflikt begreifen konnte, die von signifikanten Teilen der britischen und auch der irischen Gesellschaft verweigert wurde. Damit setzte sie sich doppelt in die Nesseln.

Zuerst musste sie sich gegen den Vorwurf wehren, die Erfüllungsgehilfin selbstherrlicher Produzenten zu sein. Dann flog ihr das Ganze vollends um die Ohren, womit wir von der Kunst zur Politik kommen. Die Information, dass Mickey Rourke einen Provo spielte, reichte aus, um die Gemüter in Wallung zu bringen. Ein Teil des Ärgers war der Terminierung geschuldet. Der Beginn des Festivals fiel in die Remembrance Week, die Woche der Erinnerung. Am zweiten Sonntag im November gedenkt man in Großbritannien der Gefallenen der beiden Weltkriege und späterer Konflikte, am 11. November des Waffenstillstandsabkommens zwischen den Alliierten und dem deutschen Kaiserreich.

1987 war der Armistice Day ein Mittwoch und der Tag mit der Eröffnungsgala des London Film Festival. Der Erste Weltkrieg, dessen Ende man da alljährlich feierte, hatte zwar auch mit der Geschichte der IRA zu tun (siehe Teil 1, Osteraufstand 1916), doch um solche Feinheiten ging es längst nicht mehr. Whitaker wurde der Taktlosigkeit und der Verhöhnung der Opfer geziehen, weil sie an diesem Tag einen Thriller zeigen wollte, der gerüchteweise den Terror verherrlichte, oder vielleicht auch nicht, denn so genau ließ sich das ohne Kenntnis des Films nicht sagen, aber das war jetzt auch schon egal.

Dann beging die IRA im nordirischen Örtchen Enniskillen einen Anschlag, der als einer ihrer schlimmsten gilt. Wie in diesem Konflikt üblich hat man diverse Gewalttaten zur Auswahl, wenn man auch die Vorgeschichte erzählen will. Man kann zum Beispiel im April 1987 beginnen, als die Ulster Volunteer Force in Belfast Laurence Marley erschoss. Marley hatte wegen seiner IRA-Aktivitäten mehrere Gefängnisstrafen verbüßt und sich der Organisation nach seiner Haftentlassung wieder angeschlossen, wie die UVF behauptete. Darum wurde er getötet.

Die IRA tötete im Gegenzug den UVF-Mann William Marchant, der ihrer Überzeugung nach an Marleys Erschießung beteiligt gewesen war. Zwischen diesen beiden Morden zerfetzte in der nordirischen Grafschaft Armagh eine Bombe Lord Maurice und Lady Cecily Gibson, die aus dem Urlaub nach Hause fuhren. Lord Justice Gibson war in den Augen der IRA einer jener Richter, die das Rechtssystem pervertierten, um die britische Kolonialherrschaft in Nordirland zu zementieren (unter anderem hatte er drei Polizisten freigesprochen, die angeklagt waren, einen IRA-Mann ermordet zu haben).

Eine Abteilung des Special Air Service wollte wohl ein Exempel statuieren, als sie bei einer Abhöraktion erfuhr, dass die IRA einen Anschlag auf das Polizeirevier in Dorf Loughgall in Armagh plante. Der SAS legte einen Hinterhalt und richtete ein Blutbad an wie in einem Peckinpah-Film. Als acht IRA-Männer mit einer Bombe anrückten eröffnete der SAS das Feuer. Die Bombe explodierte. Danach schossen die SAS-Leute immer weiter auf die Terroristen, bis keiner mehr am Leben war. Getötet wurde auch ein Zivilist, der sich zufällig in der Nähe aufgehalten hatte.

In diesem Teufelskreis aus Gewalt und Gegengewalt wusste schon lange keiner mehr, wer irgendwann angefangen hatte und warum. Aufhören wollte aber keiner. Im Juni ermordete die IRA den 20-jährigen Joe McIlwaine, einen Angehörigen des Ulster Defence Regiment (UDR), das aufgestellt worden war, um das Leben und den Besitz der Nordiren gegen bewaffnete Angriffe und Terrorakte zu schützen. Im August wurde in Belfast der katholische Familienvater Michael Power getötet, als er auf dem Weg zum Gottesdienst war. Das war die Rache der Unionisten.

Die Antwort der IRA folgte am 8. November, am Remembrance Sunday. In Enniskillen organisierte die UDR eine Parade, die zum örtlichen Kriegerdenkmal führen sollte. Dort versteckten Provos einen Sprengsatz. Die Bombe ging zur falschen Zeit hoch und brachte eine Hauswand zum Einsturz. Die Wand begrub die Menschen unter sich, die vor ihr standen, um die Gedenkveranstaltung zu sehen. Anstelle von Soldaten, wie geplant, starben zehn Zivilisten und ein Polizist.

Die IRA, die danach einräumte, einen Fehler gemacht zu haben, kostete die Bluttat von Enniskillen viel Rückhalt in der Bevölkerung. Auch Katholiken hatten zunehmend genug von einer Logik, der zufolge der Anschlag ein Erfolg gewesen wäre, wenn die "richtigen" Opfer gestorben wären, und eine 40 Pfund schwere Bombe, die zwischen Soldaten und Zivilisten unterscheidet, gibt es ohnehin nicht. Gerry Adams, der Chef der Sinn Féin, entschuldigte sich 1997 im Namen der republikanischen Bewegung für das Blutbad. Das war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Karfreitagsabkommen von 1998.

A Prayer for the Dying

Drei Tage nach der Explosion sollte das London Film Festival mit der britischen Uraufführung von A Prayer for the Dying eröffnet werden. Hodges’ Film beginnt damit, dass ein von Mickey Rourke und Liam Neeson geführtes Kommando der Provos britische Soldaten in die Luft sprengen will und stattdessen Schulkinder tötet. Das war wie in Enniskillen, nur dass dort überwiegend Rentner starben. Das Festival wurde nun mit Nikita Michalkows Schwarze Augen eröffnet, einer Verfilmung mehrerer Geschichten von Anton Tschechow.

Der Anschlag von Enniskillen ist das verbindende Element in den Biographien von Jeremy Corbyn, Sheila Whitaker und Mike Hodges. Corbyn wurde damals (und 2017 wieder) dafür geschmäht, dass er trotz solcher Gewalttaten bereit war, mit irischen Nationalisten wie Gerry Adams zu sprechen und sich für unschuldig Verurteilte einsetzte. Whitakers Vorhaben, das Festival mit Prayer zu eröffnen, wurde zum unverzichtbaren Bestandteil der Nachrufe, die später auf sie geschrieben wurden. Hodges war nun der Regisseur eines Skandalfilms, dem heute noch der Ruf anhaftet, die Gewalt der IRA irgendwie gutzuheißen - wenn nicht in der Kinoversion, dann eben im Director’s Cut.

Zu viel katholische Kirche für ein protestantisches Amerika

Prayer bot nicht nur den von Whitaker gewünschten Gesprächsstoff, der Film war zu nahe an der Wirklichkeit. Bevor er Priester wurde war der von Jack Higgins, dem zur Melodramatik neigenden Autor der Romanvorlage, erdachte Michael da Costa beim SAS, jener durch das Gemetzel von Loughgall wieder einmal ins Gerede gekommenen Spezialeinheit, die wegen ihrer Brutalität gefürchtet war. Hodges war das zu dick aufgetragen. Der Director’s Cut belässt es bei Andeutungen zum militärischen Hintergrund da Costas. In der Kinoversion ist wieder eingefügt, was bei Hodges im Schneideraum geblieben war.

Die Vergangenheit des Priesters wird dadurch martialischer als für die Geschichte nötig. Das ist einer der untauglichen Versuche, auf dem Umweg über die Figuren aus dem Drama einen Actionfilm zu machen, mit Gangstern, Terroristen und einem ehemaligen SAS-Mann, der im Koreakrieg war und fünf Jahre in einem chinesischen Foltergefängnis verbracht hat. In der Kinoversion wirkt das aufgesetzt und spekulativ. Problematisch ist auch, dass die Hauptfigur der Gewalt abschwört und dann im Auftrag von Jack Meehan dessen Konkurrenten erschießt.

Drehbuch wie Romanvorlage verwenden einige Zeit darauf, das zu motivieren. Fallon will eigentlich nur abhauen, nach Übersee, braucht dafür aber falsche Papiere. Die soll ihm der Waffenhändler Kristou liefern. Meehan sorgt dafür, dass es Pass, Geld und eine Schiffspassage nur im Austausch für den Mord gibt. Als Fallon darauf nicht eingeht zwingt Meehan Kristou, den flüchtigen Provo an die Polizei zu verraten. Eine Antiterroreinheit macht nun Jagd auf Fallon.

A Prayer for the Dying

Derart in die Enge getrieben nimmt Fallon den Auftrag doch noch an. Getarnt als Priester schießt er Krasko in den Kopf. Rotes Blut spritzt auf eine weiße Marienstatue. Das ist eines von vielen religiösen Bildern, die den Film durchziehen. In der Kinoversion ist die christliche Ikonographie noch da, allerdings in reduziertem Umfang. Wenn man aus einer Kette von Bildern einzelne Glieder entfernt ändert man Bedeutung und Zusammenhang. Die Kinofassung ist mehr an Schauwerten interessiert als am Kontext, aus dem sich der tiefere Sinn ergibt.

Ich würde sagen, dass es für Goldwyns Geschmack zu viel Religion gab in A Prayer for the Dying. Fallon, Meehan, Pater da Costa - alles Katholiken in einem Film, den er in den protestantisch geprägten USA verkaufen wollte. Also wurde das Religiöse reduziert, auch auf der Tonspur. Im Director’s Cut hört man mehrfach Kirchenglocken, was nicht verwunderlich ist, weil viele Szenen in einer Kirche spielen. In der Kinoversion ist das Läuten leiser geworden, oder man hört es gar nicht mehr. Dafür hört man die Musik von Bill Conti. Das ändert die Atmosphäre. Man sieht die Kirche, doch akustisch ist sie nun weniger präsent.

Tote Kinder und Hitchcocks Eltern

Die Produzentenversion kommt flott zur Sache. Pater da Costa geht durch den Friedhof. Er trägt seinen Priesterornat, hat ein Gebetbuch in der einen und einen Schirm in der anderen Hand, wird Zeuge des Mordes. Es hat aufgehört zu regnen. Krasko kniet am Grab seiner Mutter. Fallon tritt hinter ihn, peng (kleines peng, mit Schalldämpfer), Blut spritzt, Auftrag ausgeführt. Fallon ist als Priester verkleidet, weil er darauf spekuliert, dass sich mögliche Beobachter nur an einen Mann in einer Soutane erinnern werden. Da Costa nimmt die Tat anders wahr, weil er selbst Priester ist, konzentriert sich auf das Gesicht des Täters.

A Prayer for the Dying

Fallon legt auf da Costa an, will aber keinen Priester töten, hebt die Patronenhülse auf und verlässt den Tatort. Da Costa bleibt mit dem sterbenden Krasko zurück. Nur: Warum ging er überhaupt durch diesen Friedhof? Weil Pfarrer das nun mal so machen? So einfach ist es nicht. In der Kinoversion ist der Pfarrer da nur unterwegs, weil durch den Zeugen zwei dramatische Konflikte eröffnet werden. Einer von Meehans Männern beobachtet den Mord und die Komplikationen. Meehan verlangt von Fallon, auch da Costa umzubringen. Fallon weigert sich. Da Costa verweigert der Polizei gegenüber die Aussage, nachdem Fallon den Mord gebeichtet hat (vgl. Hitchcocks I Confess). So kann die Geschichte weitergehen.

A Prayer for the Dying

Im Director’s Cut hat der Mord ein Vorspiel. Wir sehen eine Beerdigung. Der Friedhof ist genau charakterisiert, als Teil der Großstadt London, und nicht, wie in der Kinoversion, auf Grabsteine und Statuen reduziert. Wer schon mal auf der Central Line zwischen den U-Bahn-Stationen Leyton und Leytonstone unterwegs war - vielleicht, um zu sehen, wo Alfred Hitchcock geboren wurde und aufwuchs - ist an dem riesigen Friedhof vorbeigefahren. Gedreht wurde im katholischen St. Patrick’s Cemetery. Hitchcocks Eltern sind hier begraben und Mary Jane Kelly, das fünfte Opfer von Jack the Ripper, was auf die Phantasie des jungen Alfred sehr anregend wirkte (und sich in Filmen wie The Lodger niederschlug).

Hodges hat sich für einen Platz am Rand des Friedhofs entschieden, damit in ein paar Metern Entfernung die U-Bahn vorbeirattern kann, mit der die Stimme des Priesters konkurrieren muss. Im Director’s Cut gibt es ein Nebeneinander von Diesseits und Jenseits, uralten religiösen Konzepten und moderner Alltagswirklichkeit. Mit dem Zug wird wieder aufgenommen, was im Prolog (siehe Teil 1) begonnen hat, mit dem Traktor des falschen Bauern (im Friedhof wird gleich ein falscher Pfarrer auftreten), mit dem in die Luft gesprengten Schulbus und dem Fluchtauto der Provos.

Fahrzeuge sind wichtig in einem Film, der von der letzten - auch spirituellen - Reise eines Sterbenden erzählt. Wer die U-Bahn entfernt und die Geräusche der diversen Vehikel durch Musik verdrängt beschädigt eine sorgfältig geknüpfte Kette von Assoziationen. Auch die Beerdigung ist wichtig. Nach den Szenen mit Kristou und Meehan und einer Fallon geltenden Polizeirazzia ist irgendwie nachvollziehbar, warum der Provo Krasko in den Kopf schießt, obwohl er nicht mehr töten wollte. Wirklich überzeugend ist es nicht. Hodges geht das Problem offensiv an, statt so zu tun, als wäre es nicht da.

A Prayer for the Dying

Begraben wird ein totes Mädchen in einem Kindersarg. Das erinnert an die nordirischen Schulmädchen, die Fallon bei der vermurksten IRA-Operation in die Luft gesprengt hat, weshalb er nie mehr töten wollte. Jetzt wird er gleich wieder morden und einen weiteren Kreislauf der Gewalt in Gang setzen, an deren Ende es mehrere Tote geben wird, ihn selbst inklusive. Bei Hodges ist das voll bitterer Ironie. Seine Version ist durchdachter und außerdem atmosphärischer, weil er sich Zeit lässt, eine Stimmung zu etablieren und weil die Welt ihren Klang behält, statt in Contis gefällige Kompositionen getaucht zu werden.

Da Costa spitzt Weihwasser auf den Kindersarg, verschluckt vom prasselnden Regen. Nach der Beerdigung, wenn der Regen nachlässt, hören wir die Tropfen, die von einer steinernen Pietà in eine Pfütze fallen. Der Himmel klart auf, Vögel singen. Dann setzt die zurückhaltende, akzentuierende statt sich wie ein Teppich über das Geschehen legende Musik von John Scott ein, indem sie den Klang der Tropfen aufnimmt. Wenn Fallon dem Gangster Krasko in den Kopf schießt rattert wieder eine U-Bahn vorbei. Die Produzentenfassung ersetzt das Rattern des Zuges durch Contis anschwellende Spannungsmusik.

Dadurch wird der Effekt, wenn Kraskos Blut auf die Marienstatue spritzt, ein anderer. Die Gewalt wird ästhetisiert. Das fürchterliche Stöhnen des Sterbenden überhört man leicht, weil die Musik so dominant ist. Der Sarg des kleinen Mädchens, das bei Hodges beigesetzt wird, fungiert als Überschrift für die gesamte Mordszene ("Tote Kinder") und als Kommentar. In Nordirland sprengt Fallon die Schulmädchen in die Luft. In London tötet er Jan Krasko. Kristou gibt Fallon die Mordwaffe, und eine Entschuldigung liefert er gleich mit. Krasko ist ein brutaler Verbrecher, ein Zuhälter und Drogendealer. Die Welt wird zum besseren Ort, wenn er tot ist. Dem mag so sein. Hodges lässt solche Ablenkungsmanöver aber nicht gelten.

Die Pietà, von der der Regen tropft, bevor Tropfen von Kraskos Blut die Jungfrau Maria besudeln, zeigt eine Mutter mit ihrem toten Sohn. Krasko ist ein alter Mann und doch auch ein Kind, der Sohn seiner Mutter, deren in den Grabstein eingelassenes Photo er küsst, bevor Fallon auf ihn schießt. Das unterläuft die Rechtfertigungsstrategien, mit denen der Wert eines Menschenlebens kategorisiert wird, mit deren Hilfe die Mörder begründen, wer getötet werden darf und wer nicht: Katholiken oder Protestanten, Kinder oder Erwachsene, ehrbare Bürger oder Gangster, Jesus Christus (in dessen Namen auch ordentlich gemordet wurde) oder die beiden Räuber, die man mit ihm kreuzigte.

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