Vergebung für einen Terroristen
Seite 5: Asche zu Asche, oder auch: "Fuck the mourners!"
Meehan wird den geschundenen Frauenkörper so wiederherstellen, dass man eine schöne Leiche beisetzen kann. "Hübsches kleines Ding", sagt er. "Sie hat nur acht Pints Balsamierflüssigkeit gebraucht. […] Sie könnte eine Braut sein." Dabei bemalt er die Lippen im nun makellosen Gesicht der Frau mit roter Farbe. Ein Hauch von Nekrophilie liegt in der Luft (bei Interesse: Acht Pints sind umgerechnet rund viereinhalb Liter Flüssigkeit). Den Produzenten wurde das wahrscheinlich unheimlich. Also entfernten sie wenigstens die frankensteinähnliche Einstellung, in der Jack der Frauenleiche zuflüstert, dass er ihr jetzt neues Leben geben wird.
Die einen begraben ihre Angehörigen, die anderen lassen sie einäschern. Dann führt der Weg vom Bestattungsinstitut zum Krematorium. Der tote Mr. Orton ist der stille Gast in einer Szene mit viel schwarzem Humor. Vier Gangster sitzen in einem Leichenwagen und fahren mit Ortons Sarg an der St. Luke’s Church vorbei. Fred Varley sitzt am Steuer. Die Aufgabe besteht eigentlich darin, eine pietätvolle Seriosität auszustrahlen, weil die Gangster jetzt als Bestatter im Einsatz sind. Jack sieht jedoch, wie Superintendent Miller die Kirche verlässt. Miller ist der Polizist, der seit zehn Jahren versucht, ihm das Handwerk zu legen.
"Scheiße", sagt Jack. "Das ist Miller. […] Fahr um den Block, Fred!". "Was ist mit den Trauernden?", fragt Fred. "Wir kommen zu spät zum Krematorium." "Scheiß auf die Hinterbliebenen", sagt der deutsch synchronisierte Billy, und im Original: "Fuck the mourners!". Das Ficken sollte schon bleiben, weil es gleich danach um Sex gehen wird. Zunächst aber kommt Fallon mit Anna da Costa aus der Kirche. Im Hintergrund fährt wieder der Leichenwagen vorbei. Das ist die Art von grimmigem, dem schönen Schein ein Ende machenden Humor, mit dem in Hodges’ Filmen immer zu rechnen ist.
Ein Blick auf den Polizisten genügt, um die Fassade aus Pietät und unternehmerischer Ehrbarkeit zum Einsturz zu bringen. Statt zum Krematorium zu fahren umkreist der Leichenwagen mit einem Sarg und vier Gangstern die Kirche. Mr. Orton, seine Witwe und die Trauergäste sind nicht mehr wichtig. Hier geht es jetzt um Mord und sexuelle Gelüste. Das hat Vorrang. Warum sexuelle Gelüste? "Fallon!", sagt Jack. Und Billy: "Er ist mit da Costas Nichte zusammen. Sie ist blind. Ein blindes Mädchen hatte ich noch nie!" Damit ist Billy so gut wie tot. Bald wird er in derselben Lage wie Mr. Orton sein. Er weiß es nur noch nicht.
Weil man nicht ewig mit einer Leiche um eine Kirche herumfahren kann landet der tote Mr. Orton doch noch im Krematorium. Jack nützt die Gelegenheit, um Fallon durch sein Reich zu führen. Nachdem ein Priester bei der Trauerfeier das Amen gesprochen hat wird der Sarg hinter die Kulissen gebracht. Die Gebrüder Meehan, nun wieder die würdevollen Bestatter, schieben ihn in den Ofen. Jack zeigt Fallon das Regal mit den sorgfältig beschrifteten Pappschachteln, in denen die Urnen mit der Asche der Verstorbenen zwischengelagert werden.
Alles hat hier seine Ordnung. Die Angehörigen erhalten später eine "Ruhe in Frieden"-Karte mit einer Nummer, damit sie wissen, wo die Urne beigesetzt wurde und es keine Verwechslung gibt. Für Mr. Orton ist es jetzt soweit. Meehan zeigt Fallon voller Stolz, wie der Verbrennungsofen funktioniert und startet das Feuer. Im Director’s Cut wird von hier nicht - wie in der Produzentenfassung - auf das Frauenbein in Strumpf und Stöckelschuh geschnitten, weil das trotz der schwarzen Seide ein Blödsinn ist. Meehan nimmt eine Urne und setzt die Führung fort. Neben dem Krematorium betreibt er eine Parkanlage, als letzte Ruhestätte. Dort spazieren sie jetzt entlang.
"Asche zu Asche", sagt Meehan. "Alles, was bleibt, ist eine ‚Ruhe in Frieden’-Karte. Mit der richtigen Nummer." Er zeige Fallon das alles, erläutert er, weil sie beide Profis in Fragen des Todes seien: "Ich dachte, dass Sie das interessieren könnte." Die Produzenten interessierte es nicht. Am Ende bleibt womöglich nur eine Grabnummer von uns übrig - vielleicht wollten sie dem Publikum diesen Gedanken nicht zumuten. Oder sie störten sich am Schornstein des Krematoriums, der im Hintergrund in die Höhe ragt. In einer Gesellschaft, die den Tod systematisch verdrängt, sieht man so etwas nicht gern. Meehans Urnenpark musste weg.
Karfreitagsabkommen und Europäische Union
Dem Brexit verdanke ich die Erkenntnis, wie viel Zündstoff die "Rest In Peace"-Karte enthält. Um das zu verstehen sollten wir einen letzten Blick in die Vergangenheit werfen - eine Vergangenheit, die vom Entstehungsjahr des Films aus die Zukunft war. Zehn Jahre nach dem Skandal um A Prayer for the Dying, im Oktober 1997, traf sich der nach einem Erdrutschsieg der Labour Party zum Premierminister gewählte Tony Blair in Belfast mit Gerry Adams und dem im März 2017 verstorbenen Martin McGuinness. Die Teilnehmer schrieben damit Geschichte.
Es war das erste Treffen zwischen einem britischen Premierminister und Führern der Sinn Féin, seit David Lloyd George und die irische Delegation mit Michael Collins 1921 in der Downing Street zusammengetroffen waren, um den anglo-irischen Vertrag auszuhandeln, der dann den Bürgerkrieg von 1922/23 auslöste. 1998 einigten sich die Regierungen der Republik Irland und Großbritanniens sowie der meisten nordirischen Parteien auf das Belfast Agreement, das als Karfreitagsabkommen bekannt ist, weil die Einigung am Karfreitag (10. April 1998) erzielt wurde.
Ratifiziert wurde das Abkommen nach Volksabstimmungen in Nordirland und der Republik Irland, wo die eine Wiedervereinigung mit den sechs nördlichen Grafschaften verlangende Verfassung geändert werden musste. Das nach langen und zähen Verhandlungen zustande gekommene Vertragswerk ist sehr kompliziert und legt unter anderem fest, wie Nordirland regiert werden soll. Um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass es mehr Protestanten als Katholiken gibt wird im nordirischen Regionalparlament nicht nach dem üblichen Mehrheitsprinzip entschieden.
Um Gesetze zu verabschieden sind parallele Mehrheiten in den Lagern der Unionisten und der Nationalisten erforderlich. In der Exekutive teilen sich die Unionisten und die Nationalisten die Macht. Eine Wiedervereinigung mit der Republik Irland ist nicht ausgeschlossen, setzt aber voraus, dass die Mehrheit der Nordiren dafür ist. Die einzige größere Partei, die sich gegen das Karfreitagsabkommen aussprach und für ein Nein beim Referendum warb war die vom presbyterianischen Pfarrer und politischen Hardliner Ian Paisley gegründete Democratic Unionist Party (DUP).
Paisley war davon überzeugt, dass es ein friedliches Zusammenleben von Protestanten und Katholiken nicht geben könne. Er war nicht einmal bereit, mit Vertretern der Sinn Féin am Verhandlungstisch zu sitzen, weil das für anständige Leute wie ihn ein Ding der Unmöglichkeit sei. Seinen Widerstand gab er schließlich auf, und 2007 bildeten er und Martin McGuinness eine von den beiden größten nordirischen Parteien getragene Regionalregierung, der DUP und der Sinn Féin. (Nachfolgerin des 2014 verstorbenen Paisley als Vorsitzende der Demokratischen Unionisten wurde Arlene Foster.)
Warum die Sinn Féin 1998 einem Abkommen zustimmte, das doch sehr weit von dem entfernt ist, wofür die IRA jahrzehntelang gekämpft (und getötet) hatte, gibt den Historikern bis heute Rätsel auf. Eine wesentliche Rolle dürfte gespielt haben, dass Großbritannien und die Republik Irland seit dem 1. Januar 1973 Mitglieder der Europäischen Union waren. Die EU bewährte sich auch da als Friedensprojekt, weil sie die Beziehungen zwischen beiden Mitgliedsstaaten vertiefte. Im viel gescholtenen Brüssel begegneten sich routinemäßig Politiker und Beamte aus beiden Ländern.
Das half beim Aufbau von Vertrauensverhältnissen, und es bildeten sich neue Rahmenbedingungen heraus, innerhalb derer das Vereinigte Königreich und die Republik Irland gemeinsam an der Lösung des Konflikts arbeiten konnten - unterstützt von Bill Clinton, der sich und sein politisches Gewicht als erster US-Präsident aktiv in die Verhandlungen einbrachte. Das von der EU ausgegebene Ziel, das allmähliche Zusammenwachsen der Mitgliedsstaaten, erleichterte den katholischen Nationalisten das Umdenken, auch der IRA.
Durch den Abbau von Grenzen schien sich ein Weg aufzutun, über Diskussionen und Verhandlungen eine Wiedervereinigung zu erreichen, die sich nicht hatte herbeibomben lassen. Das sahen nicht alle so. Das Karfreitagsabkommen hat wieder einmal zur Spaltung der IRA geführt, mit der Real IRA als einer paramilitärischen Terrororganisation, die weiter auf den bewaffneten Kampf setzt, auch wenn sie nur sporadisch Anschläge verübt. Leute, die für die Provos Waffen und Sprengstoff beschafft hatten und Kompromisse kategorisch ablehnten, wechselten zur "echten" IRA.
Da sind sie heute noch, oder sie haben ihr Wissen an die nächste Generation weitergegeben. 2011 gründeten ehemalige Provos eine Organisation, die von sich behauptet, die einzig wahre IRA zu sein (und darum auch keinen Namenszusatz zu brauchen). Man ist gut beraten, sich keinen Illusionen hinzugeben. Die Lage bleibt explosiv und der Friedensprozess ein zartes Pflänzchen, das man hegen und pflegen sollte, statt ihm durch politische Taktiererei das Wasser abzugraben. Schon allein durch die Ankündigung eines Brexit-Referendums verhärteten sich in Nordirland wieder die Fronten.
Quadratur des Kreises
Nach dem Sieg der Brexit-Befürworter, im Januar 2017, kam das gemeinsame Regierungshandeln der DUP und der Sinn Féin praktisch zum Erliegen. Inzwischen wird wieder gefeilscht, aber Theresa Mays Entscheidung, aus Gründen des Machterhalts mit Arlene Fosters DUP zu paktieren, hat die Lage alles andere als vereinfacht. May wurde dafür sogar von gemäßigten protestantischen Gruppierungen in Nordirland heftig kritisiert, und von den Katholiken sowieso. Die besser in die 1950er als in die Gegenwart passende Haltung der DUP gegenüber Abtreibung, Ehe für alle und Frauenrechten ist dabei noch das geringste Problem.
Gerichte werden prüfen müssen, ob die Premierministerin gegen das Karfreitagsabkommen verstoßen hat, um mit den zehn Stimmen der DUP eine hauchdünne Mehrheit abzusichern. Im Abkommen ist festgelegt, dass die Regierungen der Republik Irland und des Vereinigten Königreichs dessen Einhaltung garantieren. Das wirft die Frage auf, wie May als "ehrliche Maklerin" zwischen der Sinn Féin und der DUP agieren will, wenn ihre Regierung vom Abstimmungsverhalten einer dieser beiden Parteien abhängig ist.
Die DUP will die Wiedervereinigung Nordirlands mit der Republik Irland unbedingt verhindern. Darum wünscht sie sich einen harten Brexit, der Ulster rechtlich und politisch vom EU-Mitglied Irland entfernen würde. Einen weichen Brexit wünscht sie sich aber auch, weil eine Grenze mit strikten Personen- und Warenkontrollen zu schweren Verwerfungen führen sowie die wirtschaftlich schwache und auf Subventionen angewiesene Provinz weiter isolieren und dadurch beschädigen würde. Die IRA könnte wie immer geartete Grenzkontrollen zu Gewalttaten provozieren, mit den dann unvermeidlichen Gegenreaktionen militanter Protestanten.
Theresa May muss jetzt also eine Unionistenpartei zufrieden stellen, die sich einen harten und einen weichen Brexit wünscht und außerdem eine "poröse" Grenze zwischen Nord und Süd, was bisher mehr eine rhetorische Figur zum Verbergen der allgemeinen Ratlosigkeit ist als eine konkrete politische Idee. Im eigenen, in sich zerrissenen Lager hat sie es mit einem harten Kern von Brexit-Befürwortern zu tun, die bereits davor warnen, dass eine irgendwie "poröse" Grenze zum Einfallstor für genau jene unerwünschten Ausländer werden könnte, die durch den Brexit von der britischen Insel ferngehalten werden sollten.
Irische Republikaner mögen den Vorschlag, die Grenze (soweit es die Kontrollen betrifft) in die Irische See zu verlegen, weil so eine Trennlinie zwischen Nordirland und der britischen Insel gezogen würde. Aus demselben Grund hat die DUP den Vorschlag vehement zurückgewiesen und als Verrat am anglo-irischen Vertrag von 1921/22 gegeißelt. Leo Varadkar, seit dem 14. Juni 2017 irischer Premierminister, tut gern seine Überzeugung kund, dass der Brexit einen Keil zwischen die Briten und ihre Provinz in Irland treiben und er die Wiedervereinigung noch erleben werde.
Am 4. August besuchte der schwule Sohn einer irischen Mutter und eines in Indien geborenen Vaters Belfast. Tags darauf nahm er an einem Frühstück anlässlich der Gay Pride Parade teil und sagte, dass die Ehe für alle bestimmt auch in Nordirland bald kommen werde (die sechs Grafschaften sind der einzige Teil Großbritanniens, in dem keine gleichgeschlechtlichen Ehen geschlossen werden können). Arlene Foster ist eine Paisley-Schülerin und demnach eine mit allen Wassern gewaschene Politikerin. Ihr dürfte nicht entgangen sein, dass Varadkar angereist war, um Werbung für den Süden als ein weltoffenes und tolerantes Land zu machen und so den Weg zur Wiedervereinigung zu ebnen.
In gesellschaftspolitischen Fragen hat die Republik Irland, kürzlich noch von einem reaktionären Katholizismus geprägt, Nordirland inzwischen abgehängt. Das liegt ganz wesentlich an Foster und ihren Parteifreunden, die Leugnern der Klimakatastrophe, Kreationisten und christlichen Fundamentalisten eine Heimat bieten und Ulster am liebsten in den 1950ern einzementieren würden. Junge Protestanten fühlen sich von der DUP immer weniger repräsentiert. Varadkar signalisiert ihnen, dass Katholiken keine Monster sind und sie sich vor einer Vereinigung des Nordens und des Südens nicht fürchten müssen.
In den nächsten Monaten und Jahren könnten sich unerwartete Allianzen bilden. Was, wenn in Britannien ein signifikanter Teil der Befürworter des EU-Austritts im Laufe der Verhandlungen zu der Meinung gelangt, dass ein harter Brexit ohne Nordirland besser wäre als ein weicher Brexit mit der ewigen Trouble-Provinz, die für das Königreich durch die jüngsten finanziellen Zugeständnisse Theresa Mays noch teurer geworden ist (eine Milliarde extra für das Wohlwollen der DUP)? Dann hätten die englischen Konservativen plötzlich ein interessantes Gesprächsthema mit den irischen Nationalisten.
Derzeit weiß niemand, wie es nach dem Brexit weitergehen soll. Bei unübersichtlichen Gemengelagen wie dieser ist die Versuchung besonders groß, sich durch Abgrenzung der eigenen Identität und Gruppenzugehörigkeit zu versichern. Während sich in London eine überforderte und durch den Wahlausgang geschwächte Theresa May an der Quadratur des Kreises versuchen muss wird anderswo gezündelt. Der Oranier-Orden fordert von der DUP, ihren neu gewonnenen Einfluss dafür zu nutzen, dass er in Portadown wieder durch ein Wohngebiet katholischer Nationalisten marschieren darf. Nach schweren Ausschreitungen ist das seit 1998 verboten.
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