Vergebung für einen Terroristen

Seite 8: Gefallener Engel

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Beide Fassungen belohnen das genaue Hinsehen, das auch beim kommerziellen Kinofilm weiterhin erlaubt bleibt. Fallon schaut immer wieder mal nach oben. Die Autoren von einigen der Verrisse, die zu Prayer geschrieben wurden, tun das als lächerlichen Manierismus des Schauspielers Mickey Rourke ab. Wenn man verstanden hat, dass Fallon ein katholischer Terrorist auf der Suche nach Erlösung ist, und dass dort das Kreuz hängt, ergibt der Blick nach oben einen Sinn. Interessanter ist natürlich der Director’s Cut, weil da der Blick zur Decke (zum Himmel) zugleich einer in die Zukunft ist und man sich mit Fallon fragen kann, wann das passieren wird, was dort zu sehen ist.

Hodges beantwortet die Frage mit einer Mischung aus Trauer und Ironie. "Wir sehen uns in der Hölle", sagt Fallon am Schluss zu Meehan. Nach einem Handgemenge mit dem Gangster stürzt er als gefallener Engel vom Kirchturm. Auf dem Weg nach unten gelingt es ihm, sich am gekreuzigten Jesus Christus festzuhalten; weil er aber an der glatten Oberfläche keinen Halt findet rutscht er ab und prallt schließlich auf dem Fußboden der Kirche auf. In der Kinoversion ist der Absturz kosmetisch bearbeitet. Das Geräusch des Aufpralls wird von Contis Musik übertönt. Einstellungen mit Fallons zerbrochenem, auf dem Boden liegenden Körper sind entfernt. So wird das Sterben leichter konsumierbar.

Vom Rummelplatz aus beobachten die da Costas, wie auf dem Kirchturm die für sie bestimmte Bombe explodiert und Jack Meehan in Stücke reißt (Karussellmusik im Director’s Cut, Conti in der Kinoversion). Der Priester kommt noch rechtzeitig in das, was von seiner Kirche übrig ist, um zu sehen, wie das über dem Altar hängende Kreuz mit Jesus Christus von der Decke fällt und auf dem Boden aufschlägt wie vorher Fallon. Das ist die Einstellung, die Hodges in seiner Schnittfassung da eingefügt hat, wo Fallon zum ersten Mal in der Kirche sitzt, die blinde Anna getroffen hat und nach oben schaut, zum Kruzifix.

Jetzt, da das Kreuz tatsächlich herunterfällt, in der Gegenwart, sich die frühere Einstellung also als Blick in die Zukunft erweist, fügt Hodges eine Einstellung aus der Vergangenheit ein: Fallon auf dem Hügel in Nordirland, bevor der Schulbus in die für den Militärkonvoi gedachte Sprengfalle fährt. Damit schließt sich ein Kreis. Wer andere tötet, sagt der Film, bringt sich selber um. Nach dem Tod der kleinen Mädchen ist Fallon ein lebender Leichnam; ein Wanderer zwischen den Welten auf der Suche nach einer Sterbemöglichkeit, die er nun gefunden hat.

Die Rückblende und die Vorausblende, die am Schluss des Films in der Gegenwart ankommt, brechen nicht nur das chronologische Erzählen auf (was die Produzenten rückgängig machten). Sie sind auch der subtile Hinweis darauf, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde geben könnte, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt (um es mit Shakespeares Hamlet zu sagen) - etwa die Fähigkeit, in die Zukunft zu schauen und nicht nur nach oben zur Decke, von der ein gekreuzigter Erlöser hängt, der in der Kinoversion wenig mehr als eine Figur ist, die einem auf den Kopf fällt, wenn man nicht auf sich Acht gibt.

Mike Hodges ist möglicherweise nicht der katholischste aller vom Katholizismus abgefallenen Regisseure (wie gläubig Hitchcock war weiß ich nicht genau), sicher aber einer der spirituellsten. Man merkt das nur nicht immer gleich, weil das Spirituelle bei ihm eher unauffällig in die Handlung eintritt, sich nicht aufdrängt und nichts mit dem Absingen von Kirchenliedern und anderen Ritualen zu tun hat, mit denen wir es einzäunen und festen Regeln unterwerfen. Den Produzenten war das Dezente schon zu viel. Darum wurde es entfernt, so gut es ging.

Letzte Momente im Leben eines IRA-Manns

Ganz ist das Spirituelle und Metaphysische auch aus der Kinofassung nicht verschwunden. Es ist nur leider fragmentiert und auf seinen Gebrauchswert reduziert, weil die Bearbeiter bemüht waren, eindeutige Antworten zu geben, wo Hodges ambivalent bleibt. Am Schluss liegt Martin Fallon unter dem Kruzifix. Ob die auf ihn gefallene Erlöserfigur seine beim Sturz erlittenen Verletzungen noch verschlimmert oder ob sie ihn gegen herabfallende Gesteinsbrocken geschützt hat bleibt offen. Jedenfalls muss da Costa den Sterbenden erst vom gekreuzigten Heiland befreien, ehe er ihn auffordern kann, Gott um Vergebung zu bitten.

Beim Freiräumen kommt der Torso von Jesus Christus neben Fallon zu liegen. Wenn man den Film seiner Ambivalenz beraubt wird das ganz schnell zum Religionskitsch. Hodges beugt dem mit einem Schuss Ironie vor, der sich nicht mehr rückgängig machen ließ: die Figur des Erlösers ist nur noch ein Torso, die abgebrochenen Arme sind weiter ans Kreuz genagelt. Da Costa will unbedingt Fallons Seele retten und drängt ihn, im Moment des Todes einen Akt der Reue zu vollziehen. Gott werde verstehen und warte nur darauf, sagt er. Mit letzter Kraft tut Fallon schließlich, was sich der Priester von ihm erhofft.

A Prayer for the Dying

"Vater …", sagt Fallon, "bitte … bitte … bitte … Gott … vergib mir." Dann ist er tot. Da Costa spricht ein Gebet für den Verstorbenen. Glücklich ob der Seelenrettung wirkt er dabei nicht, aber irgendwie ist das doch sehr geschäftsmäßig (in der deutschen Synchronfassung noch mehr, weil da eine dem Spirituellen eher abträgliche Tonstudioatmosphäre herrscht). Der Terrorist bittet um die Vergebung seiner Sünden, und der allgegenwärtige Gott wird ihm dann schon verzeihen und ihn zu sich in den Himmel holen, weil sein Stellvertreter auf Erden es versprochen hat.

A Prayer for the Dying

Im Director’s Cut dauert das Sterben länger, es gibt mehr Dialog, und anders geschnitten ist die Szene auch. Martin Fallon denkt im Angesicht des Todes zuerst an den Kampf für die irische Wiedervereinigung, der immerhin den Großteil seines Lebens bestimmt hat. Für den Film ist das ganz wichtig. Fallon ist ein Mann, der bis zum Ende die Ziele der IRA teilt, auch wenn er deren Methoden nicht mehr gutheißen kann und genug vom Töten hat. Die Kinoversion wurde zu Recht dafür kritisiert, dass der Held auch ein Auftragskiller der Mafia sein könnte, der nicht mehr morden will. Dem Film gibt das etwas Beliebiges.

Der IRA-Bezug wirkt mitunter aufgesetzt und spekulativ, weil der Held Gefahr läuft, zur austauschbaren Figur zu werden, zum Versatzstück in einem konventionellen Thriller. Die Prügel dafür bezog der Regisseur, obwohl es sich um ein Ergebnis von Produzentenwillkür handelt. Goldwyn und Snell war das Thema wohl zu heikel, was dann erst recht zum Skandal führte, weil sich die Kinoversion von Prayer nicht nur an einen schwierigen Stoff wagt, sondern in einigen Passagen den Eindruck vermittelt, als wäre der Terror kaum mehr als ein beliebiges Plotelement.

Der Vorbereitung auf die Sterbeszene dient - in der Mitte des Films - ein Gespräch zwischen dem Priester und dem IRA-Mann mit vertauschten Plätzen. Da Costa sitzt auf einer Kirchenbank. Fallon steht wie ein Prediger auf der Kanzel und spricht darüber, dass wir im Grunde ganz allein sind. In einem Krieg, den alle unbedingt gewinnen wollten, habe er sich auf eine Seite gestellt, Menschen zerstört und viel zu spät gemerkt, dass er mit jedem Schuss auch sich selbst zerstört habe. Da Costa wirft Fallon Heuchelei vor, weil er angeblich nicht mehr töten will und es doch gerade wieder getan hat (der Mord an Krasko).

A Prayer for the Dying

In der Produzentenfassung ist die Szene verstümmelt. Im Director’s Cut will Fallon von Gott nicht nur wissen, weshalb er den Glauben an ihn verloren hat (man beachte die Ironie). Er hätte auch gern von Gott erklärt, warum so viele Iren immer noch den bewaffneten Kampf wollen, und wie sich die Liebe zu Gott damit vereinbaren lässt, dass man Mord und Blutvergießen akzeptiert. Gute Frage. Leider wird sie in der Kinoversion nicht mehr gestellt. Nur die Erwähnung eines "Krieges" blieb erhalten, weil sich Rourke mit den Produzenten überworfen hatte und die Szene nicht neu gedreht werden konnte.

Bei Hodges spricht Fallon von den Leuten, die bei Anschlägen der IRA gestorben sind und von den Angehörigen, denen er einen geliebten Menschen genommen und deren Leben er dadurch ebenfalls zerstört habe. Damit wird ein zentraler Aspekt des Nordirlandkonflikts berührt (und anderer Konflikte dieser Art), jener der "Kollateralschäden". Aktionen auf der einen Seite steigerten die Gewaltbereitschaft auf der anderen, weil ständig neue, auch gänzlich unbeteiligte Opfer zu beklagen waren, was wiederum zu Gegenreaktionen führte und so weiter.

Erst mit dem Karfreitagsabkommen von 1998 wurde der jahrzehntelange Kreislauf der Gewalt durchbrochen. Der Director’s Cut mit einem an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidenden Martin Fallon lässt erahnen, dass die bis dahin kaum für möglich gehaltene Kompromissbereitschaft der katholischen Nationalisten und der pro-irischen Protestanten auch ein Resultat der Erschöpfung der Kämpfer war. Zur Zeit der Troubles setzte man sich mit so einem Film leicht zwischen alle Stühle. Die Produzenten bekamen offenbar Angst vor der eigenen Courage, als sie Hodges’ Schnittfassung sahen.

Der Held der Kinoversion ist weniger kaputt (und somit heldenhafter). Das Dilemma des IRA-Kämpfers wird da, wo es durch Kürzungen zu bewerkstelligen war, auf eine allgemeine Ebene gehoben, was wohl die kommerzielle Verwertbarkeit erhöhen sollte. Dem Film hat das geschadet und nicht genützt, weil das Allgemeine in die Beliebigkeit entschwebt, wenn ihm die spezifische Grundlage fehlt. Wer einen Thriller über einen Provo in Auftrag gibt und dann möglichst keine Irland-Bezüge haben will, weil das Ärger einbringen könnte, hat sich das falsche Projekt ausgesucht.

Verdammnis oder Erlösung?

"Um Gottes Willen", sagt da Costa zum sterbenden Martin Fallon (nur im Director’s Cut), "der Kampf ist vorbei. Bitte Gott um Vergebung." In der Produzentenfassung macht Fallon das auch brav, damit der Zuschauer mit einem guten Gefühl aus dem Kino gehen kann. Hodges dagegen schneidet im entscheidenden Moment auf die in die Kirche gekommene Anna. So bleibt offen, ob Martin mit dem Wort "Gott …" auf den Lippen stirbt, oder mit dem "Gott … vergib mir" der Kinoversion. Sicher ist, dass er bei Hodges ohne Musik aus dem Leben scheiden darf. Das macht die Szene stärker, weil keine von außen dazugegebenen Emotionen von der Leistung der Schauspieler ablenken.

Nur im Director’s Cut gibt es nach Fallons Tod einen Kameraschwenk, der noch einmal den vom Kreuz abgebrochenen Jesus Christus ins Bild rückt. Der Torso fungiert als Fragezeichen. Hat Fallon Gott um Vergebung gebeten oder nicht? Wird Gott, falls er existiert, Gnade walten lassen? Oder ist die ihrer Arme beraubte Skulptur das Symbol für die Heilsversprechen einer Religion, die ihre Gläubigen schon vor der Explosion in einem renovierungsbedürftigen, vom Abriss bedrohten Kirchenbau empfing? Die Kinoversion braucht die Einstellung nicht, weil der Religionsteil mit der Bitte um Vergebung und dem Gebet des Priesters abgehakt ist.

A Prayer for the Dying

Im Director’s Cut verweilen diese Fragen noch zwischen den Bildern, wenn die Sanitäter Fallons Leiche abtransportieren. Die Feuerwehr löscht den Brand. Die ermittelnden Beamten tragen Trenchcoats und eilen in die Kirche. Die Sinnlosigkeit ihrer Bemühungen kommentiert eine Stellwand, die Kirche und Rummelplatz trennt. Dort ist die Karikatur eines Polizisten in Bobby-Uniform aufgemalt. Vor der Karikatur steht Siobhan Donovan. Sie ist gekommen, um sich zu versichern, dass Fallon tot ist. Über den Lichtern des Jahrmarkts wölbt sich ein nachtschwarzer Himmel. Den Produzenten war das wohl zu finster. Deshalb ließen sie den Abspann - in heller Schrift - nach oben steigen.

A Prayer for the Dying

Siobhan ist inzwischen unter den Schaulustigen verschwunden. Beruhigend ist das nicht. Sie ist die Auftragskillerin von der IRA, die weiter mordet und dabei nicht zwischen Freund und Feind unterscheidet, wenn die Führung beschlossen hat, dass es der Sache dient. Wenige Tage vor der Europa-Premiere wurde A Prayer for the Dying von der so angedeuteten Wirklichkeit eingeholt. In Enniskillen explodierte eine Bombe und riss elf Menschen in den Tod. Der Skandal rund um die geplante Galaveranstaltung beim London Film Festival und der Streit zwischen Regisseur und Produzenten liegen bis heute wie dunkle Schatten über dem Film, obwohl sich kaum mehr jemand daran erinnern kann.

Das sollte einen nicht davon ablenken, wie unerschrocken sich beide Fassungen der entscheidenden Frage stellen: Kann es für einen Terroristen, der viele Menschen auf dem Gewissen und das Leben der Angehörigen ruiniert hat, so etwas wie Vergebung und Erlösung geben? Damals, 1987, war es von Publikum und Kritikern offenbar zu viel verlangt, sich dieser Frage auszusetzen. Jetzt, 30 Jahre später, ist sie so aktuell wie eh und je. Nur die Protagonisten des Dramas haben sich geändert. Der Brexit hat das Potential, die alten Akteure zurück auf die Bühne zu holen. A Prayer for the Dying bleibt unbedingt sehenswert.

In Deutschland ist die Produzentenfassung von A Prayer for the Dying - unter dem dämlichen Verleihtitel "Auf den Schwingen des Todes" - bei Koch Media auf DVD und Blu-ray erschienen. Leider gibt es keinerlei Bonusmaterial, wie schon bei der alten MGM-DVD. Besser ist die Limited Edition (Blu-ray, Region Free, kein deutscher Ton) von Twilight Time, erhältlich bei Screen Archives Entertainment in den USA. Zusätzlich zur Produzentenfassung erhält man Interviews mit Mike Hodges und Mike Garfath, den Trailer und ein Booklet mit einem Text von Julie Kirgo. Nur auf den Director’s Cut wartet man wahrscheinlich immer noch, wenn die Kinoversion längst auf 4K Ultra HD erschienen ist. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

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