Vergebung für einen Terroristen

Seite 4: Bei Jenny Fox im Bordell

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Zu einer gut konstruierten Geschichte gehört die logische, in sich stimmige Abfolge der Szenen. Einmal trifft sich Docherty mit Ainsley - das ist (siehe Teil 1) der Judas mit den Wundmalen an den Händen - auf einer Autofähre. Ainsley gibt ihm einen Zettel mit der Adresse von Fallons Versteck. "Ich gehe nicht mal in die Nähe von diesem Ort", sagt der überraschte Docherty. Von welchem Ort? Gemeint ist das Bordell. Schnitt. Fallon in seinem Zimmer bei Jenny Fox. Jenny serviert das Frühstück wie im Hotel - nur mit dem Unterschied, dass sie einen weißen Bademantel trägt. Fallon verlässt das Zimmer, obwohl ihn Jenny anfleht, es nicht zu tun.

Man hört die Angst in Jennys Stimme. "Ich habe Billy versprochen, dass du hierbleibst", ruft sie Fallon hinterher. "Geh nicht!" Billy hat ihr aufgetragen, mit Fallon zu schlafen und ihn so im Bordell festzuhalten. Einer, der so sexbesessen ist wie Jack Meehans Bruder kann sich nicht vorstellen, dass das nicht gelingt. Jenny hat Angst, dass er sie schlagen wird, wenn Fallon trotzdem zu da Costa geht. Sie sieht klein und hilflos aus und unschuldig wie ein Kind, in ihrem weißen Bademantel und an dem Bett, in dem sie sonst die Freier bedient, die Meehan zu ihr schickt.

A Prayer for the Dying

In der Kinoversion fehlt die Szene. Docherty schaut auf die Adresse, will nicht hingehen, Schnitt. Anna da Costa verlässt das Pfarrhaus. Fallon kommt und fragt nach ihrem Onkel. Die Kombination der Szenen (Docherty mit der Bordelladresse/Pfarrhaus) ist ohne Sinn und Verstand. Handwerkliche Fehler wie diesen gibt es in der Produzentenfassung erstaunlich viele. Das ist umso bemerkenswerter, als Snell und Goldwyn behaupteten, dass sie den ihnen zu wenig mainstreammäßigen Film zum Wohle des amerikanischen Zuschauers umschneiden mussten. Besser ist er dadurch nicht geworden.

Vielleicht sind die Fehler ein Indiz dafür, dass das amerikanische Kino bereits dabei war, etwas zu verlieren, das es immer ausgezeichnet hatte: Die Fähigkeit, handwerklich sehr gut gemachte Geschichten zu erzählen. Noch ein Beispiel: Meehan zeigt Fallon den Ofen in seinem Krematorium. "Sie halten sich vom Priester fern", sagt Fallon. Schnitt. Ein Frauenbein in Stöckelschuh und schwarzem Seidenstrumpf. Wir sind im Bordell. Jenny versucht, Fallon anzumachen und bietet an, die Nacht mit ihm zu verbringen. Was soll das da? Vom Verbrennungsofen zum Bein der Prostituierten: Das muss einer der dümmsten Anschlüsse im Film der 1980er sein.

A Prayer for the Dying

Hodges hat die Szene gedreht, sie in seiner Schnittfassung aber nicht verwendet, weder hier noch an einer anderen Stelle. Jenny mit Frühstückstablett und im weißen Bademantel war ihm lieber, weil die Frau da noch verlorener wirkt. In der Kinoversion trägt sie eines ihrer Hurenoutfits. So oder so ähnlich empfängt sie ihre Freier. Schwarze Seide ist erotischer als ein weißer Frotteestoff. Fallon liegt auf dem Bett. Jenny bewundert sein Tattoo. "Ich liebe Männer mit Tätowierungen", sagt sie und greift Fallon in den Schritt. "Vielleicht ein andermal", sagt er und schiebt sie aus dem Zimmer.

A Prayer for the Dying

Die Produzenten wollten wohl mehr Sex. Also nahmen sie, was sie finden konnten und klatschten es irgendwo dazwischen. Viel war es nicht. Der Provo zwischen zwei Frauen, der Hure und der blinden Nichte des Pfarrers. Man braucht kaum Phantasie, um sich auszumalen, was daraus hätte werden können. Hodges machte das nicht mit und sein Material gab nicht genug her, um den Film entsprechend umzuarbeiten. Jenny geht für Meehan anschaffen, seit sie mit 14 schwanger wurde. Das Kind verwendet der Zuhälter seitdem als Druckmittel. Hodges verweigert die Erotisierung ihres Daseins als Zwangsprostituierte. Man sieht nur sexuelle Gewalt.

Londoner jenseits der Grenze

Das Schöne am Drehen an Originalschauplätzen ist, dass sie dem Film eine weitere Bedeutungsebene geben, wenn man sie richtig integriert, denn sie bringen ihre eigene Geschichte mit. Hodges kann das gut. Fallon und Docherty treffen sich (siehe Teil 1) im Victoria Park. Das ist der Park mit dem Brunnen, den eine Philanthropin errichten ließ, damit sich die Armen des East End dort laben und - sofern sie keine Analphabeten waren - an religiösen Sinnsprüchen erbauen konnten, wenn sie nicht gerade unter menschenunwürdigen Umständen schuften oder sich prostituieren mussten.

Vom Victoria Park ist es nicht allzu weit bis zur Kirche von Pater da Costa. Gedreht wurde in St. Luke’s in Canning Town (Jude Street), einer Kirche wie einem Schlachtschiff. Das Gebäude im neugotischen Stil ist das Ergebnis eines Artikels mit dem Titel "Londoners over the Border", den Charles Dickens 1857 in seiner Wochenzeitschrift Household Words veröffentlichte. Dickens hatte Canning Town besucht und war entsetzt darüber, unter welchen Umständen Menschen dort leben mussten.

Um die in den schnell wachsenden Victoria Docks benötigten Arbeiter und ihre Familien unterzubringen hatte man auf dem Marschland billige Häuser ohne Wasserversorgung und ordentliche Kanalisation errichtet. Zusätzlich zur extremen Armut gab es Pocken- und Choleraepidemien. Dickens forderte Kirche und Gesellschaft auf, etwas zu unternehmen. Also wurde Geld gesammelt und St. Luke’s gebaut, um etwas für das Seelenheil der Armen zu tun und eine Anlaufstation für wohltätige Organisationen zu schaffen. An der qualvollen Enge, in der die Menschen leben mussten und an den anderen Missständen änderte sich vorerst wenig.

In den 1930ern beschloss man, die als Schandfleck empfundenen Slums von Canning Town und Silvertown abzureißen und durch höherwertige Sozialbauten zu ersetzen. Das kam nur schleppend voran. Ihren ganz eigenen Beitrag zur Stadtentwicklung leisteten die Nazis. Die deutsche Luftwaffe bombardierte im Blitzkrieg die Docks, weil sie eine Lebensader der britischen Wirtschaft waren. Im East End richteten die Bombardements schwere Verwüstungen an. Getroffen wurde auch die (anglikanische) St. Luke’s Church, wovon sie sich trotz mehrerer Renovierungsphasen nie mehr ganz erholte.

A Prayer for the Dying

1985 wurde die Kirche säkularisiert. Für Prayer war St. Luke’s der ideale Drehort. Der alte Kasten war ungenutzt und hatte den baufälligen Charakter, den man brauchte, ohne ihn erst künstlich herstellen zu müssen. Die Kirche ist das Sinnbild für ein renovierungsbedürftiges Christentum, das genauso in einer Krise steckt wie der es repräsentierende Pfarrer, nachdem er die Gangster mit dem Deckel einer Mülltonne blutig geschlagen hat. Auf die Säkularisation folgte die Gentrifizierung. Heute sind Büros, eine Arztpraxis und ein Café in dem Gebäude untergebracht. Immobilienmakler bewerben die sündteuren Eigentumswohnungen in der Nachbarschaft mit dem Blick auf die alte Kirche und mit dem Hinweis auf Charles Dickens.

Das hallenartige Gebäude, in dem Meehan seine Särge präsentiert, fand Hodges in Südlondon, wo es damals noch solche Häuser gab und nicht die seelenlosen Zweckbauten, die da heute stehen. Schon immer fasziniert vom Bestattungswesen, ließ er es sich nicht nehmen, uns das Beerdigungsinstitut in all seiner protzig-morbiden Schönheit vorzuführen. Die Geschäftsgrundlage ist der Tod. Er übe keine körperliche Gewalt gegen Leute aus, sagt Meehan einmal, denn: "Ich bin Bestattungsunternehmer. Ich begrabe Menschen, oder ich verbrenne sie. Für mich ist der Tod eine Kunstform."

A Prayer for the Dying

Die körperliche Gewalt wird von Subunternehmern erledigt. Fallon erschießt Krasko auf dem Friedhof. Anschließend wird durchexerziert - am Beispiel mehrerer Leichen und in die Handlung eingewoben -, was danach geschieht. Zuerst beauftragt man - wie Mrs. Orton - einen Bestatter. Dann gibt uns Jack Meehan ein Beispiel seiner Kunst. Im Einbalsamierraum seines Instituts liegt der schrecklich zugerichtete Körper einer jungen Frau. "So sad", sagt Meehan. "Vor drei Tagen vergewaltigt und ermordet. Es war nicht einmal dunkel. Fürchterlich. Was ist aus dieser Welt geworden?" Als wäre das sein Stichwort taucht Billy hinter einem Vorhang auf, Jacks sadistischer Bruder.

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