Verschwörungstheorien zum 11. September

Seite 5: Fazit: Plädoyer für eine offene Debatte

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Der Aufsatz hat versucht, einen Einblick in die "Binnenstruktur" der heterodoxen Verschwörungstheorien zum 11. September 2011 zu geben. Im öffentlichen Diskurs werden die heterodoxen Verschwörungstheorien zu den Ereignissen des 11. September oftmals vorschnell diskreditiert, teilweise gar pathologisiert und mit extremen politischen Haltungen in Verbindung gebracht.

Dieser Ansatz wird aber dem komplexen und - wie die entsprechenden Umfrageergebnisse zeigen - durchaus verbreiteten Phänomen der alternativen Deutungen zum 11. September erstens nicht gerecht und führt zweitens zum Gegenteil dessen, was damit erreicht werden soll: Diese Verschwörungstheorien erhalten verstärkt öffentliche Aufmerksamkeit und werden für viele Menschen letztlich sogar ideologisch attraktiver. Die pauschale und oberflächliche Weise, mit der in den Leitmedien mit den alternativen Erklärungen zum 11. September umgegangen wird, ist sicher nicht geeignet, deren Anhänger von der Richtigkeit der offiziellen Erklärungen der US-Regierung zu überzeugen.

Doch um eine argumentative Auseinandersetzung mit den alternativen Deutungen scheint es in diesem Kontext auch gar nicht primär zu gehen. Vielmehr handelt es sich nach meinem Verständnis um die Verteidigung einer geltenden Wirklichkeitsordnung gegen Angriffe von "Wirklichkeitshäretikern", mithin um die Durchsetzung und Stabilisierung von Deutungshoheit, die zur Not auch ohne eine mühsame Auseinandersetzung mit einzelnen Pro- und Contra-Argumenten auskommt. Eine solche Auseinandersetzung findet in Bezug auf die Verschwörungstheorien zum 11. September eher im Internet statt, unterliegt aber auch dort in großen Teilen den üblichen wissenssoziologisch beschriebenen Mechanismen, die an den Reibungszonen zwischen orthodoxen und heterodoxen Wissensbestimmungen zum Tragen kommen. D. h. auch und vor allem in der "freien Sphäre" des Internet finden Kämpfe zwischen allgemein anerkanntem und abweichendem Wissen in Bezug auf die Ereignisse des 11. September statt, die sich oftmals weit entfernt von einer sachlichen Auseinandersetzung bewegen und vielmehr die Durchsetzung einer bestimmten Deutung zum Ziel haben.

Die wohl wichtigste Funktion von Verschwörungstheorien (hier: im allgemeinsten Sinne) besteht darin, für Ereignisse oder Prozesse, von denen Menschen sich irritiert fühlen, eine Deutung zu finden, die eine möglichst reibungsfreie Integration in bestehende Weltbilder und Sinnstrukturen ermöglicht. Die Terroranschläge des 11. September 2001 waren und sind für viele Menschen in höchstem Maße irritierend, beängstigend, ja verstörend - und deshalb in hohem Maße deutungsbedürftig. Damit ließe sich auch die Frage beantworten, warum der 11. September derart viele, teilweise höchst populäre alternative Erklärungen bzw. Lesarten generierte: Offenbar lässt sich die offizielle Version der Ereignisse nicht in die bestehenden Sinn- und Wirklichkeitskonstruktionen vieler Menschen (die oftmals lediglich aus einem Beharren auf dem sog. "gesunden Menschenverstand" bestehen) einbetten, weshalb es zu einer Art "Sinnlücke" oder kognitiven Dissonanz kommt, die mithilfe der Annahme einer Verschwörung überwunden wird.

Umgekehrt befriedigt die offizielle Version der Ereignisse das Deutungsbedürfnis all jener, denen die offiziellen Erklärungen vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Weltbilder bzw. Sinnkonstruktionen plausibel erscheinen. Man macht es sich deshalb zu einfach, wenn man vornehmlich radikale politische Ideologien (sei es aus dem "linken" oder "rechten" Spektrum) als Ursache für die Entstehung und Verbreitung regierungskritischer Verschwörungstheorien zum 11. September identifiziert. Auch die immer wiederkehrenden Hinweise auf die vermeintliche "Irrationalität" abweichender verschwörungstheoretischer Deutungen greifen hier zu kurz: Eine Beschäftigung mit den Argumenten der Vertreter heterodoxer Verschwörungstheorien zum 11. September zeigt, dass zumindest einige der alternativen Szenarien in Punkto Rationalität und "interner Plausibilität" den regierungsamtlichen Erklärungen nicht nachstehen.

Das hier vorgestellte Fallbeispiel verdeutlicht einmal mehr, dass Verschwörungstheorien nur im Zusammenhang mit realen Verschwörungen zu verstehen sind: Die dargelegten historischen bzw. geopolitischen Hintergründe und Spekulationen über mögliche Motive der mutmaßlichen "Verschwörer", die im Kontext der heterodoxen Verschwörungstheorien zum 11. September diskutiert werden, weisen auf eine wichtige Quelle der Entstehung entsprechender Deutungen hin: Die Tatsache, dass es in der Vergangenheit immer wieder reale Verschwörungen von Regierungen und Geheimdiensten gab, die teilweise erschreckende Ausmaße annahmen und bei denen - wie etwa im Falle der Terroranschläge der Gladio-Truppen - in manchen Fällen auch vor Gräueltaten gegen die eigene Zivilbevölkerung nicht zurückgeschreckt wurde.

Vor diesem Hintergrund erscheint es politisch durchaus legitim (vielleicht sogar geboten), bei Ereignissen wie dem 11. September eine kritische Grundhaltung gegenüber regierungsamtlichen Erklärungen einzunehmen und alternative Deutungsangebote auf deren Plausibilität hin zu prüfen. Dass in diesem Kontext auch Vertreter extremer politischer Ideologien versuchen, entsprechende Argumente für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren, ist ein Umstand, der nicht zur Delegitimierung abweichender Meinungen im Allgemeinen missbraucht werden darf.

So lange es offene Gesellschaften gibt, wird es immer dominierende und abweichende Wirklichkeitsbestimmungen und Kämpfe um Deutungsmacht geben. Gerade diese Kämpfe sind es aber, die einen erheblichen Teil der dynamischen Entwicklung des Wissens innerhalb von Gesellschaften ausmachen. Eine Überwindung der Kluft zwischen dominierenden und abweichenden Wissensformen käme einer gleichgeschalteten Gesellschaft gleich. Dies kann sicher nicht das Ziel einer demokratischen Öffentlichkeit sein.

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