Virtuelle Welten

Seite 3: 1.Realismus als Ware

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Digital bedeutet Zahl. Digitale Medien reduzieren alles auf Zahlen.

- Diese grundlegende Eigenschaft der digitalen Medien besitzt eine tiefreichende Auswirkung auf das Wesen des visuellen Realismus. In einer digitalen Repräsentation sind alle Dimensionen, die den Realitätseffekt betreffen - Detail, Farbe, Größe, Bewegung - quantifiziert. Als Folge kann der von der Repräsentation bewirkte Realitätseffekt selbst auf eine Reihe von Zahlen bezogen werden.

- Bei einem 2D-Bild stellen die wesentlichen Zahlen dessen Raum- und Farbauflösung dar: die Zahl der Pixel und die Zahl der Farben pro Pixel. Beispielsweise enthält ein Bild von 640 x 480 mehr Details als ein Bild von 120 x 160 desselben Objekts und erzeugt daher einen stärkeren Realitätseffekt. Bei einem 3D-Modell wird der Detailgrad und daher der Realitätseffekt durch die 3D-Auflösung charakterisiert: durch die Anzahl der Punkte, aus denen das Modell zusammengesetzt ist.

- Raum, Farbe und 3D-Auflösung beschreiben den Realismus statischer Repräsentationen: eingescannte Fotografien, ausgemalte Hintergründe, Darstellungen von 3D-Objekten usw. Wenn der Benutzer mit einer virtuellen Welt zu interagieren beginnt und durch einen 3D-Raum navigiert oder die Objekte in ihm betrachtet, werden andere Dimensionen grundlegend. Eine ist die zeitliche Auflösung. Je mehr Frames ein Computer in einer Sekunde erzeugen kann, desto eleganter ist die entstehende Bewegung. Eine andere ist die Geschwindigkeit der Beantwortung durch das System. Wenn der Benutzer auf das Bild einer Tür klickt, um sie zu öffnen, oder wenn er eine virtuelle Person etwas fragt, dann zerstört eine Verzögerung die Illusion. Aber man kann noch eine weitere Dimension als Konsistenz bezeichnen. Wenn sich bewegende Objekte keine Schatten werfen (weil sie der Computer nicht in Echtzeit darstellen kann), während der statische Hintergrund Schatten aufweist, dann stört diese Inkonsistenz den Realitätseffekt.

- Alle diese Dimensionen sind quantifizierbar. Die Zahl der Farben in einem Bild, die dem System mögliche zeitliche Auflösung usw. können in exakten Zahlen angegeben werden.

- Es ist nicht überraschend, wenn die Werbung für grafische Software und Hardware diese Zahlen in den Vordergrund stellen. Noch wichtiger ist, daß jene, die im grafischen Gewerbe arbeiten - die Erzeuger von Spezialeffekten, die militärischen Ausbilder, die digitalen Fotografen, die Designer beim Fernsehen -, jetzt bestimmte Maße dafür haben, was sie kaufen und verkaufen. Beispielsweise gibt die Federal Aviation Administration, die die Standards für Simulatoren setzt, die im Flugtraining zum Einsatz kommen, den gewünschten Realismus in Form der 3D-Auflösung an. 1991 forderte sie, daß ein Simulator bei Tageslicht mindestens 1000 Oberflächen oder 4000 Punkte erzeugen können muß. Eine Beschreibung des Compu-Scene IV Simulators der GE Aerospace stellt fest, daß ein Pilot über ein geographisch genaues 3D-Gebiet fliegen kann, das 6000 Merkmale pro Quadratmeile enthält.

- Die Zahlen, die den digitalen Realismus charakterisieren, spiegeln gleichzeitig etwas anderes wider: die anfallenden Kosten. Eine größere Bandbreite, höhere Auflösung und schnellere Verarbeitung führen zu einem stärkeren Realitätseffekt - und kosten mehr.

- Unter dem Strich: der Realitätseffekt einer digitalen Darstellung kann jetzt in Dollars gemessen werden. Realismus ist zu einer Ware geworden, die wie jede andere gekauft und verkauft werden kann.

- Diese Bedingung wird vermutlich von den Gestaltern der virtuellen Welten ausgekundschaftet werden. Wenn Benutzer heute Gebühren für die Verbindungszeit zahlen müssen, so können in Zukunft Gebühren für die visuelle Ästhetik und für die Qualität der Erfahrung erhoben werden: für die räumliche Auflösung, die Anzahl der Farben, die geometrische und psychologische Komplexität der Darsteller usw. Da alle diese Dimensionen durch die Software bestimmt werden, ist es möglich, das Aussehen einer virtuellen Welt beim Durchwandern automatisch anzupassen und dieses zu verbessern, wenn ein Kunde bereit ist, mehr zu zahlen.

- Auf diese Weise wird die Logik der Pornographie auf die gesamte Kultur ausgedehnt. Peep Shows und Anbieter von Telefonsex erheben von ihren Kunden Gebühren pro Minute, wobei sie jedem Moment des Vergnügens einen genauen Preis zuordnen. In virtuellen Welten werden alle Realitätsdimensionen quantifiziert und gesondert mit einem Preis versehen.

- Neal Stephensons Snow Crash (1992) gibt uns ein mögliches Szenario einer solchen Zukunft. Wenn man das Metaversum, das verräumlichte Netz der Zukunft, betritt, sieht der Held "immer wieder Leute in Schwarzweiß - Personen, die über billige öffentliche Terminals ins Metaversum gekommen sind und grobkörnig monochrom dargestellt werden." Er begegnet auch Paaren, die sich keine maßgeschneiderten Avatars leisten können und Modelle von der Stange kaufen müssen, die einfach gebaut sind und nur über einige standardisierte Gesichtsausdrücke verfügen - Äquivalente in der virtuellen Welt für Barbie-Puppen.

- Dieses Szenario wird schrittweise wirklich. Einige Online-Fotodienste bieten ihren Kunden Fotografien mit geringer Auflösung für wenig Geld und verlangen für Kopien mit höherer Auflösung mehr. Eine Firma mit dem Namen Viewpoint Datalabs International verkauft Tausende von gebrauchsfertigen geometrischen 3D-Modellen, die viel von Computerdesignern benutzt werden. Bei den gängigsten Modellen kann man zwischen verschiedenen Versionen wählen, wobei Versionen mit mehr Details teurerer sind als solche mit einer geringeren Zahl von Details.