Virtuelle Welten

Seite 6: 4. Riegl, Panofsky und Computergrafiken: Regression in virtuellen Welten

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Das letzte ästhetische Prinzip virtueller Welten, dem ich mich zuwenden will, kann folgendermaßen zusammengefaßt werden: virtuelle Welten sind keine wirklichen Räume, sondern Zusammenstellungen von unterschiedlichen Objekten. Es gibt, anders ausgedrückt, im Cyberspace keinen Raum.

- Um diese These zu erläutern, lassen sich die von Kunsthistorikern zu Beginn dieses Jahrhunderts entwickelten Kategorien heranziehen. Die Begründer der modernen Kunstgeschichte (Alois Riegl, Heinrich Wölfflin und Erwin Panofsky) definierten ihr Forschungsgebiet als die Geschichte der Raumdarstellung. Da sie sich innerhalb der Paradigmen einer zyklischen Kulturentwicklung und einer Rassentopologie bewegten, bezogen sie die Raumdarstellung in der Kunst auf den Geist ganzer Epochen, Zivilisationen und Rassen. In seinem 1901 erschienenen Buch "Die spätrömische Kunstindustrie" charakterisierte Riegl die Kulturentwicklung der Menschheit als Oszillation zwischen zwei extremen Polen, zwischen zwei Weisen, den Raum zu verstehen, die er als "haptisch" und als "optisch" bezeichnete. Haptische Wahrnehmung isoliert den Gegenstand im Raum als eine diskrete Entität, während die optische Wahrnehmung die Gegenstände in einem räumlichen Kontinuum vereint. Ähnlich behauptete Riegls Zeitgenosse, Heinrich Wölfflin, daß das Temperament einer geschichtlichen Periode oder einer Nation sich selbst in einer bestimmten Weise zum Ausdruck bringt, den Raum zu sehen und darzustellen. Wölfflins "Prinzipien der Kunstgeschichte" (1913) zeichnete die Unterschiede zwischen Renaissance und Barock in fünf Dimensionen ein: zeichnerisch - malerisch; flach - tief; geschlossene Form - offene Form; Vielheit - Einheit; Klarheit - Unklarkeit. Schließlich setzte Erwin Panofsky, ein weiterer Begründer der modernen Kunstgeschichte, den "zusammengesetzten" Raum der Griechen dem "systemischen" Raum der italienischen Renaissance in seinem berühmten Aufsatz "Die Perspektive als symbolische Form"(1924-25) gegenüber. Panofsky zog eine Parallele zwischen der Geschichte der Raumdarstellung und der Evolution des abstrakten Denkens. Die Raumdarstellung bewegt sich vom Raum individueller Gegenstände in der Antike zu einer kontinuierlichen und systematischen Raumdarstellung in der Moderne, vom "zusammengesetzten" Raum zum "systematischen" in Panofskys Neologismen. Damit korrespondierend schreitet die Entwicklung des abstrakten Denkens vom Verständnis des Raums der antiken Philosophie als einem diskontinuierlichen zu dem der Post-Renaissance als einem unendlichen, ontologisch im Verhältnis zu den Körpern primären, gleichförmigen und isotropen, kurz: zum "systematischen" Raum fort.

- Wir müssen großen evolutionären Schemata keinen Glauben schenken, aber wir können die Kategorien selbst zurückbehalten. Welche Art von Raum ist der virtuelle Raum? Auf den ersten Blick stellen 3D-Computergrafiken, die grundlegende Technologie für die Erschaffung von virtuellen Räumen, ein Beispiel für das Verständnis Panofskys vom "systematischen" Raum der Renaissance dar, der logisch vor den Gegenständen existiert. Das cartesianische Koordinatensystem ist tatsächlich fest in die Software für Computergrafiken und oft in die Hardware selbst eingebaut. Wenn ein Designer ein Modellierungsprogramm startet, ist er normalerweise mit einem leeren Raum konfrontiert, der von einem perspektivischen Raster definiert wird, mit einem Raum, der schrittweise mit den Gegenständen angefüllt wird, die er erzeugt. Wenn die eingebaute Botschaft eines Synthesizers eine Sinuswelle ist, dann ist die eingebaute Welt der Computergrafiken ein leerer Raum der Renaissance, das Koordinatensystem selbst.

- Aber computergenerierte Welten sind in der Wirklichkeit eher "haptisch" und "zusammengesetzt" als "optisch" und "systematisch". Die gebräuchlichste Technik der 3D-Computergrafik zur Erzeugung von 3D-Welten ist das Modellieren von Polygonen. Die mit dieser Technik geschaffene virtuelle Welt ist ein Vakuum, das mit unterschiedlichen, durch starre Grenzen definierten Gegenständen gefüllt wird. Eine perspektivische Projektion erzeugt die Illusion, als ob diese Gegenstände zusammengehören würden, aber sie haben in Wirklichkeit keinerlei Verbindung untereinander. Es fehlt der Raum im Sinne einer räumlichen Umwelt oder eines räumlichen Mediums: die Umwelt zwischen den Gegenständen, eine Atmosphäre, die alles miteinander verbindet, die Wechselwirkungen zwischen jedem einzelnen Gegenstand.

- Auch eine weitere grundlegende Technik, die bei der Erzeugung von virtuellen Welten zum Einsatz kommt - das Compositing (superimposing, keying) -, führt zu einem "zusammengesetzten" Raum. Sie besteht in der Überlagerung von animierten Charakteren, Einzelbildern, Quicktime-Filmen und anderen grafischen Elementen über einen davon unabhängigen Hintergrund. Ein dafür typisches Szenario ist ein Avatar, der in Echtzeit in Reaktion auf die Befehle des Benutzers animiert wird. Der Avatar ist über ein Bild des Raums gelegt. Ein Avatar wird vom Benutzer gesteuert, während ein Bild des Raums von einem virtuellen Weltkonstrukteur beigesteuert wird. Weil diese Elemente aus unterschiedlichen Quellen stammen und in Echtzeit zusammengeführt werden, ist das Ergebnis eher ein Folge von 2D-Bildern als eine wirkliche 3D-Umwelt.

- Obgleich computergenerierte virtuelle Welten normalerweise in linearer Perspektive dargestellt werden, sind sie in Wirklichkeit nur Anhäufungen von unterschiedlichen Gegenständen, die miteinander nicht verbunden sind. Aus diesem Grund erweisen sich weitverbreitete Argumente, die behaupten, daß 3D-Computergrafiken uns wieder an die perspektivische Sicht der Renaissance binden und die deshalb regressiv seien, als unbegründet. Wenn wir das evolutionäre Paradigma von Panofsky auf die Geschichte des virtuellen Computerraums anwenden würden, dann hat dieser noch nicht einmal die Renaissance erreicht. Er befindet sich noch immer auf dem Stand der griechischen Antike, die den Raum nicht als Ganzheit verstehen konnte.

- Und wenn das WorldWideWeb und VRML 1.0 überhaupt Indizien sein sollen, dann nähern wir uns nicht dem systematischen Raum, sondern dann wird der "zusammengesetzte" Raum metaphorisch und buchstäblich zu einer neuen Norm. Prinzipiell kann der "Raum" des Web nicht als kohärente Ganzheit verstanden werden: er ist eine Ansammlung von zahlreichen, miteinander stark durch Links verbundenen Files, aber ohne übergreifende "Perspektive", die sie vereint. Dasselbe gilt für 3D-Räume im Internet. Ein VRML-File, das eine 3D-Szene beschreibt, ist eine Liste von unterschiedlichen Objekten, die irgendwo auf dem Internet sein können und jeweils von einer anderen Person oder einem anderen Programm erzeugt wurden. Die Objekte haben keine Verbindung untereinander. Und vielleicht kennt sogar niemand die ganze Struktur der Szene, da jeder Benutzer Objekte hinzufügen oder löschen kann.

- Das Web wurde bereits mit dem amerikanischen Wilden Westen verglichen. Das verräumlichte Web, wie es durch VRML (selbst ein kalifornisches Produkt) anvisiert wird, spiegelt den Umgang mit dem Raum in der amerikanischen Kultur noch stärker wider: den Mangel an Aufmerksamkeit gegenüber dem Raum, der nicht funktional benutzt wird. Das Gelände zwischen Häusern in Privatbesitz und Geschäftsniederlassungen ist dem Verfall preisgegeben. Das VRML-Universum enthält nicht einmal einen Raum als solchen, sondern lediglich Objekte, die verschiedenen Individuen gehören.

- Und was ist ein Objekt in der virtuellen Welt? Etwas, mit dem man etwas machen kann, das angeklickt, bewegt, geöffnet, kurz: gebraucht werden kann. Man ist versucht, das als eine Regression auf die Weltsicht eines Kindes zu deuten. Ein Kind stellt sich das Universum nicht als unabhängig von ihm existierend vor, es erscheint als eine Ansammlung von unverbundenen Objekten, mit denen es in Kontakt treten, die es berühren, belutschen, ergreifen kann. Auf ähnliche Weise versucht der Benutzer einer virtuellen Welt, auf alles zu klicken, was sich vor ihm befindet. Wenn die Objekte nicht reagieren, ist er enttäuscht. Im virtuellen Universum läßt sich die Maxime von Descartes folgendermaßen umschreiben: "Ich kann angeklickt werden, also bin ich."