Virtuelle Welten

Seite 7: 5. Das ganze Bild

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Ich habe verschiedene ästhetische Merkmale der virtuellen 3D-Welten diskutiert. Doch wie würde eine künftige, völlig ausgebaute Welt aussehen? Welche durchgängige Gestalt würde sie haben?

- Ein Beispiel für eine virtuelle Welt mit vielen Details, ausgestattet mit Landschaften und Menschen, ist Disneys Toy Story (1995), der erste vollständig computeranimierte Film in Spielfilmlänge. Das ist eine erschreckend sterile Welt, in der sich die Spielzeuge und die Menschen völlig gleichen, wobei letztere als makabre Automaten erscheinen.

- Wenn Sie den Cyberspace der Zukunft schon heute sehen wollen, dann besuchen den Ort, an dem "Toy Story" gemacht worden ist - Los Angeles. Die Stadt stellt ein genaues Modell für die virtuelle Welt dar. Es gibt kein Zentrum, keinen Hinweis auf irgendeine zentralisierte Organisation, keine Spuren einer Hierarchie, wie dies für herkömmliche Städte wesentlich war. Man fährt zu bestimmten Orten, die nicht durch räumliche Gegebenheiten, sondern einzig durch ihre Adresse definiert sind. Ein modisches Restaurant oder ein Club können sich irgendwo befinden, inmitten von Meilen völlig unauffälliger Gebäude. Die ganz Stadt sieht wie eine Reihe bestimmter Punkte aus, die in einem Vakuum schweben und dem Bookmark File von Webseiten ähneln. Bei Ankunft an jedem Ort muß man, wieder wie im Web, zahlen. Hier begegnet man den modischen Einwohnern (Schauspielern, Sängern, Models, Produzenten), die wie eine neue Rasse, wie das Ergebnis einer erfolgreichen Mutation aussehen: mit unglaublich schöner Haut und schönen Gesichtern, mit einem geronnenen Lächeln und mit Körpern, deren perfekte Formen bestimmt kein Resultat der menschlichen Evolution sein können. Sie kommen wahrscheinlich aus dem Viewpoint-Katalog für 3D-Models. Das sind keine Menschen, sondern Avatars: wunderschön gerendert, ohne ein Polygon auszulassen, gestaltet nach der letzten Mode und nur dazu imstande, eine begrenzte Menge an Gesichtsausdrücken hervorzubringen. Geht man von der potentiellen Bedeutung jeden kommunikativen Kontaktes aus, dann wird Subtilität nicht toleriert. Avatars sind so gestaltet, daß sie in dem Augenblick einen Stimulus aussenden, in dem man ihn bemerkt und bevor man noch Zeit hat, die nächste Szene anzuklicken.

- Der geeignetste Ort, die ganze Gestalt wahrzunehmen, ist eines der Straßencafes auf der Sunset Plaza in West Hollywood. Die Avatars nippen inmitten der Illusion eines 3D-Raumes an ihrem Cappucino. Der Raum ist ganz offensichtlich das Ergebnis einer schnellen kompositorischen Arbeit: im Vordergrund Tische und die mit Airbrush gemachte Innenausstattung eines Cafés und im Hintergrund ein detailliert gemaltes Bild von Los Angeles mit einer durch übersteigerten Perspektive. Die Avatars erstarren in Posen, während sie auf ihre Agenten warten (ja, genau wie im Cyberspace), die wertvolle Informationen bringen. Ältere Kunden schauen sogar noch in höherem Maße computergeneriert aus, da ihre Gesichter die Spuren von umfangreichen Face-Liftings zeigen. Man kann sich an der Szenerie erfreuen und alle zwanzig Minuten die Parkuhr füttern.

- Eine virtuelle Welt wartet auf Sie. Wir brauchen nur Ihre Kreditkartennummer.

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer