Virtuelle Welten

Seite 4: 2. Romantizismus, Adorno und Photoshop-Filter: von der Kreation zur Selektion.

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Die Modelle von Viewpoint Datalabs geben ein Beispiel für ein anderes Merkmal virtueller Welten: sie werden nicht ganz neu geschaffen, sondern aus fertigen Teilen zusammengesetzt. In der digitalen Kultur wurde, anders ausgedrückt, die Kreation durch Selektion ersetzt.

- Der Begriff eines repräsentationalen Schemas von Ernst Gombrich und Roland Barthes' "Tod des Autors" helfen uns, vom romantischen Ideal des Künstlers abzurücken, der alles von Grund auf neu erschafft, indem er Bilder direkt aus seiner Einbildungskraft hervorholt. "Der Text", so formuliert es Barthes, "ist ein Zitatgeflecht, das aus unzähligen Kulturzentren stammt." Aber auch wenn ein moderner Künstler nur bereits bestehende Texte oder Idiome reproduziert oder bestenfalls auf neue Weisen kombiniert, so unterstützt der materielle Prozeß des Kunstmachens doch das romantische Ideal. Ein Künstler handelt wie Gott, der das Universum erschafft - er beginnt mit einer leeren Leinwand oder einem weißen Blatt. Indem er nach und nach die Details einträgt, läßt er eine neue Welt entstehen.

- Solch ein handwerklicher und mühselig langsamer Prozeß des Kunstmachens war für das Zeitalter der vorindustriellen künstlerischen Kultur angemessen. Als im 20. Jahrhundert der Rest der Kultur zur Massenproduktion und Automatisierung überging und buchstäblich zur "Kulturindustrie" wurde, beharrte Kunst auf ihrem Modell des Kunsthandwerks. Nur zwischen 1910 und 1920, als einige Künstler damit anfingen, Collagen und Montagen aus bereits existierenden kulturellen "Teilen" zusammenzusetzen, wurde in die industrielle Produktionsmethode Kunst eingeführt.

- Im Gegensatz dazu war die Grundlage der elektronischen Kunst ein neues Prinzip: die Veränderung eines bereits existierenden Signals. Das erste, 1920 vom legendär gewordenen russischen Wissenschaftler und Künstler Leon Theremin gebaute elektronische Instrument enthielt einen Generator, der eine Sinuswelle erzeugte. Der Aufführende modifizierte einfach ihre Frequenz und Amplitude. In den sechziger Jahren begannen Videokünstler Videosynthesizer zu bauen, die auf demselben Prinzip basierten. Der Künstler war kein romantisches Genie mehr, der nur aus seiner Einbildungskraft heraus eine neue Welt erzeugte, er wurde zu einem Techniker, der hier einen Knopf drückte und dort einen Schalter umlegte - ein Anhängsel der Maschine.

- Wenn man eine einfache Sinuswelle durch ein komplexeres Signal ersetzt (Töne, Rhythmen, Melodien), wenn man ein ganzes Arsenal von Signalgeneratoren hinzufügt, dann ist man beim modernen Synthesizer angekommen, dem ersten Instrument, das die Logik aller neuen Medien verkörpert: keine Kreation, nur Selektion.

- Die ersten Syntheziser kamen in der Musik in den fünfziger Jahren auf. Darauf folgten in den sechziger Jahren die Videosyntheziser und in den späten siebziger Jahren die Digital Video Effects (DVE) - die Effektdatenbanken, die von Videoproduzenten benutzt werden. Danach kam die Software, beispielsweise 1984 MacDraw, die ein Repertoire von elementaren Formen enthielten. Der Prozeß des Kunstmachens hat schließlich das moderne Zeitalter eingeholt. Es wurde mit dem Rest der modernen Gesellschaft synchronisiert, in der alles aus vorfabrizierten Teilen zusammengebaut wird - von Gegenständen bis hin zu den Identitäten der Menschen.

Das moderne Subjekt schreitet durch das Leben, indem es aus zahlreichen Menüs und Themenkatalogen auswählt, gleich ob es sein Aussehen zusammenstellt, seine Wohnung einrichtet, aus der Speisekarte eines Restaurants sein Menü auswählt oder entscheidet, welcher Interessensgruppe es sich anschließt. Ähnlich wie bei den elektronischen und digitalen Medien besteht Kunstmachen in der Auswahl aus vorgefertigten Elementen: aus Texturen und Ikonen, die ein Malprogramm zur Verfügung stellt, aus 3D-Modellen, die mit einem 3D-Modellierungsprogramm geliefert werden, aus Melodien und Rhythmen, die in ein Musikprogramm eingebaut sind.

- Während der große Text der Kultur, aus dem der Künstler sein eigenes einzigartiges "Zitatgeflecht" erzeugte, bislang irgendwo unterhalb des Bewußtseins blubberte und schimmerte, wurde er jetzt externalisiert (und in diesem Prozeß weitgehend reduziert): 2D-Gegenstände, 3D-Modelle, Texturen, Übergänge, Effekte sind verfügbar, sobald der Künstler seinen Computer anschaltet. Das WorldWideWeb hebt diesen Prozeß auf die nächste Stufe, denn es unterstützt die Erzeugung von Texten, die vollständig aus Verweisen auf anderen, bereits auf dem Web existierenden Texten bestehen. Man muß keinerlei neuen Inhalt hinzufügen, es genügt, aus dem auszuwählen, was es bereits gibt.

- Der Übergang von der Kreation zur Selektion wird besonders in der 3D-Computergrafik deutlich, der wichtigsten Technik zur Schaffung von virtuellen Welten. Die Arbeit, die man zur Konstruktion einer von Grund auf neuen dreidimensionalen Realität leisten muß, macht es schwer, der Versuchung zu widerstehen, bereits zusammengesetzte, standardisierte Gegenstände, Charaktere und Verhaltensweisen zu gebrauchen, die von den Softwareherstellern angeboten werden: fraktale Landschaften, Böden aus Schachbrettmustern, vollständige Charaktere usw. Jedes Programm bietet Datenbanken von gebrauchsfertigen Modellen, Effekten oder sogar ganzen Animationen. Ein Benutzer des Programms Dynamation (ein Bestandteil der bekannten Wavefront 3D-Software) gibt beispielsweise mit einem Mausklick Zugriff auf vorfabrizierte Animationen von Haaren, Regen, Rauch und dem Schweif eines Kometen in Bewegung.

- Wenn selbst professionelle Designer vorfabrizierte Gegenstände und Animationen gebrauchen, dann hat der Endverbraucher von virtuellen Welten, der normalerweise keine Kenntnisse in der Grafik oder der Programmierung besitzt, keine andere Wahl. Daher ist es nicht überraschend, wenn Anbieter von Web chat lines oder virtuellen Welten die Benutzer darin bestärken, aus den von ihnen angebotenen Datenbanken an Bildern, 3D-Gegenständen und Avatars auszuwählen. Ubique's Site weist auf Ubique Furniture Gallery hin, in der man sich Bilder unter solchen Kategorien wie "Büroeinrichtung", "Computer und Elektronik" und "menschliche Ikons" auswählen kann. VR-SIG aus England bietet einen Supermarkt für VRML-Gegenständen an, während Aereal eine Virtual World Factory zur Verfügung stellt. Letztere will die Schaffung einer maßgeschneiderten virtuellen Welt besonders einfach machen: "Schaffen Sie sich Ihre persönliche Welt, ohne selbst programmieren zu müssen! Sie müssen lediglich die leeren Stellen ausfüllen und dann entspringt Ihre Welt!" Schon bald werden wir einen richtigen Markt für detaillierte virtuelle Szenarien, Charaktere mit programmierbaren Verhaltensweisen und sogar ganzen Welten haben (eine Bar mit Gästen, eine Straße in der Stadt, eine berühmte historische Episode etc.), woraus ein Benutzer seine eigene "einzigartige" virtuelle Welt zusammenstellen kann.

- Wenn vor hundert Jahren der Benutzer einer Kodakkamera aufgefordert wurde, nur einen Knopf zu drücken, so hatte er noch immer die Freiheit, die Kamera auf irgend etwas zu richten. Jetzt aber wurde der Slogan "You push the button, we do the rest" zu "You push the button, we create your world".