Virtuelle Welten

Seite 5: 3. Brecht als Hardware

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Ein weiteres Merkmal von virtuellen Welten besteht aus ihrer spezifischen Zeitdynamik: aus ihren konstanten, sich wiederholenden Übergängen zwischen einer Illusion und ihrer Suspension. Virtuelle Welten lassen uns ihre Künstlichkeit, Unvollständigkeit und Konstruiertheit nicht vergessen. Sie bieten uns eine perfekte Illusion nur an, um die darunter sich befindende Maschinerie zu enthüllen.

- Das Surfen im Web ist dafür ein vollendetes Beispiel. Ein normaler Benutzer kann dieselbe Zeit aufwenden, um sich eine Seite anzusehen und auf das Herunterladen der nächsten Seite zu warten. Während der Wartezeiten wird der Kommunikationsakt selbst - die Bits, die durch ein Netzwerk reisen - zur Botschaft. Der Benutzer ist mit dem Prüfen beschäftigt, ob die Verbindung hergestellt wurde, indem er zwischen dem angeklickten Ikon und der Statusleiste hin und her schaut. Wenn man Roman Jakobsons Modell der Kommunikationsfunktionen verwendet, dann kann man sagen, daß die Kommunikation vom Kontakt oder von der phatischen Funktion beherrscht wird. Sie zentriert sich um den materiellen Kanal und den eigentlichen Akt der Verbindung zwischen dem Sprecher und dem Angesprochenen.

- Jakobson schreibt über die verbale Kommunikation zwischen zwei Menschen, die sich ansprechen, um zu überprüfen, ob der Kanal funktioniert: "Hören Sie mich?", "Verstehen Sie mich?" Doch in der Web-Kommunikation gibt es keinen menschlichen Sprecher, sondern nur eine Maschine. Während der Benutzer also prüft, ob die Information kommt, richtet er sich an die Maschine selbst oder, besser, die Maschine richtet sich an den Benutzer. Die Maschine offenbart sich selbst, sie erinnert den Benutzer an ihre Existenz - nicht nur, weil der Benutzer warten muß, sondern auch, weil er beobachten muß, wie die Botschaft über die Zeit hinweg zustandekommt. Eine Seite füllt sich Stück für Stück auf, von oben nach unten, der Text kommt vor den Bildern, Bilder kommen in geringer Auflösung und werden stufenweise verfeinert. Schließlich kommt alles in einem Bild zusammen, das mit dem nächsten Klick zerstört wird.

- Wird diese Zeitdynamik jemals verschwinden? Wird das verräumlichte Netz zu einer perfekten utopischen Stadt, anstatt ein gigantischer Bauplatz zu bleiben?

- Eine Untersuchung von bereits existierenden virtuellen 3D-Welten weist in die Richtung einer negative Beantwortung dieser Frage. Nehmen wir die Technik, die man "distancing" oder "level of detail" nennt. Sie wurde seit Jahren bei VR-Simulationen eingesetzt und jetzt auf 3D-Spiele und VRML-Szenen übertragen. Die Idee ist, die Modelle weniger ausgefeilt darzustellen, wenn sich der Benutzer durch den virtuellen Raum bewegt, und stufenweise Details aufzubauen, wenn er anhält. Eine andere Variation derselben Technik erzeugt eine Reihe von Modellen desselben Objekts mit zunehmend geringerer Detailschärfe. Wenn die virtuelle Kamera nahe an einem Objekt ist, wird ein hochaufgelöstes Modell gebraucht; wenn das Objekt weit entfernt ist, dann wird es durch eine weniger detailreiche Version ersetzt, um unnötige Rechenzeit zu vermeiden.

- Eine auf solchen Techniken basierende virtuelle Welt besitzt eine flüchtige Ontologie, die durch die Handlungen des Benutzers bestimmt wird. Wenn der Benutzer durch den Raum navigiert, schwingen die Objekte zwischen blassen Umrissen und ganz verkörperten Illusionen hin und her. Die Unbeweglichkeit des Subjekts garantiert eine vollständige Illusion, während die leichteste Bewegung diese zerstört.

- Wenn man durch einen Quicktime VR-Film steuert, findet man sich in einer ähnlichen Dynamik. Im Gegensatz zum Panorama des 19. Jahrhunderts, das von diesem weitgehend emuliert wird, dekonstruiert die Quicktime VR ihre eigene Illusion. Sobald man sich durch die Szene bewegt, wird das Bild wackelig. Und wenn man versucht, in das Bild hineinzuzoomen, erhält man nur übergroße Pixels. Die Darstellungsmaschine schwankt immer zwischen dem Zustand, sich zu verbergen und sich zu offenbaren.

- Man vergleiche diese Dynamik mit dem herkömmlichen Kino oder dem realistischen Theater, die mit allen Mitteln die Kontinuität der Illusion für die Dauer der Vorführung aufrechterhalten wollen. Im Gegensatz zu einem derartigen totalisierenden Realismus hat die digitale Ästhetik eine überraschende Affinität zur Ästhetik der linken Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Bertolt Brechts Strategie, die Bedingungen der Produktion einer Illusion aufzudecken, fand ihr Echo bei zahllosen anderen linken Künstlern und wurde jetzt in die Hardware und Software selbst eingebettet. Auf ähnliche Weise fand auch Walter Benjamins Konzept einer "Wahrnehmung im Zustand der Zerstreuung" eine perfekte Realisierung. Das periodische Wiederauftauchen der Maschinerie, die kontinuierliche Präsenz des Kommunikationskanals in der Botschaft halten das Subjekt davon ab, für lange Zeit in der Traumwelt der Illusion zu versinken, indem er zwischen Konzentration und Entspannung hin- und herschwankt.

- Während die virtuelle Maschinerie selbst bereits als ein Avantgarde-Regisseur handelt, versuchen die Gestalter der interaktiven Medien (Spiele, CD-ROM-Produkte, interaktiver Film und interaktive Fernsehprogramme) oft bewußt, die zeitliche Erfahrung des Subjekts als eine Serie von periodischen Übergängen zu strukturieren. Das Subjekt wird gezwungen, zwischen den Rollen des Zuschauers und des Benutzers zu oszillieren und zwischen Wahrnehmen und Handeln, zwischen dem Verfolgen der Geschichte und dem aktiven Partizipieren an dieser überzugehen. Während eines Abschnittes zeigt der Computerbildschirm dem Zuschauer eine mitreißende filmische Handlung. Plötzlich friert das Bild ein, erscheinen Menüs und Icons und muß der Zuschauer handeln: er muß Entscheidungen treffen, klicken, Knöpfe drücken. (Der russische Medientheoretiker Anataly Prokhorov beschreibt diesen Prozeß als Übergang vom transparenten zum opaken Bildschirm, von einem Fenster in ein fiktionales 3D-Universum zu einer festen Oberfläche, angefüllt mit Menüs, Kontrollangaben, Text und Icons. Der dreidimensionale Raum wird zu einer Oberfläche, eine Fotografie zu einem Diagramm, ein Charakter zu einem Icon.)

- Können Brecht und Hollywood eine Verbindung eingehen? Ist es möglich, eine neue zeitliche Ästhetik zu schaffen, die auf solchen zyklischen Übergängen beruht? Bislang kann ich dafür nur ein erfolgreiches Beispiel anführen: einen militärischen Simulator, die einzig ausgereifte Form interaktiver Medien. Er verschmilzt auf perfekte Weise Wahrnehmung und Handlung, filmischen Realismus und Computermenüs. Der Bildschirm zeigt dem Subjekt eine illusionistische virtuelle Welt und fordert periodisch schnelle Handlungen: auf einen Feind zu schießen, die Richtung eines Fahrzeugs zu verändern usw. In dieser Kunstform verschmelzen die Rollen eines Zuschauers und eines Handelnden auf perfekte Weise. Doch dafür muß man einen Preis zahlen. Die Erzählung ist auf ein einziges und klar definiertes Ziel hin organisiert: am Leben zu bleiben.