Von der Immobilienspekulation zum Zusammenbruch der globalen Defizitkonjunktur

Seite 5: Im Land der Fantastillionen - Die Ausmaße des Finanzkapitalismus

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Die globale Defizitkonjunktur lebte, wie beschrieben, als Anhängsel der explosionsartig wachsenden Finanzmärkte, sie bildete sozusagen deren Wurmfortsatz. Dieses oberflächlich betrachtet unwahrscheinliche Verhältnis zwischen der globalen, realen Wirtschaft und der Finanzsphäre war nur aufgrund der astronomischen Dimensionen möglich, in welche die permanent wuchernden und mutierenden Finanzmärkte vorstießen.

Doch bevor wir uns an eine Quantifizierung der Finanzkapitalismus machen, sollte noch die innere Struktur dieser Expansionsbewegung des Finanzkapitals geklärt werden. Wie schon erwähnt, werden reale, die Form von Waren annehmende Werte nur vermittels der Verausgabung menschlicher Arbeitskraft erzeugt, so dass innerhalb der Finanzbranche eigentlich kein neues Kapital, keine neuen Werte erzeugt werden können - es handelt sich um ein Nullsummenspiel, bei dem der Reichtum den Besitzer wechseln kann, aber kein neuer entsteht. Woher also die Expansion der Finanzmärkte?

Die Finanzmärkte brauchen immer neuen "Brennstoff" an frischem Kapital, um ihr Wachstum, um die besagte "Finanzexplosion" aufrecht erhalten zu können. Im Zuge der neolibaralen Reformen strömte seit den 1980er Jahren Kapital aus der realen Wirtschaft in den Finanzsektor, da dort höhere Gewinne realisiert werden konnten. Später, ab der Popularisierung der Börsenspekulation in den 1990ern, investierte auch die Mittelklasse ihre Ersparnisse zunehmend in Aktien und Wertpapieren. Die wachsende soziale Spaltung in nahezu allen Volkswirtschaften führte zu einer raschen Vermehrung wohlhabender "Investoren", die sich ebenfalls auf den Finanzmärkten engagierten. Die Privatisierung der Sozialsysteme verschaffte der Finanzbranche einen weiteren Wachstumsschub, da nun beispielsweise die Rentenfonds im Finanzsektor auf Renditejagd gingen. Schließlich bildete die Verschuldung von Privathaushalten den Unternehmen und dem Staat eine weitere Einnahmequelle für das Finanzkapital.

Voraussetzung dieser massiven Verschuldung war eine Politik niedriger Zinsen, die Kreditvergaben erleichterte. Im Endeffekt war es also gerade die im vorletzten Kapitel ("Löschen mit Benzin") geschilderte expansive Geldpolitik der Fed, die als der wichtigste Brennstoff der Finanzmärkte fungierte. Durch niedrige Zinsen und der damit einhergehenden Erweiterung der Geldmenge wurde anscheinend "Reichtum per Knopfdruck", allein durch Betätigung der Notenpressen, geschaffen, da der Dollar durch die Aufhebung der Goldbindung zu "seinem eigenen Gold" wurde.

Es wurde so eine creatio ex nihilo, eine "Erschaffung aus dem Nichts" von rein fiktiven - da durch keine Wertschöpfung in realer Produktion gedeckten - Kapital vollführt. Diese Voodoo-Ökonomie flankierte die galoppierende Verschuldung und führte maßgeblich - ähnlich der Inflation der Immobilienpreise - zu einer Inflation von Aktienpreisen und Wertpapieren aller Art. Die Ausmaße dieses aufgeblähten, finanzkapitalistischen Wasserkopfes, der auf der realen Ökonomie fußte und diese am Leben erhielt, sind in der Tat "astronomisch", wie es der Philosoph István Mészáros bei einer Veranstaltung jüngst ausdrückte (Video):

Wie können wir uns all diese Billionen vorstellen? Eine Billion Jahre, das ist schon das hundertfache des Alters unseres Universums. Das zeigt doch, worüber wir hier sprechen, wir sprechen hier nicht über die Währung einer Bananenrepublik, sondern über den allmächtigen US-Dollar, über die bevorzugte Währung aller wichtigen Transaktionen. Wie viel spekulativen Geldes bewegt sich nun um den Globus? Laut einer Analyse der Mitsubishi UFJ Asset Management Gruppe beträgt das Ausmaß der realen Ökonomie, in der Waren und Dienstleistungen gehandelt werden, 48,1 Billionen Dollar. Auf der anderen Seite, beträgt die Größe der globalen Finanzökonomie, die totale Menge an Aktien, Sicherheiten und Depositien, 151,8 Billionen US-Dollar. Die Finanzwirtschaft ist so auf mehr als die dreifache Größe der realen Ökonomie angeschwollen. ... Die Krise von 1929 ist relativ klein im Vergleich zu dem, was wir heute haben.

István Mészáros

Tatsächlich scheint es geboten, die eigentlich unvorstellbaren Dimensionen des Finanzkapitalismus am besten in Relation zur realen Ökonomie erfassen. Das Verhältnis zwischen dem Gesamtumsatz der US-Finanzmärkte und dem Bruttonationaleinkommen der Vereinigten Staaten ist in diesem Zusammenhang besonders erhellend für die in den letzten Dekaden voranschreitende, "finanzielle Explosion". So entsprach das amerikanische BNE in 1960 noch 66,2 Prozent aller Umsätze der US-Finanzmärkte. In 1970 fiel dieser Anteil auf 37,8 Prozent, in 1980 15,7 und ein Jahrzehnt später waren es nur noch 2,6 Prozent. Im Jahr 2000 betrug die Summe aller in einem Jahr hergestellten Güter und Dienstleistungen der größten Volkswirtschaft der Welt gerade einmal 1,9 Prozent der Umsätze der US-Finanzmärkte! Damit wird deutlich, wie sehr auch die spekulative Bewegung im Zuge des Finanzkapitalismus zunahm. Bei diesen Relationen ist es kein Wunder, dass der "Wealth Effect", die "paar Cent pro Dollar" fiktiver Wertsteigerung, die in die reale Ökonomie gingen, diese auch am Laufen erhalten konnte. Die mit der Kreation und Verbreitung von Derivaten einhergehende Explosion zog sich durch alle Bereiche des Finanzsektors, wie der Soziologe John Bellamy Foster erläuterte:

Der durchschnittliche tägliche Umsatz bei Devisentransaktionen steig von 570 Milliarden Dollar in 1989 auf 2,7 Billionen in 2006. Seit 2001 wuchs der globale Markt für Derivate (der globale Markt für Instrumente zum Risikotransfer) um über 100 Prozent jährlich. Von relativ geringer Bedeutung zu beginn des Millennium, blähte sich der totale Nennwert der global gehandelten Kreditderivate auf 26 Billionen im ersten Halbjahr 2006 auf.

John Bellamy Foster

Nicht anders sieht es bei den im Finanzsektor und in der realen Ökonomie realisierten Gewinnen . Auch hier sind die Profite des Finanzkapitals mit drei Prozent des BNE längst höher als im produzierenden Gewerbe, dessen Gewinne bei zwei ProzentP liegen. Folgende Grafik verdeutlicht den langfristigen Anstieg des Anteils der im Finanzsektor erzielten Gewinne an den Gesamtprofiten in den USA, die im Zuge des sich entfaltenden Finanzkapitalismus von ca. 17 Prozent in 1985 auf nahezu 40 Prozent ansteigen:

Anteil der Profite des Finanzsektor an den Gesamtprofiten in den USA Grafik: Monthly Review

Ein wichtiger Hebel, mit dem solch stürmisch steigende Profite realisieren worden sind, bezeichnet man im Banker-Neusprech als "Leverage". Damit ist der Grad an Verschuldung gemeint, mit dem ein Marktteilnehmer operiert. Diese weit verbreitete Praxis des "Leverage" hatte ebenfalls die expansive Geldpolitik der Fed zu Voraussetzung, die nicht nur die Verschuldung der Privathaushalte beförderte, sondern auch innerhalb der Finanzbranche selber zum exzessiven Einsatz von Fremdkapital führte. Dank der Dollarflut konnten beispielsweise die Private-Equity-Firmen 2006 das 15-Fache des eigenen Kapitaleinsatzes mobilisieren.

Die Verschuldung konnte selbst bei Marktschwergewichten regelrecht absurde Dimensionen annehmen, wie István Mészáros am Beispiel der Hypothekenfinanzierer Fannie Mae und Freddie Mac illustriert. Demnach betrug das Eigenkapital beider Giganten des Immobilienmarktes 83,2 Milliarden US-Dollar gegen Ende 2007, wohingegen die Schulden, Garantien und sonstigen Verpflichtungen dieser Unternehmen sich auf 5,2 Billionen Dollar beliefen. Dies ist eine Relation zwischen Eigenkapital und Schulden von eins zu 65 - bei einem der wichtigsten und größten Hypothekenfinanzierer der Welt!

Anhand dieser Relationen müsste klar werden, welche Mengen an "heißer Luft", an von den Notenbanken vermittels Dollarflut generierten "fiktiven Kapital" in das Finanzsystem injiziert wurden. So absurd es scheint - es war diese "heiße Luft" allseitiger ausufernder Verschuldung, die das marode, spätkapitalistische Weltsystem am Laufen erhielt.

Exkurs: Unsere Potemkinschen Dörfer

Irgendwann reichten selbst die größten Injektionen an frischgedruckten US-Dollar nicht mehr aus, um die Fassade eines dynamischen kapitalistischen Systems aufrecht zu erhalten, so dass mit fortschreitender Finanzialisierung die Versuchung zunahm, der grauen Realität statistisch auf die Sprünge zu helfen. Wir haben schon die statistischen Verzerrungen der deutschen und amerikanischen Arbeitslosenquote kennengelernt, wie auch das zu einem Staatsgeheimnis avancierte Geldmengenwachstum in den USA. Das Statistik-Portal shadowstats.com zeigt aber noch die Manipulation bei der Inflationsrate,

Inflationsrate USA. Grafik: Shadowstats.com

sowie bei dem Wirtschaftswachstum auf.

Wirtschaftswachstum USA. Grafik: Shadowstats.com

Das Bild eines kerngesunden Kapitalismus verflüchtigt sich ganz schnell, sobald diese alternativen Daten in Betracht gezogen werden. Stattdessen scheint die bereits diskutierte These von der Stagnation der entwickelten kapitalistischen Gesellschaften an Plausibilität zu gewinnen.

In Deutschland sieht es im Übrigen nicht viel besser aus, da die "gefühlte Inflation" - die in Verkehrung dieses orwellschen Begriffs eigentlich als reale Inflation gelten müsste - immer oberhalb der "offiziellen" Inflationsrate liegt. Die Schönfärberei stieß mit Ausbruch der Finanzkrise in absurde Dimensionen vor, wie die kürzlich beschlossenen Änderungen bei den Bilanzregeln für die Bankenbranche beweisen. Künftig dürfen Banken und Versicherungen ihre Wertpapiere zum Kaufpreis verbuchen, und nicht zum aktuellen Marktpreis. Ein Teilnehmer des Welt-Forums kommentierte diese "Reform" der Bilanzierungsregeln treffend:

Was heute noch strafbar ist und zur Nichtigkeit der Bilanzen führt (§§ 256 Abs. 5 Nr. 1 AktG, 331 Nr. 1 HGB), nämlich die Überbewertung von Aktivposten, soll in Zukunft das Heil bringen? Nichts anderes ist nämlich die Bewertung zu Kaufkursen, wenn die Marktpreise darunter liegen. Oder ist es sinnvoll, dass ein Aktionär die Aktie der Deutschen Bank heute mit EUR 120, wie er die Aktie gekauft hat, bewertet, anstatt mit dem heutigen Börsenkurs von 30? Diese neuen Regelungen färben lediglich in drastischer Weise schön und werden dazu führen, dass längst bankrotte Unternehmen weitermachen dürfen. Marode Unternehmen werden an ihren Bilanzen nicht mehr zu erkennen sein. Damit ist der Grundstein für die nächste Katastrophe in zehn Jahren gelegt.

Solche desperaten "Reformen" erinnern frappierend an die Endphase der staatssozialistischen Länder, wie etwa der DDR oder der Sowjetunion. Deren offizielle Statistiken wiesen auch selbst noch 1985 unaufhörliche Wirtschaftserfolge aus, während die Volkswirtschaften tatsächlich in Stagnation versanken.