Von der Immobilienspekulation zum Zusammenbruch der globalen Defizitkonjunktur

Seite 6: Zusammenfassung und Ausblick

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Wir sind nun in der Lage, die anfangs gestellten Fragen nach den Ursachen der kommenden Weltwirtschaftskrise zu beantworten. Die Deregulierung der Finanzmärkte beförderte tatsächlich die "finanzielle Explosion" der letzten Jahrzehnte, doch haben gerade diese wild wuchernden Finanzmärkte die von Stagnation bedrohte reale Ökonomie am Laufen erhalten. Die "Gier" von Spekulanten nach dem höchstmöglichen Profit anzuprangern, ist ungefähr so sinnvoll, wie sich über den Gestank eines Misthaufens zu beschweren - beides liegt in der Natur der Sache. Die Jagd nach dem höchsten Profit, nach der Maximierung von Gewinnen vermittels Investitionen in Produktion oder Spekulation, bildet das innerste Wesen, den Selbstzweck des kapitalistischen Systems.

Die Eigenschaft des kapitalistischen Systems, die Kritiker wie Befürworter gleichermaßen fasziniert, ist die permanente, konkurrenzgetriebene Umwälzung der technischen Voraussetzungen der Produktion, der unaufhörliche Fortschritt der Produktionsmittel. Derjenige Unternehmer, der die neueste Technik in der Produktion anwenden kann, erwirtschaftet auch die höchsten Gewinne, indem mit weniger Menschen in kürzerer Zeit viel mehr Produkte hergestellt werden.

Diese permanent voranschreitende "Revolution der Produktivkräfte" bringt den Abbau von Beschäftigung in einem gegebenen Industriezweig mit sich. Solange neue Industriezweige weitere Beschäftigung kreieren, bleibt das Gesamtsystem im Gleichgewicht. Doch spätestens seit den 80ern löst die technische Revolution in der Mikroelektronik und Informationstechnik einen derartigen Produktivitätsschub aus, dass die Rechnung nun nicht mehr aufgeht. Automatisierung und Rationalisierung in der gesamten Wirtschaft machen viel mehr Arbeitsplätze überflüssig, als in der IT-Branche entstehen. "Autos kaufen keine Autos." Dies Henry Ford zugeschriebene Zitat, das eine nachfrageorientierte, keynesianische Politik impliziert, kann auf die heutige Situation nur bedingt angewendet werden, in der die Industriearbeiterschaft rapide sinkt und das Heer der Prekären und Arbeitslosen von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus anschwillt. Technischer Fortschritt der Produktivkräfte, die potentielle Grundlage einer allgemeinen Bedürfnisbefriedigung aller Gesellschaftsmitglieder, wandelt sich unter kapitalistischen Produktionsbedingungen zu einer Geißel der Menschheit, die Elend, Hunger, Marginalisierung bewirkt.

Somit entstehen Berge an unverkäuflichen Waren (Überproduktion), Unmengen an brachliegendem Kapital (Überakkumulation) und die ab den 70ern auftauchende Massenarbeitslosigkeit. Auf anscheinend magische Weise löst der Finanzkapitalismus mitsamt der sich etablierenden Blasenökonomie dieses spätkapitalistische Dilemma. Die wild wuchernden Finanzmärkte nehmen das überschüssige Kapital auf, die während der Boomphasen diverser Spekulationsblasen generierten Gewinne sorgen hingegen für kaufkräftige - aber auch fiktive, kreditfinanzierte - Nachfrage. Die globalen Defizitkreisläufe, mit den USA als einem sich immer weiter verschuldenden Zentrum, nehmen die Überschussproduktion von exportorientierten Ländern wie China, Japan oder auch Deutschland auf.

Mit dem Zusammenbruch der Immobilienblase kommen auch diese defizitgetriebenen, globalen Konjunkturkreisläufe zum Stillstand. Sie sollten angesichts der astronomischen Verschuldung, auf der sie im Endeffekt basierten, auch nicht mehr wieder in Gang gesetzt werden. Der Abbau des US-Schuldenberges scheint eigentlich nur durch eine Hyperinflation machbar. Was jetzt stattfindet, ist nichts weniger als eine fundamentale, strukturelle Krise des Zentrums des kapitalistischen Weltsystems. Die Industrie und die produzierende Wirtschaft sind auf sich selbst zurückgeworfen, da die stimulierenden Effekte des Finanzkapitalismus ausbleiben. Eine Überproduktionskrise von gigantischem Ausmaß kündigt sich an.

Ein "Zurück" zum bereits in den 70ern in der Krise befindlichen Keynesianismus, zu massiven Konjunkturprogrammen, wird ebenso wirkungslos bleiben, wie eine erneute Regulierung der Finanzmärkte. Genauso könnte man einem Krebskranken mit Hustenbonbons zu heilen versuchen. Der immer weiter fortschreitende wissenschaftlich-technische Fortschritt macht immer mehr Menschen in der Reproduktion unserer Gesellschaft "überflüssig", er führt zu der "Krise der Arbeitsgesellschaft". #

Der US-amerikanische Sozialwissenschaftler Immanuel Wallerstein beschrieb kürzlich diese "Ära des Übergangs" und wagte einen Ausblick auf die künftige Entwicklung des Weltsystems:

Die unmittelbaren Konsequenzen bestehen aus starken chaotischen Turbulenzen, die unser Weltsystem im Moment durchlebt und noch für vielleicht 20 bis 50 weitere Jahre durchleben wird. Während alle in die Richtung drücken, die sie als die derzeit vorteilhafteste ansehen, wird eine neue Ordnung aus dem Chaos auftauchen, die entlang eines oder zweier verschiedener Pfade verlaufen wird.

Wir können mit Zuversicht behaupten, dass das derzeitige System nicht überleben kann. Was wir nicht vorhersagen können, ist die Ordnung, die gewählt wird, um es zu ersetzen, weil dies ein Ergebnis von nahezu unendlichen individuellen Anstrengungen sein wird. Aber früher oder später wird ein neues System installiert werden. Es wird nicht das kapitalistische System sein, und es könnte auch viel schlimmer werden (sogar noch polarisierender und hierarchischer), oder auch viel besser (relativ demokratisch und relativ egalitär) als das derzeitige System. Die Auswahl eines neuen Systems ist der wichtigste globale politische Kampf unseres Zeitalters.

Immanuel Wallerstein

Eine Gnadenfrist für das in Agonie liegende, kapitalistische Weltsystem könnte noch das Heraufziehen einer neuen Schlüsseltechnologie bringen, die Massenbeschäftigung generieren und eine "lange Konjunkturwelle" im Sinne Kondratjews initiieren würde. Die klügsten US-Politiker sehen diese Möglichkeit in dem forcierten Ausbau regenerativer Energien, der mit einer umfassenden, arbeitsintensiven Transformation der gesamten energetischen Basis der Vereinigten Staaten einhergehen würde.