Warum Familienministerin Anne Spiegel zurücktreten musste

Hochwasser in Altenahr-Kreuzberg am 15. Juli 2021. Bild: Martin Seifert

Die Grünen-Politikerin versuchte noch die Flucht nach vorne – und scheiterte dann an sich selbst. Das lag auch an der Inszenierung. Ein (nach Rücktritt aktualisierter) Kommentar

Es gibt zwei Videos der nun als Bundesfamilienministerin zurückgetretenen Grünen-Politikerin Anne Spiegel, die im direkten Vergleich wichtige Erkenntnisse über die politische und mediale Kultur in diesem Land bieten. Das erste Video stammt vom 23. Juli vergangenen Jahres. Damals gab die inzwischen 41-Jährige dem SWR ein "Sommerinterview", ein wichtiges Thema war die Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz eine Woche zuvor. Spiegel gehörte dem Landeskabinett als Umweltministerin an.

Vor laufender Kamera zeigte sie sich erschüttert von dem Schicksal der Menschen, sie sei selbst mehrfach vor Ort gewesen. Keine 48 Stunden später brach sie mit ihrem Mann und den vier gemeinsamen Kindern in einen vierwöchigen Frankreich-Urlaub auf und ward auch im Kabinett – entgegen ihrer inzwischen korrigierten Darstellung – nicht mehr gesehen.

Hochwasserkatastrophe 2021 in Rheinland-Pfalz (8 Bilder)

Dernau nach der Hochwasserkatastrophe. Bild: GerritR / CC-BY-SA-4.0

Dieser Frankreich-Urlaub führte schließlich zu dem zweiten Fernsehauftritt, den Spiegel für den gestrigen Sonntagabend kurzfristig anberaumen ließ und den viele Medien heute als "denkwürdig" bezeichnen. Die Politikerin versuchte darin, die Flucht nach vorne und begründete ihren Langzeiturlaub mit der Überlastung ihres Mannes und der gemeinsamen Kinder. Sie führte Krankheit und Probleme durch die Coronakrise an.

Das war ein gewagter Schritt. Die Ex-Bundesministerin macht damit das Persönliche politisch und das Politische persönlich. Sie setzte auf Empathie, forderte sie mit ihrem verweigerten Rücktritt geradezu ein.

Deutlich machte das auch Spiegels grüner Parteifreund Sven Lehmann, dessen Posten als Staatssekretär im Zweifelsfall an das Schicksal der nun gescheiterten Ministerin gebunden ist. Er schrieb, an ihrem Beispiel werde auch verhandelt, "wie menschlich Politik sein darf".

Bild der berechnenden Berufspolitikerin schien durch

Haben Kritiker von Spiegel ihre Menschlichkeit also nicht erkannt? War die Kritik an ihr womöglich sogar unmenschlich? Nein, zweimal nein. Denn wenn man die Situation privater Überforderung von dem politischen Versagen trennt, wird einiges deutlicher. Die Mutter und Ehepartnerin Anne Spiegel hat Mitgefühl verdient, ebenso wie tausende andere Frauen (deren soziale Situation nach persönlichen Schicksalsschlägen und zwei Jahren Pandemie in den meisten Fällen keinen vierwöchigen Frankreich-Urlaub erlauben dürfte.)

Ganz anders zu bewerten aber war stets das Kabinettsmitglied Anne Spiegel. Die Kritik ihr in dieser Rolle stützte sich nicht nur auf eine Fehlentscheidung, sondern war eingebettet in das Bild einer berechnenden Berufspolitikerin, die zuletzt womöglich Privates in Waagschale warf, um sich politisch aus der Affäre zu ziehen.

Dazu zwei Details: Während im Ahrtal zwischen Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz noch nicht alle Leichen aus den Schlamm- und Schuttlawinen geborgen worden waren, versandte Spiegel am 15. Juli vergangenen Jahres eine Reihe von Kurznachrichten über ihr Handy, die später der Presse zugespielt wurden. Aus einigen dieser Nachrichten geht hervor, dass Anne Spiegel vor allem um eines besorgt war, um sich selbst:

Das Blame Game könnte sofort losgehen, wir brauchen ein Wording, dass wir rechtzeitig gewarnt haben, wir alle Daten immer transparent gemacht haben, ich im Kabinett gewarnt habe, was ohne unsere Präventionsmaßnahmen und Vorsorgemaßnahmen alles noch schlimmer geworden wäre etc.

Diese später von FAZ und Fokus in Teilen veröffentlichte Kommunikation brachte die damalige Landespolitikerin schon einmal in Bedrängnis und wirkt rückblickend fast noch schwerwiegender. Denn weder im Vorfeld hatte das Krisenmanagement funktioniert – noch in der unmittelbaren Katastrophenphase, noch im Nachgang: Bis heute warten viele Opfer auf die Entschädigung und wohnen in Notunterkünften.

Trotz Überforderung in die Bundespolitik?

Auch an einer weiteren Stelle, sprach Spiegels Argumentation nicht für sie: Am Sonntag gab sie an, schon durch die Übernahme des Ministeramtes in Rheinland-Pfalz und angesichts der schwierigen familiären Situation überfordert gewesen zu sein. Weshalb aber nahm sie dann noch den Posten als Bundesministerin an?

Wie man es auch dreht und wendet und länger man darüber nachdenkt: Weder in ihrer medialen Rolle als Mutter von vier Kindern und als Ehefrau – in der sie sich ja ausdrücklich inszeniert! –, noch als Ressortchefin auf Bundesebene konnte Spiegel durch ihren Auftritt punkten.

Und wie ehrlich die vermeintliche Transparenzinitiative vom Sonntagabend gemeint war, zeigt sich zu Wochenbeginn: Die Bundesministerin ließ weitere Anfragen nach Agenturangaben unbeantwortet, um wenige Stunden später "auf politischen Druck" hin ihr Amt zu räumen.

Wie aus einem epischen Lehrstück von Bertolt Brecht wirkt das Ende des letzten großen Auftritts von Anne Spiegel als Bundesministerin, bei dem sie – der laufenden Kameras offenbar nicht gewahr – die Schlussworte abstimmte, um sich dann erneut und final zu entschuldigen. Der so wirkende Verfremdungseffekt machte die intendierte emotionalen Identifikation zunichte und wirkte auf viele verstörend.

So zeigte die Causa Spiegel kurz vor Schluss vor allem eines: In welchem Maße Politikerinnen und Politiker inzwischen zu Medienfiguren geworden sind, deren vermitteltes Bild von persönlichem Verhalten und fachlichem Können vollständig entkoppelt werden kann.

Dass der Schleier in diesem Fall gehoben wurde, war fatal für die Politikerin Spiegel, ist aber vielleicht eine Chance für den Menschen hinter der Fassade. Medial bietet der Fall allemal eine Chance, den Fokus zu erweitern, um einige der thematisierten Probleme anzusprechen.

Etwa: Wie geht es eigentlich den Menschen im Katastrophengebiet? Diese Frage hätte sich eine Rheinland-Pfälzerin stellen können.

Etwa: Wie geht es Familien und Kindern nach wie Jahren Pandemie? Diese Frage hätte sich eine Bundesfamilienministerin stellen können.