Was die "Zeitenwende" von Bundeskanzler Scholz bedeutet

Seite 2: Das deutsche Souveränitäts-Dilemma wird endlich gelöst

Als Nachfolgerin der Verlierer des Zweiten Weltkriegs hatte die Bundesrepublik seit ihrer Gründung ein Problem mit ihrer nur bedingten Souveränität. Weil sie als Frontstaat gegen die Sowjetunion im gerade anlaufenden Kalten Krieg gebraucht wurde, wurde sie von den USA ökonomisch kreditiert (Marshallplan) und auch militärisch wieder aufgerüstet (Bundeswehr, Nato-Mitgliedschaft), wovon die europäischen Nachbarn Großbritannien und besonders Frankreich seinerzeit nicht gerade erbaut waren.

Während diese beide Staaten in den folgenden Jahrzehnten mit fruchtlosen Kriegen um ihre Kolonien befasst waren, konnte sich die Bundesrepublik mit Hilfe der US-amerikanischen Kreditierung ihrer Währung produktiv in den Weltmarkt einklinken.

Der Aufstieg Deutschlands zu einer der weltweit größten Exportnationen und zur führenden Ökonomie in der EU ließ schon in den 1980er-Jahren die Rede vom "ökonomischen Riesen und politischen Zwerg" aufkommen, der die Unzufriedenheit deutscher Politiker mit der politisch-militärisch zweitrangigen Rolle ihrer "Bonner Republik" zum Ausdruck brachte.

Die Bundeswehr etwa war bestimmt als reine Bündnisarmee mit der Funktionszuweisung, "Stolperdraht" für russische Panzer zu sein. Mit dem Nato-Doppelbeschluss und der Stationierung von Pershing-Raketen und Cruise-Missiles machte sich Deutschland in den 1980er-Jahren dann zwar wichtiger für den Krieg gegen die Sowjetunion und erlangte so etwas wie eine "nukleare Teilhabe" – allerdings auf Kosten dessen, selbst potenzielles Schlachtfeld eines Nuklear-Kriegs zu werden.

Die Selbstauflösung der Sowjetunion brachte die deutsche Politik 1990 schon enorm vorwärts: Mit dem Anschluss der DDR konnte die BRD die "Nachkriegsordnung" ein erstes Mal korrigieren – eine Änderung im Übrigen, die nationale Jubelstürme auslöste.

Das vergrößerte Deutschland begann in den Folgejahren, seine politisch-militärische Rolle eigenständiger zu definieren und "mehr Verantwortung in der Welt zu übernehmen" – so hieß das jedenfalls in der Selbstinterpretation der deutschen Politik, ganz gleichgültig, ob irgendjemand das von Deutschland verlangt hatte oder nicht.

Mit ihrer Politik der Anerkennung separationswilliger Provinzen der Bundesrepublik Jugoslawien machte sich die deutsche Regierung Kohl/Genscher stark für die nächste Änderung der Nachkriegsordnung: Titos Jugoslawien wurde zerschlagen und neue Grenzen gezogen.

Ganz weg vom Dilemma deutscher Außenpolitik war man allerdings noch immer nicht. Als kapitalistische Wirtschaftsnation erster Güteklasse – inzwischen war Deutschland jahrelang Exportweltmeister! – musste man in Sachen Außenhandel (Zugriff auf Rohstoffe und Absatzmärkte, sichere Handelswege, Erpressung anderer Staaten zum freien Waren- und Kapitalverkehr) noch immer auf die US-amerikanische Militärmacht zur Sicherung der "Weltordnung" bauen und war auch nicht in der Lage, die weitere Zerlegung Rest-Jugoslawiens militärisch durchzusetzen; um die staatliche Autonomie von "Bosnien-Herzegowina" und "Kosovo" durchzusetzen, brauchten Deutschland und die EU erneut US-Schützenhilfe.

Das hatte eine sehr bequeme und für Deutschland ungemein kostengünstige Seite. Das hatte aber auch die unangenehme Seite, dass die USA die Störfälle der Weltordnung definierten – was zum Teil nicht unbedingt mit deutschen Interessen zusammenfiel.

Dieses deutsche Dilemma – als kapitalistisch überaus potente Nation auch nach der Erledigung des kommunistischen Hauptfeindes auf die militärische Potenz des "amerikanischen Freundes" angewiesen zu sein – versuchte die rot-grüne Schröder-Fischer-Regierung 2003 erstmals zu attackieren.

Sie ließ sich von den US-amerikanischen Belegen über "Saddams Massenvernichtungswaffen" nicht "überzeugen" und verweigerte, zusammen mit Frankreich, eine Teilnahme am zweiten Irak-Krieg, weil sie dessen Nützlichkeit für die deutsche Außenpolitik bezweifelte – was Deutschen und Franzosen die Verachtung der USA als "altes Europa" einbrachte.

Dagegen initiierten die beiden europäischen Führungsmächte den Aufbau eigener EU-Streitkräfte, angeblich ohne der Nato damit Konkurrenz machen zu wollen. Und Deutschland brachte North Stream I (und später II) auf den Weg, um sich mit dem Zugriff auf russisches Gas ein Stück aus der Abhängigkeit vom US-dominierten Energiemarkt zu emanzipieren.

Unter Angela Merkel stellte sich die deutsche Außenpolitik dann wieder auf die andere Seite des Widerspruchs: unverbrüchliche Freundschaft mit Washington – was Frankreich erneut verärgerte und über eigene Wege nachdenken ließ.

In Deutschland ließ die Unzufriedenheit wichtiger Politiker mit der Zweitrangigkeit des eigenen Militärs gleichzeitig nicht nach. Ob Horst Köhler in seinem Afghanistan-Interview 2010, Joachim Gauck vor der Münchner Sicherheitskonferenz 2014, das Weißbuch der Bundeswehr 2016 oder Annegret Kramp-Karrenbauer bei ihrer Rede vor der Bundeswehrhochschule 2019 – sie alle waren (erst Recht, als Trump kam und Deutschland offen als problematischen Konkurrenten behandelte) unzufrieden damit, dass diese Nation nicht eigenverantwortlich für ihre Interessen einstehen und weltweit "Verantwortung" übernehmen kann.

Der aktuelle Verlauf des Ukraine-Konflikts macht das deutsche Dilemma erneut handgreiflich. Scholz und Baerbock hatten mit ihrer Vorkriegsdiplomatie in Kiew und Moskau vermutlich versucht, zwei für Deutschland wesentliche Ziele unter einen Hut zu bringen: Putin zur unverhandelbaren Hinnahme einer ökonomisch und militärisch "westorientierten" Ukraine zu bewegen und gleichzeitig Russland als billigen und zuverlässigen Energielieferanten und Absatzmarkt zu erhalten.

Das hat, auch dank US-amerikanischer Hintertreibung, nicht funktioniert – und das nimmt die deutsche Regierung zum Anlass, die Aufrüstung in Gang zu bringen, mit der der "ökonomische Riese" dann auch endlich autonom über die ihm gebührende militärische Absicherung verfügen können soll.

Mit der Erhöhung auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts wird der laufende deutsche Militäretat um fast 50 Prozent auf 71,4 Milliarden Euro aufgestockt; dazu kommt im aktuellen Haushalt noch ein "Sondervermögen" von 100 Milliarden Euro.

Zum Vergleich: der russische Rüstungsetat lag 2020 bei 62, der britische bei 60 und der französische bei 52 Milliarden; Deutschland hat dieser Planung zufolge den drittgrößten Militärhaushalt der Welt hinter den USA und China und lässt die europäischen Konkurrenten deutlich hinter sich – wenn das nicht eine angemessene Ansage ist, die der von den Medien als "führungsschwach" charakterisierte Kanzler macht.

Von heute auf morgen eine Aufrüstung um 120 Milliarden Euro beschließen, das kann nur ein Land, dessen Wirtschaft so etwas auch liefern kann. Da zeigt sich der große Vorteil einer Rüstungsindustrie, die durch staatlich protegierte Rüstungsexporte so große Kapazitäten aufbauen konnte, dass sie nun auch spielend die neue heimische Nachfrage befriedigen kann. Massive Aktiengewinne der Rüstungsfirmen erfreuen die schwächelnde Börse.