"Whataboutismus" und das Recht auf selektive Wahrnehmung
Dass Einzelpersonen ihr Mitgefühl nicht gerecht auf alle Kriegs- und Krisengebiete der Welt verteilen können, ist menschlich. Anders sieht es aus, wenn zweierlei Maß aggressiv von oben propagiert wird
Kürzlich suchten Aktivistinnen der Kampagne "Women defend Rojava" in Hamburg den Bundestagsabgeordneten Till Steffen in seinem Wahlkreisbüro auf. Sie wollten von dem Grünen-Politiker wissen, warum seine Parteifreundin Annalena Baerbock als deutsche Außenministerin zu Kriegsverbrechen des Nato-Partners Türkei gegen Kurdinnen und Kurden auch in den Nachbarstaaten Syrien und Irak schweigt.
Sie verwiesen dabei auch auf einen Bericht des britischen Journalisten Steve Sweeney und entsprechende Zeugenaussagen über den mutmaßlichen Einsatz von Giftgas gegen kurdische Milizen durch das türkische Militär.
Dieser Bericht ist neu im Vergleich zum Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags über die türkische Militäroffensive "Operation Olivenzweig" im nordsyrischen Afrin 2018, die demnach völkerrechtlich schon damals mindestens zweifelhaft war, weil die Türkei keinen "überzeugenden Beweis" für eine konkrete Selbstverteidigungslage an der syrisch-türkischen Grenze vorgelegt habe.
Wenn besatzungsrechtliche Elemente auf fremdem Staatsterritorium hinzukämen, sei dies prinzipiell unvereinbar mit dem Gedanken der Selbstverteidigung, hieß es in dem Gutachten. Inzwischen sind diese besatzungsrechtlichen Elemente in Afrin fest etabliert. Die türkische Regierung will dort auch die Demographie zu Ungunsten der kurdischen Bevölkerung ändern und eine Million Flüchtlinge aus anderen Teilen Syriens im von ihr kontrollierten Teil des Nachbarlandes ansiedeln.
"Ein anderer Fokus in der Außenpolitik"
Für den Grünen-Politiker Steffen war das alles ein bisschen viel. Die Aktivistinnen bekamen von ihm zu hören, er sei über die aktuelle Lage in Kurdistan nicht informiert, da gerade "ein anderer Fokus in der Außenpolitik" vorherrsche. Gemeint war natürlich der Krieg in der Ukraine. Was sonst.
Nun ist Steffen "nur" Parlamentarischer Geschäftsführer seiner Fraktion und einer von vielen Juristen im Bundestag. Er sitzt nicht in außenpolitischen Ausschüssen und muss nicht alles wissen. Vielleicht hat er keine Freunde oder Nachbarn mit familiärem Bezug zu den kurdischen Gebieten der Türkei, Syriens oder des Irak, die sich wegen türkischer Angriffe Sorgen machen – und in den Massenmedien springt einen dieses Thema ja nicht ständig an.
Seine Parteifreundin Baerbock, die nach eigener Definiton "feministische Außenpolitik" betreibt, könnte aber zum Beispiel wissen, dass dschihadistische Verbündete des Nato-Partners Türkei unter Recep Tayyip Erdogan im Zuge der "Operation Olivenzweig" die Leiche einer gefallenen Kämpferin der syrisch-kurdischen Frauenverteidigungseinheiten verstümmelten, ihr die Brüste abschnitten und den Videobeweis auch noch selber stolz in Umlauf brachten.
Erdogan kann es sich heute erlauben, eine weitere Invasion, die bis zu 30 Kilometer tief in syrisches Gebiet führt, offen anzukündigen.
Seit Beginn der russischen Invasion in die Ukraine ist es in wesentlichen Teilen der politischen Klasse und der Talkshow-Armada in Deutschland als "Whataboutismus" verpönt, Kriegsverbrechen und völkerrechtswidrige Handlungen von Nato-Armeen und deren Hilfstruppen überhaupt zu erwähnen. Direkt oder indirekt wird dann unterstellt, das geschehe nur, um Putins Angriffskrieg zu rechtfertigen oder zu relativieren.
Dieses Totschlagargument ermöglicht aktuell die Doppelmoral der deutschen Außenpolitik und Sätze wie diesen von Annalena Baerbock:
Meine Reise in die Türkei führt mich zu einem unverzichtbaren Partner und in ein Land, das wie kaum ein anderes mit unserem verbunden ist.
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90 / Die Grünen) am 6. Juni 2022
Wie in jeder engen Beziehung werde sie mit "unseren türkischen Freunden" deshalb offen sprechen – unter anderem "über die Wichtigkeit der Nato und ihrer Stärkung durch die Aufnahme von Finnland und Schweden" – aber auch über Themen, "bei denen es große, teils fundamentale Differenzen gibt. Meinungsfreiheit, Menschenrechte, die Umsetzung von Verpflichtungen als Mitglied des Europarats", erklärte Baerbock, ehe sie wegen eines positiven Corona-Tests die Reise kurzfristig absagen musste.
Als Grünen-Chefin in der Opposition hatte Baerbock noch von der Bundesregierung gefordert, Waffenlieferungen an die Türkei zu stoppen und Erdogans Regime wirtschaftlich unter Druck zu setzen.
Breitere und ehrlichere Debatte in Schweden
Erdogans Problem mit Schweden und Finnland ist bekannt: Die Außenpolitik der beiden bisher neutralen Länder war in den letzten Jahren nicht vom Bestreben geprägt, es der Türkei trotz allem recht zu machen. Erdogan wirft ihnen die Unterstützung von "Terroristen" der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vor, mit der er syrisch-kurdische Organisationen, die erfolgreich gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" gekämpft haben, gleichsetzt.
In Schweden gibt es unter anderem dank der kurdischstämmigen Abgeordneten Amineh Kakabaveh eine breitere und ehrlichere Debatte über die Werte und den Charakter der Nato, da Erdogan sein Veto gegen die Aufnahme des Landes geltend macht, falls es nicht den von ihm gewünschten antikurdischen Kurs einschlägt. In Deutschland müssen Aktivistinnen Wahlkreisbüros abklappern, um diese Debatte in Gang zu bringen.
Wenn Empathie mit Menschen in Kriegs- und Krisengebieten nicht durch emotionale Reden von Spitzenpolitikern oder ausführliche Berichterstattung in großen Medien erzeugt wird, hängt sie oft von persönlichen Bekanntschaften ab. Stammt eine Nachbarin oder Kollegin aus der Ukraine und macht sich Sorgen um ihre Angehörigen, muss sie nicht viel erklären, weil die Berichterstattung hier zumindest umfangreich ist. Für die meisten anderen Kriege gilt das nicht.
Das Auswärtige Amt ist keine Privatperson
Laut einem Konfliktbarometer, das vom Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung erstellt wird, gab es im vergangenen Jahr weltweit 20 Kriege und 20 weitere "begrenzte Kriege" – die meisten Menschen, die nicht selbst auf diesem Gebiet forschen oder im auswärtigen Ausschuss des Bundestags sitzen, könnten aber nicht aus dem Stegreif sagen, in welchen Ländern.
Und selbst wenn: Sich persönlich für alle Opfer gleichermaßen zu engagieren, sprengt den Rahmen dessen, was Einzelpersonen ehrenamtlich leisten können. Wer sich überhaupt engagiert, trifft bewusst oder unbewusst eine Wahl. Geflüchtete mit guten Sprachkenntnissen können Freunde, Nachbarn und Kollegen sensibilisieren, wer aber traumatisiert in einer abgelegenen Unterkunft hockt, kann das erst mal nicht.
Namen, Gesichter und Einzelschicksale oder die Möglichkeit, sich aufgrund gemeinsamer Werte mit einer Seite zu identifizieren, bewegen hier oft mehr als abstrakte Zahlen. Auch gute Reportagen können aktivierend wirken.
Diese Wahl bei einzelnen Menschen ohne politisches Amt zu kritisieren, bringt in der Regel nichts. Der Vorwurf, sich nicht noch in fünf bis zehn anderen Bereichen zu engagieren, geht an der Realität vorbei, denn das wäre mangels Zeit und Energie das Ende jedes praktischen Engagements.
Insofern kann der Vorwurf des "Whataboutismus" auf dieser Ebene gerechtfertigt sein. Einzelpersonen können ihr Mitgefühl unmöglich gerecht verteilen, wenn es mehr als ein Lippenbekenntnis sein soll. Dazu gibt es einfach zu viel Elend auf der Welt.
Wenn aber zweierlei Maß aggressiv von oben propagiert wird, indem Politiker und meinungsstarke Journalisten es moralisch ächten wollen, angesichts eines russischen Angriffskrieges überhaupt noch von Angriffskriegen der Nato zu reden, ist dies eiskalte Geopolitik. Ein Recht auf selektive Wahrnehmung kann es für Privatpersonen geben, aber nicht für das Auswärtige Amt.