Wie reagiert die Bevölkerung eines ganzen Landes auf Terroranschläge?

Wissenschaftler haben mit interessanten Ergebnissen die Auswirkungen von Anschlägen auf das Verkehrsverhalten in Israel untersucht

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Große Terroranschläge hinterlassen nicht nur ihre unmittelbaren Opfer und Zerstörungen, sie wirken sich auch auf die ganze Gesellschaft, manchmal sogar die Weltöffentlichkeit aus. Terroristen wollen mit ihren für die Medien inszenierten Anschlägen über deren Instrumentalisierung die Aufmerksamkeit möglichst vieler Menschen finden und sie beeinflussen. Dabei geht es nicht nur darum, Angst und Schrecken auszulösen, sondern auch die eigene Macht gegenüber den Gegner und den Sympathisanten zu demonstrieren. Aber auch Wut und das Zurückschlagen des Gegners bedienen letztlich die Strategie der Terroristen. Wirklich untersucht wurden bislang die nicht direkt politischen Folgen von Anschlägen auf die gesamte Gesellschaft nicht wirklich.

Psychologen haben allerdings in den Vereinigten Staaten Befragungen nach dem 11.9. durchgeführt und sind zu dem Schluss gekommen, dass auch viele Menschen, die nur über die Medien zu Zeugen der Anschläge wurden, ein posttraumatischen Stresssyndrom (PTSD) entwickelt haben (Traumatisierung durch Medienbilder?). Dabei handelt es sich um eine Angststörung, die innerhalb weniger Monate nach einem Ereignis von außergewöhnlicher Bedrohung oder einer Katastrophe auftritt und sich unter anderem in wiederkehrenden Erinnerungen oder Inszenierungen des Ereignisses äußert. Die Menschen sind emotional distanziert, wie betäubt, gleichgültig gegenüber Mitmenschen und der Umgebung, vermeiden Situationen und Aktivitäten, die das traumatische Ereignis wiederkehren lassen könnten. Verstärkt wird PTSD durch Ereignisse, die bewusst von Menschen herbeigeführt wurden. Normalerweise entsteht ein PTSD nur bei denjenigen, die ein Ereignis auch direkt erlebt haben.

Wissenschaftler vom Department of Sociology and Anthropology der Hebrew University, Jerusalem, und des Office of Population Research der Princeton University sind von einem anderen Ansatz ausgegangen und haben den Verkehrsfluss und die Unfallstatistik nach möglichen Folgen von Terroranschlägen in Israel untersucht. Wie sie in Terror attacks influence driving behavior in Israel, erschienen in Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS), schreiben, haben sie dazu während einer Zeitspanne von 18 Monaten vom 1. Januar 2001 bis 22. Juni 2002, in denen es zahlreiche Terroranschläge in Israel gegeben hat, die Unfallstatistiken ausgewertet. Es wurden nur Anschläge in Israel selbst, nicht im Gaza-Streifen oder Westjordanland, mit mindestens einem Todesopfer berücksichtigt. Insgesamt ereigneten sich so 63 Anschläge im Beobachtungszeitraum. Israel ist für die Analyse wegen der Häufigkeit der Terroranschläge einerseits zwar ein "gutes" Untersuchungsobjekt, andererseits ist, wie auch die Wissenschaftler sagen, das Land vermutlich eine Ausnahme, weil es so klein und die Gesellschaft auch wegen der Häufigkeit der Anschläge und der politischen Lage eng verwoben ist.

Mit den statistischen Daten von Verkehrsunfällen habe man bessere und vor allem genauere Daten als bei den oben erwähnten Umfragen, die oft erst lange nach den Anschlägen vom 11.9. ausgeführt wurden und nicht hinreichend genau PTSD mit Terroranschlägen verbinden können. Man habe zwar nach dem 11.9. auch eine Zunahme an Solidarität oder einen Rückgang an Morden beobachtet, aber die Wissenschaftler sind überzeugt, dass sie mit ihrer Methode erstmals empirisch unmittelbare Folgen von Terroranschlägen im Verhalten der Menschen erfassen konnten. Verkehrsunfälle seien ein guter Indikator für psychosozialen Stress, der mit erhöhter Aggression oder Frustration einhergeht. Überdies hätten andere Studien gezeigt, dass nach Selbstmorden und Morden, die große mediale Aufmerksamkeit gefunden haben, Selbstmorde, Verkehrs- und Flugzeugunfälle ansteigen.

Latenzperiode von drei Tagen

Am Tag nach einem Terroranschlag tritt ein geringer Rückgang an leichten Verkehrsunfällen (6%), bei schweren Anschlägen aber bis 18% ein, weil möglicherweise vorsichtiger gefahren oder leichte Unfälle nicht so häufig gemeldet werden, was die Wissenschaftler am ehesten vermuten. Vielleicht spielt auch die höhere Polizeipräsenz eine Rolle. Die Verkehrsdichte bleibt zunächst konstant, nur bei schweren Anschlägen geht sie unmittelbar zurück. Nach drei Tagen gebe es hingegen einen steilen Anstieg von 35% an schweren Verkehrsunfällen. Waren die Terroranschläge schwerer, so gibt es sogar 69% mehr schwere Verkehrsunfälle. Zudem nimmt die Verkehrsdichte einige Tage nach einem Anschlag ab. Möglicherweise trägt hier die geringere Verkehr dazu bei, dass schneller gefahren wird und sich deswegen mehr schwere Unfälle ereignen. Auch bei Selbstmorden und Morden, die ein großes Medienecho gefunden haben, ließe sich diese Latenzzeit von drei Tagen beobachten, nach denen dann Nachahmer auftreten. Vier bis fünf Tage nach einem Anschlag seien keine Auswirkungen auf den Verkehr mehr zu beobachten.

Die Wissenschaftler vermuten, dass es sich dabei um unbewusst suizidales Verhalten oder traumatische Reaktionen handeln könnte, mit denen die Menschen versuchen, wieder in die Normalität zurückzukehren, bevor sie psychisch stabil sind. Möglicherweise verhalten sich die Menschen kurz nach einem Anschlag vorsichtiger und nehmen mehr Rücksicht aufeinander, dann aber könnte sich auch eine Gegenreaktion durchsetzen, nämlich dass Manche kurzzeitig aggressiver fahren oder weniger aufpassen.

Vier Tage nach Terroranschlägen stellt sich wieder eine normale Situation ein, was darauf hinweisen könnte, dass Terroranschläge, wenn auch nur kurzzeitig und vorübergehend, die gesamte Bevölkerung beeinflussen. Auch mit wachsender Häufigkeit der Anschläge sei keine Veränderung zu bemerken. Die Menschen scheinen weder abgestumpft noch empfindlicher zu reagieren. Überprüfen könnte man die Hypothese, indem weitere Stressindikatoren wie Gewaltausübung oder Tabakkonsum untersucht werden. Auffällig sei nach den Daten auch, dass sich 25 Prozent der Anschläge und Unfälle am Sonntag ereignen, an anderen Tagen ist die Wahrscheinlichkeit wesentlich geringer.