Willenserklärungs-Exegese
Fragen an 10 prominente Unterzeichner des Heidelberger Appells
Dass nicht alle Autoren den Heidelberger Appell gleich verstanden, darauf deutete unter anderem die Reaktion des Schriftstellers Peter Glaser ("Schönheit in Waffen") hin, der seine Unterschrift zurückzog, nachdem er sah, was aus ihm gemacht wurde.
In einem offenen Brief an den Initiator Roland Reuß bat er diesen, seinen Namen von der Unterstützerliste zu streichen und machte geltend, dass er aus Skepsis zu den Google-Aktivitäten unterschrieben habe. Reuß' Ausführungen zu Open Access, die Glaser nach eigenen Angaben "in keinem Punkt" teilt, sah er damals als "missglückten Appendix" an und hatte die, wie er jetzt formuliert, "naive Hoffnung, dass die Debatte vom ersten Teil des Aufrufs getragen würde":
Spätestens nachdem ich die Einlassungen von Uwe Jochum gelesen habe steht für mich fest, dass es sich um keinen lässlichen Anhang handelt. Diese zum Teil haarsträubenden, Im Namen der Freiheit vorgetragenen Vorstellungen kontaminieren den Heidelberger Appell insgesamt. Der Hochmut, den Jochum als Freiheit der Wissenschaft zu verkaufen versucht, ist feudalistisch.
Konnte es sein, dass hier ein Effekt griff, den man sonst von Handy-Verträgen oder Geldanlagen kennt? Dass die Bereitsteller der Formulare völlig andere Vorstellungen über den Inhalt der Willenserklärung haben als viele Unterzeichner? So etwas müsste nicht unbedingt heißen, dass auch Deutschlands Literaturelite von den in den Pisa-Tests festgestellten Problemen beim Verstehen kürzerer Texte betroffen ist - aber möglicherweise, dass Angehörige diese Gruppe mit ihrer Unterschrift verhältnismäßig locker umgehen, so lange die Schlagworte stimmen.
Die Reaktion Glasers bot in jedem Fall einen Anlass, bei prominenten Unterzeichnern nachzufragen, ob sie den Heidelberger Appell genau so verstehen wie Roland Reuß, Brigitte Zypries und die Verlagslobby. Als erster Kandidat bot sich der Münchener Schriftsteller und Filmregisseur Alexander Kluge ("Nachrichten aus der ideologischen Antike") an, dessen Produktionsfirma dctp am letzten Mittwoch bekannt gab, im Fernsehen gesendete Beiträge zukünftig auch im Web anzubieten. War das nicht eine Form des im Heidelberger Appell so verteufelten Open Access, wie sie ein Wissenschaftler betreibt, der etwas nach der Veröffentlichung in einer Zeitschrift auch online zugänglich macht? Und könnten Sat1, RTL oder Vox nicht mit einem Leistungsschutzrecht ihr Veto dagegen einlegen?
Kluge gesteht hier auf Nachfrage einen Widerspruch ein, sieht diesen jedoch nur "in der Praxis, aber nicht in der politischen Forderung", weil sowohl Öffentlichkeit als auch Schutz von Rechten an Werken wichtige Anliegen wären. Eine nicht ganz befriedigende Antwort, bei der man das Gefühl nicht los wird, dass Kluge - der ganz schnell zum Taxi muss - sich auch als Volljurist möglicherweise nicht vollständig darüber im Klaren war, was sich als Ergebnis des Heidelberger Appells herauskristallisiert: Ein neues Leistungsschutzrecht für Verlage, mit dem diese auch ohne die explizite Übertragung von Nutzungsrechten in Verträgen gegen Dritte - aber auch gegen die eigenen Autoren - vorgehen können.
Der Schriftsteller und Musiker Thomas Meinecke ("Mode & Verzweiflung") sieht seine Unterschrift unter den Heidelberger Appell auch emotional begründet und von einer gewissen Existenzangst sowie der Präsenz von FSK-Musikdateien im Netz geprägt. Er hält sich jedoch keineswegs für einen "Hardcore-Gegner von Open Access" und glaubt auch nicht an eine "protestantische Vorstellung des Originären", sondern an die Entstehung von Werken aus Vorhandenem, weshalb er gegenüber der Gema als Verfechter von Sampling auftritt. Auf ein neues Leistungsschutzrecht für Verlage angesprochen, plädiert er - Link auf http://www.produzentenallianz.de/meldungen/einzelansicht/browse/1/article/kreile-instrumentarium-zur-piraterie-bekaempfung-in-deutschland-wenig-hilfreich.html?tx_ttnews[backPid]=6&cHash=4926acf54d - dafür, dass Nutzungsrechte frei aushandelbar sein sollten, weil er mit Suhrkamp hier gute Erfahrungen machte.
Meineckes Kollege Thomas Palzer ("Ruin") fand den Aufruf "sympathisch" und sieht einen Erfolg darin, dass er eine "notwendige Debatte" angestoßen habe. Allerdings vertritt er zu Open Access eine komplett andere Auffassung als sie der Initiator Roland Reuß dort hineinpackte und glaubt, dass auch viele andere Autoren so denken, aber trotzdem unterschrieben, weil sie "ein Zeichen setzen" wollten. Die politische Konsequenz aus dem Aufruf sieht er in einem Ende des "Wilden Westens" und der "Kannibalisierung", die auf Dauer nicht funktionieren könne, jedoch nicht notwendigerweise in einer "Fortsetzung der Pfründewirtschaft", in der viel Geld bei "Maklern" wie den Verlagen verbleibt und nicht bei den Autoren ankommt.
Hajo Jahn, der Leiter der Stiftung Verbrannte und verbannte Dichter (deren Website unter anderem Google Analytics nutzt) sieht als Kernforderung des Appells einen stärkeren Schutz von Urheberrechten, die Autoren Anreize zum Schreiben geben sollen. Er gesteht zwar die Möglichkeit des Gebrauchs solcher Rechte zur Zensur ein, meint aber, dass hier "Kompromisse" gefunden werden müssten. Für "völlig unzureichend" hält er es dagegen, wenn aus dem Heidelberger Appell allein ein Leistungsschutz für Verlage erwächst, da diese ohnehin an ihr Geld kämen, aber die Autoren bei Wiederverwertungen leer ausgehen würden.
Auch der Hamburger Publizist und Spiegel-Videoblogger Matthias Matussek ("Wir Deutschen") sieht im Heidelberger Appell eine Forderung nach mehr Rechten von Autoren an ihren eigenen Texten. Sie sollten entscheiden können, ob ein Text von ihnen ins Internet kommt oder wenigstens eine angemessene Entschädigung dafür bekommen. Da dies bereits deutsche Rechtslage ist, an die sich Google mit Aktivitäten in den USA aber nicht halten muss, ist die Konsequenz seiner Ansicht nach eine globale oder wenigstens europäische Initiative. Ein Leistungsschutzrecht für Verlage, wie es Plattenfirmen haben, wäre Matussek zufolge keine Lösung, weil es Autoren sogar potentiell schlechter stellen würde. Auch hinsichtlich Open Access plädiert er für einen Vorrang der Autorenrechte.
Bascha Mika, die Chefredakteurin der taz, sieht die Hauptforderung des Appells ganz eindeutig darin, "sich nicht den Belangen eines multinationaler Konzerns zu beugen" und meint damit Google. Es gehe aber nicht darum, die ökonomischen Interessen von Verlagen zu schützen, sondern um einen "gesellschaftlichen Verständigungsprozess", in dem man sich darüber einig wird, wie Autoren und andere Kreative wirtschaftlich so gestellt werden, dass sie etwas produzieren können. Open Access interessiert sie als Autorin und Journalistin weniger - sie sieht die Sache aber "lange nicht so problematisch" wie Roland Reuß und hält es für eine "Schwäche des Appells", dass hier verschiedene Dinge vermengt wurden.
In ein ähnliches Horn stößt Hans Magnus Enzensberger ("Der kurze Sommer der Anarchie"), der darauf hinweist, dass es "nicht hinnehmbar [sei], dass ein New Yorker Bezirksgericht sich mit Hilfe einer so genannten 'class action' anmaßt, über das Copyright anderer zu verfügen". Das "Vorgehen von Google" zielt seiner Ansicht nach auf die "monopolitische Aneignung" von Urheberrechten und verstößt damit "eklatant" gegen die auch von den USA unterzeichnete und "völkerrechtlich bindende" Berner Übereinkunft. Die Bundesregierung ist deshalb nach Ansicht des Schriftstellers "ebenso wie die Europäische Union verpflichtet, dagegen mit allen Mittel vorzugehen, [...] wenn das Imperium [sic] versucht, das Urheberrecht von Autoren, Filmemachern und Künstlern auszuhebeln". Über ein Leistungsschutzrecht für Verlage äußert er sich dagegen ebenso wenig wie zu Open Access.
Der Freiburger Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit, der Ende der 1970er Jahre mit seinem zweibändigen Werk "Männerphantasien" zur Berühmtheit wurde, verweist, zum Heidelberger Appell gefragt, zwar auf Artikel von Roland Reuß, spricht sich jedoch "absolut dafür" aus, dass Autoren, wenn sie das wollen, ihre Texte selbst im Netz veröffentlichen dürfen. Ein neues Leistungsschutzrecht für Verlage hält er zwar für richtig, kritisiert aber gleichzeitig, dass Autorenrechte gestärkt werden müssten. Dass ein Leistungsschutzrecht für Verlage die Vertragsfreiheit zu Ungunsten von Autoren einschränken könnte, kann er sich nicht vorstellen, weil das seiner Ansicht nach verfassungswidrig wäre.
Weniger überzeugt von ihrer Rechtskenntnis gibt sich die Frankfurter Autorin Eva Demski ("Gartengeschichten"). Sie sieht Urheberrechtsfragen als mittlerweile so kompliziert an, dass man ohne Fachanwalt gar nichts darüber sagen könne. Neue Rechte für Verlage hält sie allerdings für grundverkehrt, weil diese auch nur Distributoren seien. Stattdessen sollten ihrer Ansicht nach Autorenrechte gestärkt werden. Demskis Kollege und Mitunterzeichner Uwe Timm ("Morenga") kann auf Anhieb ebenfalls nichts dazu sagen, was konkret im Heidelberger Appell die Forderung an die Politik ist und meint, man solle da lieber jemand anderen fragen, der "in der Sache richtig drin ist".