"Wir brauchen eine Nato ohne die USA"

Seite 2: "Man soll die Rechten nicht zum Richter über das machen, was richtig oder falsch ist"

Sie wissen ja wahrscheinlich auch, dass am Wochenende in Leipzig eine von rechten Kreisen organisierte Demonstration stattfand, mit Compact im Hintergrund, bei der Ihr Leitspruch "Ami go home" als Slogan verwendet wurde. Compact spricht davon, dass die USA der "Hauptfeind Deutschlands" und ein "Besatzungsregime" seien. Würden Sie denn die Nähe zu diesen rechtsnationalen Kreisen begrüßen? Dort wird auch Sahra Wagenknecht zur Galionsfigur für die neue Kanzlerin. Man versucht also, Anschluss an Ihre Positionen zu finden. Wie sehen Sie das?

Oskar Lafontaine: Da kann ich nur an Enzensberger erinnern, der jetzt gerade gestorben ist und einmal gesagt hat: "Die Angst vor dem Beifall von der falschen Seite ist ein Charakteristikum totalitären Denkens." Das heißt also, man kann sich nicht davon abhängig machen, was irgendwelche rechten Grüppchen oder Magazine schreiben.

Und insofern muss man auch über die Rolle der Vereinigten Staaten nachdenken können, ohne Artikel in rechten Magazinen zu berücksichtigen. Der Spruch "Ami go home" stammt ja aus der Bewegung gegen den Vietnamkrieg, und das war ja wohl keine rechte Bewegung.

In den Medien gibt es eine idiotische Logik. Wenn die AfD sagt, wir brauchen gute Beziehungen zu Russland, dann ist derjenige, der das auch sagt, rechts. Nach dieser Logik, die sich leider auch in der Politik ausgebreitet hat, wäre Willy Brandt heute ein Rechter. Wir leben mittlerweile im Irrenhaus, was die Debatte angeht.

Wie kann man denn das für sich selber auseinanderhalten? Einfach weitermachen oder dazu Stellung nehmen?

Oskar Lafontaine: Nein, man soll die Rechten nicht zum Richter über das machen, was richtig oder falsch ist. Dann müsste man jeden Tag versuchen, sich in irgendeiner Form abzugrenzen. Ich halte die eifrigen Journalisten und Politiker, die immer von einer AfD-Nähe sprechen, für die besten Propagandisten der AfD.

Mit dem ständigen Gerede über die AfD-Nähe werten sie sie auf, ob sie das wollen oder nicht. Das heißt, sie sind unfreiwillige Helfer der AfD. Nein, man muss seine eigenen Gedanken vertreten. Und hier bemühe ich noch einmal Enzensberger: "Man darf nicht in totalitäres Denken verfallen, indem man den Beifall von der falschen Seite scheut."

"Faschistoides Denken"

Manche sagen, diese Kriegsstimmung, die in bestimmten Kreisen herrscht, bei den Grünen, auf der Regierungsseite insgesamt, aber auch in den USA, werde von dem Glauben getragen, dass es endlich ein gerechter, guter Krieg gegen einen absolut bösen Gegner ist. Man kann alle anderen Kriege hinter sich lassen und selbst die von Nazideutschland vergessen, weil man endlich in einen neuen, gerechten und guten Krieg zieht. Sehen Sie das auch als einen Hintergrund?

Oskar Lafontaine: Das kann man so sehen, aber ich frage mich natürlich, was da passiert ist, denn das ist für mich faschistoides Denken. Wenn etwa Frau Baerbock sagt, man müsse Russland ruinieren, dann ist das faschistoides Denken. Dieses Denken ist dadurch gekennzeichnet, dass der Mensch ausgeklammert wird. Das erlebt man in der jetzigen Debatte in Deutschland.

Von den Menschen, die täglich sterben, tritt selten auf in dem Sinne die Rede, dass man deswegen jetzt einen Waffenstillstand erreichen müsse. Nein, sie reden von einem Siegfrieden. Die Krim muss zurückerobert werden, und wir müssen immer mehr Waffen liefern.

Die deutsche Außenministerin hat sich sogar zu der Behauptung verstiegen - wahrscheinlich weiß sie gar nicht, dass sie damit die Parole der US-Waffennarren übernommen hat -, dass Waffen Leben retten. Wie die Waffen Leben in den USA retten, das kann man immer wieder erleben. Das ist eine Fehlentwicklung, die ich faschistoid nenne.

Deshalb müssen alle, die den Frieden wollen, sich zusammentun und sagen: Wenn wir von einer Wertegemeinschaft reden, dann dürfen wir eben nicht von Begriffen reden, unter denen sich offensichtlich kaum noch jemand etwas vorstellen kann, sondern wir müssen uns einfach dazu bekennen, dass wir in den Menschen unsere Schwestern und Brüder sehen und dass wir alles tun, damit sie nicht ihr Leben verlieren. Das ist das Vorrangige, nicht die Krim zurückzuerobern oder die Russen kleinzubekommen.

Woher kommt diese faschistoide Stimmung, wie Sie es nennen?

Oskar Lafontaine: Das ist schwer zu sagen. Einen Grund hat, wie zuvor besprochen, interessanterweise Frau Merkel im Spiegel genannt: Das Bewusstsein über das Grauen des Krieges verschwindet mit den Zeitzeugen und damit verschwindet auch die Bereitschaft zur Versöhnung. Das mag ein Grund sein, dass man gar nicht mehr so richtig weiß, was damals passiert ist oder man auch die Gefühle nicht mehr entwickelt, die notwendig sind, um zu sagen: Wir wollen alles tun, damit so etwas niemals wieder passiert.

Ich glaube, es gibt noch einen anderen Grund, das ist das Verschwinden des Religiösen. Das hört sich vielleicht aus meinem Munde komisch an, aber schon Dostojewski schrieb: Wenn Gott tot ist, ist alles erlaubt. Auch andere Schriftsteller haben sich dazu geäußert. Malraux beispielsweise, der einmal sagte: Dieses Jahrhundert wird religiös sein oder es wird nicht sein.

Damit meinte er nicht, dass jeder einem Glauben anhängen muss, sondern dass die Werte, die die Religionen vermittelt haben, die Nächstenliebe etwa im christlichen Abendland, das heißt das Mitempfinden mit den anderen, die Grundlage einer friedlichen Welt sind. Wenn dies weg ist, und das kann man an der Absicht, Russland zu ruinieren, sehen, dann ist die Bereitschaft oder die Grundlage zum Frieden nicht mehr gegeben.

Aber das kann doch nicht heißen, dass man jetzt unbedingt wieder neue Kirchen bauen müsste.

Oskar Lafontaine: Nein, die Frage ist, wie kann das Denken überwunden werden, das sich in dem Satz: "Wir müssen immer wieder Waffen liefern, weil Waffen Leben retten" oder in dem Satz "Wir müssen Russland ruinieren" zum Ausdruck bringt.

Das kann nur durch Humanismus, wenn man diesen Begriff nehmen will, überwunden werden. Er hat zur Grundlage, in dem Mitmenschen die Schwester oder den Bruder zu sehen. Kultureller Austausch beispielsweise kann die Menschen zusammenführen und kann die Liebe zur Kultur des jeweils anderen wecken. Deshalb ist es so fatal, dass mittlerweile auch russische Künstler ausgeladen werden. Das ist ein Schritt zur Barbarei.

Oskar Lafontaine wurde am 16. September 1943 in Saarlouis geboren. Zwei Jahre später verlor er seinen Vater, der als Soldat im Alter von 29 Jahren ums Leben kam. Im Verlauf seines politischen Lebens war er Oberbürgermeister in Saarbrücken, Ministerpräsident des Saarlandes, Vorsitzender der SPD, Kanzlerkandidat und Bundesfinanzminister.

Im März 1999 legte er alle seine bisherigen politischen Ämter in der SPD aus Kritik am Regierungskurs von Gerhard Schröder nieder. Er war Gründungsvorsitzender der Partei DIE LINKE, die auf seine Initiative hin aus PDS und Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit (WASG) entstanden ist, Vorsitzender der Linksfraktion im Deutschen Bundestag und Spitzenkandidat bei den saarländischen Landtagswahlkämpfen 2009, 2012 und 2017. Bis zu seinem Parteiaustritt im März 2022 führte er seit 2009 die Fraktion der Linken im saarländischen Landtag.

Der Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit dem Overton-Magazin.

Oskar Lafonantaine: Ami it’s time to go. Plädoyer für die Selbstbehauptung Europas. 64 Seiten. Erschienen im Westend Verlag.

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