"Wir brauchen eine Nato ohne die USA"

Bild: Die Linke / CC-BY-2.0

Oskar Lafontaine über das nordatlantische Bündnis, den Ukraine-Krieg, eine idiotische Logik in den Medien und eine "faschistoide Stimmung".

Der ehemalige Kanzlerkandidat und Finanzminister der SPD, später dann berühmter Aussteiger bei den Sozialdemokraten und führender Vertreter der Linken, Oskar Lafontaine, dürfte das umstrittenste Buch dieses Winters geschrieben haben.

Schon der Titel "Ami, it’s time to go!" legt sich quer zum üblichen politischen Ton, wie er im politischen Räsonnement, in Kommentaren und Berichten in einem Milieu angeschlagen wird, das sich als maßgebend versteht. Dass Lafontaine sehr eigene Ansichten hat, gerade gegenüber westlichen Leitideen, ist an sich nichts Neues, aber gegenwärtig ist die politische Situation durch den Ukraine-Krieg, die wirtschaftliche Situation und die Kämpfe in den politischen Lagern besonders angespannt

Dazu kommt, dass seit einiger Zeit die Idee kursiert, dass eine neue Partei gegründet wird, mit Sahra Wagenknecht, der Ehefrau von Lafontaine, als mögliche große Figur. Da eine Zeitschrift der extremen Rechten Wagenknecht aufs Cover gebracht hat, setzt die Querfront-Debatte mit neuer Vehemenz ein.

Florian Rötzer hat sich mit Oskar Lafontaine über sein provokantes Buch und politische Entwicklungen unterhalten.

"Der Lafontaine ist antiamerikanisch"?

Sie haben gerade ein neues Buch mit dem sehr provokativen Titel Ami it's time to go! veröffentlicht. Das schließt natürlich an die Zeiten der 70er-Jahre an, wo das im Rahmen des Vietnamkrieges zum Slogan wurde. Fürchten Sie nicht, dass das jetzt gleich in die Schiene kommt: "Der Lafontaine ist antiamerikanisch", womit man Ihre Gedanken beiseitelegen kann?

Oskar Lafontaine: Ja, das ist der normale Reflex, dennoch muss man immer wieder versuchen, eine Debatte über vernünftige Sicherheitspolitik in Deutschland zu führen. Ich vertrete die Kernthese, dass eine Weltmacht, die die einzige Weltmacht bleiben will und deshalb Handelskriege, verdeckte Kriege, Drohnen- und Bombenkriege führt, niemals ein Verteidigungsbündnis anführen kann.

Deshalb sage ich, wir brauchen eine Nato ohne die USA, eine selbständige europäische Verteidigung. Wohin die USA uns führen, sieht man am Ukrainekrieg, der in Wirklichkeit eine Auseinandersetzung zwischen den USA und Russland ist, was alle wissen, die noch nicht völlig von falschen Erzählungen vergiftet und in die Irre geführt worden sind.

"Wer seinem Gegner das Messer an den Hals setzt, betreibt keine Friedenspolitik"

Lassen wir mal die Vorgeschichte des Ukrainekrieges weg, so sagen viele Regierungen, dass man nun die Gefahr, die von Russland ausgeht, sieht. Russland würde auch weitergehen, um seine Einflusszonen zu vergrößern. Deswegen sei die Schutzmacht USA jetzt umso wichtiger, um das abzuwehren.

Oskar Lafontaine: Das ist der klassische Fall, in dem die Wahrheit auf den Kopf gestellt wird. Die USA haben entgegen dem Rat vieler US-Politiker die Nato an die Grenze Russlands geschoben. Jetzt stehen deutsche und US-Truppen an der russischen Grenze.

Das konnte man sich vor einiger Zeit nicht vorstellen. Dazu kommt, dass Raketenbasen in der Nähe der russischen Grenze und bald an der russischen Grenze stehen, deren Raketen eine Flugzeit von fünf Minuten oder weniger nach Moskau haben.

Raketen ohne Vorwarnzeiten sind das Messer am Hals des Gegners. Wer seinem Gegner das Messer an den Hals setzt, betreibt keine Friedenspolitik. Ich möchte, dass sich das in Deutschland herumspricht und dass man über die Fehler nachdenkt, die auch Deutschland macht.

Die Bundesregierung hat verkündet, Deutschland solle auch militärisch eine Führungsmacht werden. Man geht also mit dem großen Wumms von Scholz auch in die Rüstungspolitik hinein und versucht, die Bundeswehr aufzustocken. Es ist aber offenbar nicht so ganz klar, wie weit die Integration in die Nato gehen oder ob ein europäisches Verteidigungsbündnis entstehen soll. Sie plädieren ja, wenn ich es richtig verstanden habe, für ein europäisches Verteidigungsbündnis, das sich von der Nato loslöst.

Oskar Lafontaine: Besser von den USA, weil es in die Irre führt, wenn man hier von der Nato spricht. Viele glauben nämlich, die Nato garantiere unsere Sicherheit. Man muss aber wissen, die Nato ist die USA oder die USA sind die Nato. Und wenn die Nato irgendetwas machen will, braucht sie die Zustimmung der USA.

Die USA haben das Sagen und entscheiden allein, was passiert, das geht bis dahin, dass sie bei wichtigen Dingen die Bündnispartner überhaupt nicht fragen. Sie gehen sogar so weit, dass sie ohne Rücksicht auf ihre Verbündeten - Stichwort Nord Stream 2 - eine zentrale Versorgungsleitung Europas sprengen.

Das waren die USA oder sie haben den Auftrag dazu gegeben oder zumindest gesagt, macht das, wir sind einverstanden. Das zeigt, in welch verheerendem Zustand sich die Nato befindet.

Ukraine-Krieg: "Die Entscheidung liegt bei den USA"

Sie sagen, man braucht eine Friedenslösung und muss diesen Krieg in der Ukraine unterbrechen. Wie stellen Sie sich denn das vor? Russland wird sicher im Augenblick den Krieg nicht stoppen. Und bei der Ukraine hat sich Selenskyj auch in eine Situation gebracht, aus der er nicht heraus kann. Wie soll oder könnte eine Friedenlösung denn funktionieren?

Oskar Lafontaine: Selenskyj ist zwar nach der Meinung vieler eine entscheidende Figur auf dem Schachbrett, aber das ist er nicht. Letztendlich hat er nichts zu sagen, um das in aller Deutlichkeit einmal anzusprechen. Was in der Ukraine passiert, entscheiden ebenfalls die USA, niemand sonst. Deshalb kann es nur einen Frieden geben, der von den USA und Russland ausgehandelt wird.

Die USA finanzieren ja überwiegend den Krieg in der Ukraine. Sie haben seit vielen Jahren Waffen geliefert, sie finanzieren das System. Wenn die USA sagen, in diese Richtung geht es, dann müssen die Ukrainer folgen, ob sie wollen oder nicht.

Natürlich gibt es auch immer wieder Versuche auszubüchsen, wie man jetzt gesehen hat, als eine sogenannte Abwehrrakete in Polen gelandet ist und einige sogar den Verdacht geäußert haben, dass die Ukrainer bewusst diese Raketen nach Polen geschossen haben, um die Nato in den Krieg zu ziehen. Solche Bestrebungen gibt es bei Selenskyj und seiner Entourage wie kürzlich auch die FAZ festgestellt hat.

Aber die Entscheidung liegt bei den USA, das ist gar keine Frage. Dass es Bemühungen gab, den Frieden zu finden, hat Istanbul gezeigt. Darüber wird diskutiert, auch in den Vereinigten Staaten.

Aber dann hat Boris Johnson im Auftrag der USA gesagt, Selenskyj, du darfst keinen Frieden schließen, weil die US-Regierung überzeugt ist, es müsse so lange gekämpft werden, bis Russland am Boden liegt und keinen Krieg mehr führen kann.

Das hat der Kriegsminister der USA, der fälschlicherweise Verteidigungsminister heißt, gesagt. Mit dieser Haltung kann es natürlich keinen Frieden geben. Sie ist aber auch unglaublich zynisch, weil vergessen wird, dass damit jeden Tag Menschen auf den Schlachtfeldern der Ukraine sterben.

Es sterben Ukrainer und es sterben Russen. Beides muss man sehen. Und wenn man Menschenleben retten will, dann muss man morgen mit dem Waffenstillstand beginnen.

"Plädoyer für die Selbstbehauptung Europas"

Sie reden jetzt von einem "Plädoyer für die Selbstbehauptung Europas". Und Sie schlagen vor, dass Deutschland und Frankreich zum Kern des Europas werden können, das sich von den USA ablöst. Wenn wir aber auf Europa schauen, dann ist die Anbindung der östlichen Staaten, also der baltischen Staaten, Polen, Rumänien usw., an die USA sehr viel stärker ausgeprägt als im Westen Europas. Sehen Sie denn überhaupt eine Chance, die EU zusammenzuhalten, wenn man so etwas anstreben würde?

Oskar Lafontaine: Es ist richtig beobachtet, was Sie in Ihrer Frage zum Ausdruck bringen. Deshalb sage ich auch, dass Frankreich und Deutschland die Dinge in die Hand nehmen müssen. Die baltischen Staaten sind beispielsweise aufgrund ihrer speziellen Geschichte und Situation ganz vorn dabei, wenn es darum geht, das Feindbild zu verstärken und zum Krieg zu hetzen.

Ich muss das so deutlich sagen. Auch die Polen sind aufgrund ihrer Geschichte immer bereit, Russland als Feindbild zu sehen. Das führt aber zu nichts. Wir haben doch ein gelungenes Experiment. Das war die Entspannungspolitik Willy Brandts. In dieser Zeit gab es keinen Krieg in Europa.

Als man aufhörte, gab es den Jugoslawienkrieg und jetzt den Ukrainekrieg. Jetzt haben wir nicht Entspannungspolitik, sondern Spannungspolitik. Man setzt auf Eskalation.

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