Wird die Sicherheit des Westens jetzt am Dnjepr verteidigt?

Konflikt in der Ukraine stellt die westliche Sicherheitspolitik auf die Probe. Ist der Dnjepr die neue Frontlinie? Mehr über geopolitische Herausforderungen.

Russlands Angriff auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 hat die sicherheitspolitische Landschaft schockartig transformiert. Schon 2014 hatte die Nato in Reaktion auf Moskaus Annexion der Krim und Intervention in der Ostukraine ein Aufrüstungsprogramm initiiert, das die Bündnispartner dazu anhielt, ihre Verteidigungsausgaben bis 2024 auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts anzuheben.

Nato-Aufrüstung: Reaktion und Kontroverse

Russlands Einmarsch in der Ukraine 2022 hat diesem Vorhaben einen massiven Legitimationsschub verliehen. Jüngste Grundlagendokumente Deutschlands wie die Nationale Sicherheitsstrategie und die Verteidigungspolitischen Richtlinien schreiben das Zwei-Prozent-Ziel fest.

Nach Beginn der Kampfhandlungen 2022 setzte sich im Westen schnell das von Kiew vertretene Narrativ durch, wonach es Russland unter dem autokratischen Präsidenten Putin nicht nur um die Vernichtung der Ukraine als Staat und Nation, sondern um eine territoriale Wiederherstellung der Sowjetunion und eine hegemoniale Stellung in Europa insgesamt gehe, zu deren Durchsetzung Moskau auch Gewalt einsetzen würde.

Strategische Neuausrichtung der Nato

In ihrem Strategischen Konzept vom 29. Juni 2022 betonte die Nato, dass die Möglichkeit eines Angriffs Russlands auf die Souveränität und territoriale Integrität Verbündeter nicht auszuschließen sei.

Ein Jahr später legte die erste deutsche Nationale Sicherheitsstrategie nach: "Das heutige Russland ist auf absehbare Zeit die größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum."

Als Beleg für einen imperialen Revisionismus Moskaus, der sogar die globale Stabilität bedrohe, wurde immer wieder Putins Äußerung vom "Untergang der Sowjetunion als der größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts" ins Feld geführt.

Die geopolitische Bedeutung der Sowjetunion

Dass nach dem 1991 fast über Nacht erfolgten Zerfall des jahrhundertealten russischen bzw. sowjetischen Staatsgebildes nicht nur Angehörige des russischen Sicherheitsapparats wie Putin an Phantomschmerzen gelitten haben, wurde im Westen kaum verstanden.

Als weiterer Nachweis für Putins imperialen Revisionismus wird oft dessen Aufritt bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 angeführt: Putin habe dem Westen damals einen "neuen Kalten Krieg" erklärt.

In Wirklichkeit wäre der Westen besser beraten gewesen, Putins Kritik an (auch im Westen!) umstrittenen westlichen Vorgehensweisen – Nato-Osterweiterung, nicht mandatierte Interventionen in Kosovo mit Bombenkrieg gegen Serbien sowie im Irak-Krieg, Kündigung bzw. Nichtumsetzung diverser Abrüstungsvereinbarungen – als Weckruf zu verstehen und Russland im Interesse des Erhalts der mit der Charta von Paris 1990 auf den Weg gebrachten kooperativen Sicherheitsordnung nicht als vernachlässigbare Größe zu behandeln.

Russlands Griff nach der Krim und seine Unterstützung sezessionistischer Kräfte in der Ostukraine gilt nach dem dominierenden westlichen Narrativ als erster Akt einer mit dem Angriff vom 24. Februar 2022 offen zu Trage getretenen imperial-revisionistischen Strategie Moskaus.

Das von der Nato bereits 2014 mit dem Zwei-Prozent-Ziel initiierte Aufrüstungsprogramm wird dementsprechend als Reaktion auf eine nicht nur die Ukraine, sondern den Westen betreffende Bedrohung verstanden. Aber dieses Narrativ stieß bereits damals auf Widerspruch.

So wurde daran erinnert, dass der legendäre US-amerikanische Russlandkenner George Kennan in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre vor gravierend negativen Folgen der Nato-Osterweiterung gewarnt hatte.1 Mit Blick auf ihre von Russland strikt abgelehnte Nato-Mitgliedsc.2

Und William Burns, heute Chef der CIA, qualifizierte als US-Botschafter in Moskau die Nato-Beitrittsofferte als "schwerwiegenden strategischen Fehler".3 Diesem Narrativ zufolge ging es Russland darum, die Annäherung der Ukraine an das westliche Bündnis zu verhindern und nicht um eine "revisionistische" Agenda zum gewaltsamen Umsturz der nach 1991 entstandenen Staatenordnung und einer territorial wieder zu errichtenden Sowjetunion.

Nach den dramatischen Entwicklungen auf dem Kiewer Maidan 2014, die über Nacht zur Flucht des pro-russischen Präsidenten geführt hatten und in Moskau als Putsch zur Installierung einer pro-westlichen Regierung wahrgenommen wurden, hat die russische Führung aus dieser Sicht die Reißleine gezogen.

Die Nato und Russland: Ein militärischer Vergleich

Unabhängig davon, dass die für die Nato-Aufrüstung angeführte Begründung einer von Russland ausgehenden Bedrohung des Westens unter politischen Gesichtspunkten bezweifelt werden kann, stellt sich die Frage, ob der mit dem Zwei-Prozent-Ziel suggerierte Nachholbedarf gegenüber Russland im militärischen Sinn überhaupt existiert – jedenfalls dann, wenn das Dispositiv eigener Streitkräfte an dem potenziellen Gegner und nicht an wünschenswerten "Fähigkeitszielen" ausgerichtet werden soll.

Eine Betrachtung des militärischen Kräfteverhältnisses zwischen Nato und Russland zur zeitlichen Mitte des 2014 in Gang gesetzten Nato-Zehnjahres-Aufrüstungsprogramms fördert ein aufschlussreiches Bild zutage: An Verteidigungshaushalten und Besitz von Hauptwaffensystemen gemessen verfügt die Nato über eine signifikante Überlegenheit.

Es gibt keinen Nachholbedarf. Die vom Verfasser aggregierten Daten sind der Ausgabe 2021 der Military Balance des International Institute for Strategic Studies (IISS) zu entnehmen:

Nato Russland China
Verteidigungshaushalt (Mrd. US$) 1.048 43 193
Aktives Personal (Mio.) 3,2 0,9 2,0
Flugzeugträger 16 1 1
Kampf u. Bodenkampflugzeuge 5.043 711 1.558
Angriffshubschrauber 1.290 414 276
Kampfpanzer 9.042 3.300 5.650
Artillerie 26.271 5.754 9.406

Dass die Medien immer nur die Anteile der Verteidigungshaushalte am Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Nato-Partner darstellen, Nato-Russland-Streitkräftevergleiche jedoch nie präsentieren, gibt zu denken. Selbst Fachpublikationen vermeiden dies.4

Mit der Drohung eines Rückzugs aus der Nato für den Fall, dass die Bündnispartner nicht "bezahlten", übte US-Präsident Trump starken Druck auf Umsetzung des Zwei-Prozent-Ziels aus.

Nato-Generalsekretär Stoltenberg stellte rückblickend fest, dass "die Nato seit 2014 die größte Verstärkung der kollektiven Verteidigung seit einer Generation durchgeführt" habe, was er ausdrücklich mit Russlands Angriff auf die Ukraine begründete.

Russische Fähigkeiten Neben der Einschätzung möglicher "Absichten" gehört die Bewertung der "Fähigkeiten" potenzieller Gegner zum Instrumentarium jeder Bedrohungsanalyse: Hätte Russland überhaupt die militärischen Mittel, um gegenüber der Nato imperial-revisionistische Ziele erreichen zu können?

Eine SWP-Studie kam bereits 2019 zu dieser Einschätzung: "Im direkten Vergleich scheint es heute so zu sein, dass die Mitgliedstaaten der Nato in der Summe über ein deutlich größeres Verteidigungspotential verfügen".5

Auch die im Februar 2023 erschienene Ausgabe der IISS Military Balance weist hinsichtlich der Verteidigungsausgaben und des Besitzes von Hauptwaffensystemen wie schon in den Jahren zuvor eine markante Überlegenheit der Nato gegenüber Russland aus.

Werden Finnland und Schweden sowie der Quasi-Bündnispartner Ukraine hinzugerechnet, fällt diese noch deutlicher aus. Zugunsten der Nato zu Buche schlagende qualitative Parameter sind noch gar nicht berücksichtigt.

Angesichts starker Verluste von Personal und Hauptwaffensystemen auf Seiten beider Kriegsparteien und erheblicher Reduzierungen westlicher Waffenbestände durch Abgabe an die Ukraine ist die aktuelle Datenlage unklar.6

Dass es Russland unter Kriegsund Sanktionsbedingungen gelungen sein könnte, die Nato-Überlegenheit auszugleichen oder gar in ihr Gegenteil zu verkehren, erscheint wenig plausibel.

Militärische Leistungsfähigkeit

Die Einschätzung der Fähigkeiten der russischen Streitkräfte kann sich inzwischen auch auf ihre im Krieg gezeigte Leistung stützen. Abgesehen von der Identifikation vieler Schwachpunkte im Einzelnen hat die Tatsache, dass die russischen Streitkräfte nach bald zwei Jahren nicht in der Lage waren, das Territorium der von Russland annektierten vier Oblaste vollständig zu erobern, Experten die Frage aufwerfen lassen, ob diese in der westlichen Fachcommunity nicht weit überschätzt worden sind.7

Ein von Rand-Mitarbeitern publizierter Artikel trägt seine zentrale These im Titel: "Rightsizing the Russia Threat. Whatever Putin’s intentions, he is hemmed in by limited capabilities".8

Selbst Nato-Generalsekretär Stoltenberg ist der Auffassung, dass "die Russen eine schlechte Moral haben, schlecht ausgebildet und ausgerüstet sind und eine schlechte Logistik und eine schlechte Führung haben".9

Ging Eberhard Zorn, damaliger Generalinspekteur der Bundeswehr, von einer gleichgelagerten Einschätzung aus, als er einen Angriff Russlands auf das Nato-Territorium am 21. September 2022 als "unwahrscheinlich" bezeichnete?10

Die angesehen US-amerikanischen Außenpolitik-Experten Richard Haas und Charles Kupchan gehen davon aus, dass "eine Ausweitung des Krieges durch einen Angriff auf ein Nato-Mitglied nicht in Russlands Interesse wäre, da das Land schon kaum mit der Ukraine alleine fertig wird".11

Aufrüstung für Bündnisverteidigung und Krisenintervention

Die Nato hat die mit der russischen Intervention in der Ukraine 2014 aufgeworfene Frage nach ihrer eigenen Bedrohung mit dem klassischen Reflex einer Aufrüstungsinitiative zur Stärkung ihrer Kernmission der Bündnisverteidigung beantwortet.

Dass sie gegenüber Russland klar überlegen ist, wird nicht thematisiert. Nach Erfahrungen in Irak, Afghanistan, Mali usw. ist im Westen die Bereitschaft zu militärischen Kriseninterventionen stark zurückgegangen.

Solche künftig evtl. wieder möglichen Einsätze erfordern aber keine zusätzliche Aufrüstung, da Nato und EU über umfangreiche militärische Mittel für ihrer Natur nach begrenzte Krisenintervention besitzen. Auch stellt sich die Frage, inwieweit die verbreitete Vorstellung, wonach "Krisendiplomatie erfolgreicher durchzuführen ist, wenn sie militärisch unterfüttert ist"12, den heutigen Realitäten gerecht wird, in denen Kanonenbootpolitik auf enge Grenzen stößt.

Die Erfahrung zeigt auch, dass bei Krisenintervention meist nicht ein Mangel an militärischen Mitteln, sondern an politischem Willen das Problem ist. Selbst wenn Verfechter der Nato-Aufrüstung die militärische Überlegenheit der bald 32 Nato-Mitglieder gegenüber Russland einräumen, lassen sie sich nicht beirren.

Während manche diese als Rückversicherung nicht zuletzt mit Blick auf China rechtfertigen, verweisen andere auf eine immer unsicherer werdende Welt zunehmender Risiken.

Die Herausforderungen der Bundeswehr

Seit Ende der 1960er Jahre haben alle Bundesregierungen gegenüber der Sowjetunion bzw. Russland eine Politik der Entspannung, Rüstungskontrolle und Zusammenarbeit betrieben und damit einen wesentlichen Beitrag zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas geleistet.

Da sich die Bundesrepublik nach der Auflösung des Warschauer Pakts und der Sowjetunion ab 1991 "von Freunden umzingelt" sah (ehemaliger Verteidigungsminister Volker Rühe), wurde die Bundeswehr von 500.000 auf knapp 182.000 Mann abgebaut und von Landesund Bündnisverteidigung auf Kriseninterventionsfähigkeit umgestellt.

2011 wurde die Wehrpflicht ausgesetzt. Auch nach Russlands Annexion der Krim und seiner Intervention in der Ostukraine 2014 blieb Deutschland um stabile Arbeitsbeziehungen mit Russland bemüht. Ein nur etwas mehr als ein Jahr vor Russlands Angriffskrieg unter der Überschrift "Auf Russland zugehen" veröffentlichter Artikel des stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Johann Wadephul illustriert, wie parteiübergreifend dieses Streben angelegt war.13

In Deutschland war die Bereitschaft zur Umsetzung des Nato-Zwei-Prozent-Aufrüstungsziels nur schwach ausgeprägt. Zwei Jahre vor dem Zieljahr 2024 lag der BIP-Anteil unter 1,5 Prozent und in der mittelfristigen Finanzplanung war kein nennenswerter Aufwuchs vorgesehen.

Der in Berlin bis zuletzt nicht für möglich gehaltene Angriff Russlands vom 24. Februar 2022 wurde zum Paulus-Moment. Drei Tage darauf vollzog Deutschland einen fundamentalen Kurswechsel: "Zeitenwende".

Kern der unter breiter Zustimmung im Deutschen Bundestag von Bundeskanzler Scholz vorgetragenen Schlussfolgerungen aus der von Russland zu verantwortenden "Zeitenwende" war die Feststellung, dass Sicherheit in Europa nicht mehr mit, sondern vor Russland herzustellen sei. Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit sollte daher wieder Hauptaufgabe der Bundeswehr werden.

Zu diesem Zweck soll sie mittels eines schuldenfinanzierten "Sondervermögens" von 100 Milliarden Euro und der Zusage, "von nun an Jahr für Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung zu investieren", zügig wieder instandgesetzt werden.

Während sich die SPD mit dem abrupten Kurswechsel anfangs noch etwas schwer tat, wurde dieser von den von Haus aus pazifistischen Positionen zuneigenden Grünen nachdrücklich begrüßt, wohl auch unter dem Einfluss von Joschka Fischer, der sich von einer "von Russland ausgehenden dauerhaften Sicherheitsbedrohung für Europa" überzeugt zeigte und daher monierte, dass man sich "in Deutschland immer noch Illusionen über das Ausmaß von Rüstung, das künftig notwendig ist, macht".14

Viele hielten es auch für opportun, sich für eine im Nachhinein als blauäugig wahrgenommene Russland-Politik zu entschuldigen. Gleichzeitig schossen Behauptungen einer von Russland ausgehenden Bedrohung ins Kraut, zu deren Abwehr nicht einmal die Überlegenheit der Nato und deren Aufrüstung hinreichend schien.

Ein ehemaliger Generalinspekteur warf die Suggestivfrage auf, ob sich "Deutschland seinen Verzicht auf Nuklearwaffen dauerhaft leisten" könne.15

Der zur Profilierung der "Zeitenwende" ins Rennen geschickte neue Verteidigungsminister Pistorius dekretierte die Stationierung einer Kampfbrigade in Litauen und rüstete sprachlich massiv auf: Ein "Mentalitätswandel in der Gesellschaft" sei überfällig, da "wir uns wieder an den Gedanken gewöhnen müssen, dass die Gefahr eines Krieges in Europa drohen könnte und das heißt: Wir müssen kriegstüchtig werden, wir müssen wehrhaft sein und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen".16

Bei der Vorstellung neuer "Verteidigungspolitischer Richtlinien" forderte die Führung des Verteidigungsministeriums in Ausübung "deutscher Führungsverantwortung" die Schaffung einer "kriegstüchtigen Bundeswehr" als "Rückgrat der Abschreckung und kollektiven Verteidigung in Europa".17

Die Frage steht im Raum, wie überhaupt zu erklären ist, dass die Bundeswehr mit einem Verteidigungshaushalt, der nach den USA, China, Russland, Indien, Großbritannien und Frankreich auf Platz sieben rangiert, "mehr oder weniger blank dasteht"?18

Viele – auch vom Bundesrechnungshof immer wieder monierte – Fälle eklatant unwirtschaftlichen Mitteleinsatzes vermitteln den Eindruck, dass das Hauptproblem nicht in einem Mangel finanzieller Mittel ("kaputt gespart"), sondern effektiver Mittelverwendung besteht.

Inzwischen wird dies offenbar auch in der Bundeswehr so gesehen, wenn der neue Generalinspekteur fordert, dass "Strukturen entschlackt und Prozesse beschleunigt werden müssen und die Zeitenwende nicht nur eine Frage des Haushalts" sei.19

Wenn schon die Stärkung der Einsatzfähigkeit der deutschen Streitkräfte das Ziel ist, läge vor dem leichten Ruf nach mehr Geld die Bearbeitung weiterer wichtiger Problemfelder nahe – von einer maßvollen Relativierung parlamentarisch mandatierten Streitkräfteeinsatzes über den Abbau von Einsatzrestriktionen ("Caveats") bis zum wohl einmalig weitreichenden Befehlsverweigerungsrecht.

Immerhin scheint im Jahr 2023, in dem der Verteidigungshaushalt 50 Milliarden Euro erreicht hat und unter Anrechnung aus dem Sondervermögen eingesetzter Mittel das Zwei-Prozent-Ziel erreicht werden soll, die Talsohle durchschritten, wenn Verteidigungsminister Pistorius feststellt20:

Wir sind heute schon, auch wenn das manche nicht glauben wollen, eine der stärksten Streitkräfte innerhalb der Nato in Europa.

Kann sich Europa (nicht) verteidigen?

Forderungen nach verstärkter Aufrüstung werden oft mit der Behauptung begründet, wonach Europa ohne Unterstützung der USA keine Chance habe, sich konventionell gegen Russland zu verteidigen. Tatsächlich geben die europäischen Nato-Partner jedes Jahr drei- bis viermal so viel für Verteidigung aus wie Russland und sie verfügen – entgegen verbreiteter Annahmen – zusammen über ein sehr umfangreiches Arsenal moderner konventioneller Waffen.

Die Nuklearbewaffnung Frankreichs und Großbritanniens kommt hinzu. Das eigentliche Problem ist aber nicht ein Mangel an Geld oder Waffen. Schon auf praktischer Ebene sind die Europäer nämlich nicht in der Lage, ihre militärischen Fähigkeiten unter ein einheitliches Kommando zu stellen.

Die seit Jahrzehnten geführte Diskussion zur Einrichtung eines EU-Führungskommandos ist wegen unerwünschter "Duplizierung" mit der Nato im Sande verlaufen. Das dahinterstehende Grundproblem besteht darin, dass die Europäer immer wieder die Erfahrung machen, sich in kritischen Situationen politisch nicht einigen zu können, sodass es an der Zuversicht fehlt, ggf. militärisch handeln zu können.

Ein Paradebeispiel war die dramatische Evakuierung am Flughafen Kabul 2021, als von einem Einsatz schon vor langer Zeit beschlossener schneller EU-Eingreifkräfte nichts zu sehen war.

Vor diesem Hintergrund wird klar, warum für viele die Präsenz der USA essenziell bleibt, da diese viel eher in der Lage sind, gemeinsames militärisches Handeln durchzusetzen. Ein Mehr an Waffen ändert an diesen strukturellen Gegebenheiten nichts, ebenso wenig das zur Förderung größerer Aufrüstungsbereitschaft hervorgeholte Schreckgespenst einer Abwendung der USA von Europa.

Der Ruf nach mehr Waffen ist in Wirklichkeit eine Ersatzhandlung, auf die man sich einigen kann, da sie "nur" Geld kostet und von Militärs und Rüstungsindustrie gefördert wird. Ein Bereich, in dem die wünschenswerte Stärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeit jedoch vorangetrieben werden könnte, ist die Konsolidierung einer europäisch organisierten Rüstungsindustrie.

Schlussfolgerungen

Erstens: Die Nato ist Russland militärisch klar überlegen. Daraus ergeben sich Fragen: Wie zweckrational ist ihre forcierte Aufrüstung? Wie groß muss oder soll ihre Überlegenheit sein, um ihren Mitgliedern das Gefühl hinreichender Sicherheit zu geben?

"Was macht man mit Überlegenheit?", hielt Kissinger Kritikern einst entgegen, die überzeugt waren, die Sicherheit der USA nur durch überlegene Nuklearbewaffnung gewährleisten zu können.

Und schließlich: Welche Wirkung hat das Streben nach Überlegenheit auf Dritte, insbesondere Russland und China? Will die Nato Antreiber von Aufrüstung sein?

Zweitens: Angesichts einer vor allem durch den Krieg in der Ukraine verursachten schweren Wirtschaftskrise (drastisch gestiegene Energiekosten, Wegbrechen des russischen und Beeinträchtigung des chinesischen Markts) und der starken Überbeanspruchung der öffentlichen Haushalte (militärische und zivile Ukrainehilfe, zuwanderungsbedingte Verpflichtungen, Tilgung großer Sonderschulden wie hinsichtlich Corona und Klimafonds), die zusammen die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands gefährden, ist eine zielorientierte Priorisierung unumgänglich.

Hieraus folgt: Aufwendungen zur Absicherung vor äußeren Gefahren müssen mit jenen zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit und politischen Stabilität (Grundlagenforschung, Bildung, Infrastruktur, Wohnungsbau, Digitalisierung, Zuwandererintegration, Sozialpolitik) in ein rationales Verhältnis gebracht werden. Dies erfordert Augenmaß und kein Denken in überspannten Worst-Case-Szenarien.

Drittens: Ob es nach Abschmelzen der 100 Milliarden Euro-Sondermittel und nach Behebung der organisatorischen Mängel der Bundeswehr geboten sein wird, den deutschen Verteidigungshaushalt dauerhaft auf Zwei-Prozent-BIP-Niveau zu halten, der diesen nach IISS-Einschätzung zum drittgrößten der Welt machen würde21, wird sich erst im Licht der weiteren Entwicklungen beurteilen lassen.

Hierfür wird der Fortgang bzw. Ausgang des Krieges in der Ukraine der wichtigste Faktor sein. Wenn Deutschland immer wieder zu "Übernahme von mehr Verantwortung" aufgefordert wird, sollte sich dies auf die baldige Erreichung einer Verhandlungslösung richten, da die Bundesrepublik an einer solchen ein überragendes Interesse haben muss.

Entsprechende Signale sollten daher aufmerksam registriert und auf ihre Tragfähigkeit geprüft werden. Wenn ein historisch überaus versierter Beobachter wie der mit Arbeiten zur Entstehungsgeschichte des Ersten Weltkriegs hervorgetretene Christopher Clark zu Verhandlungen aufruft, in denen Russland – "ähnlich der klugen Politik der Behandlung Frankreichs beim Wiener Kongress" – wieder in das Mächtesystem eingebunden wird, sollte dies zu denken geben.22

Der Artikel erscheint in Kooperation mit WeltTrends und wurde in der Magazinausgabe vom Januar 2024 veröffentlicht.

Hellmut Hoffmann, Botschafter a.D., geb. 1951, war von 1982 bis 2016 im Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik Deutschland tätig, darunter Teilnahme an den Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa. Hoffmann war zudem von 2009 bis 2013 Leiter der deutschen Abrüstungsmission in Genf.

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