Zerstörung des russischen Atomwaffenradars ist das Dümmste, was die Ukraine tun kann
Zugleich zeigen die Angriffe auf das Frühwarnsystem, wie brüchig der Frieden zwischen den Atommächten ist. Das hätte vermieden werden können. Ein Gastbeitrag.
Für einen kurzen Moment war die Welt am 22. Mai einem katastrophalen Nuklearunfall näher, als ein unbedachter ukrainischer Drohnenangriff auf zwei russische strategische nukleare Frühwarnradare in Armawir ausgeführt wurde.
Ein anschließender ukrainischer Drohnenangriff auf eine dritte Radarstation in Orsk in Russland am 26. Mai schlug glücklicherweise fehl.
Diese Vorfälle zeigen einige wichtige Dinge auf. Erstens hätten die Ukrainer unnötigerweise eine Krise heraufbeschwören können, in der die Russen, die eine ihrer Abwehrmaßnahmen gegen einen US-Atomangriff als ausgefallen betrachteten, einen harten Vergeltungsschlag geführt hätten. Zweitens unterstreicht es die Notwendigkeit für Russland, ein eigenes umfassendes weltraumgestütztes Nuklearradar zu erwerben.
Was geschah und was es bedeutet
Der ukrainische Angriff auf Armawir war kein Pappenstiel. Er setzte beide russischen Radaranlagen sofort außer Gefecht. Und es ist wahrscheinlich, dass wenige Minuten nach dem Angriff eine Krisensitzung mit dem Kommandeur der russischen strategischen Raketentruppen und seinen hochrangigen Offizieren stattfand.
Die Angriffe sollten nicht auf die leichte Schulter genommen werden. US-Präsident Joe Biden und Außenminister Antony Blinken sollten ihnen besondere Aufmerksamkeit widmen.
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Selbst nach jahrzehntelangen kostspieligen russischen Versuchen, ein weltraumgestütztes Frühwarnsystem zur globalen Überwachung von U-Boot-Starts zu entwickeln, war Russland nicht in der Lage, die für den Bau eines solchen Systems erforderliche hochspezialisierte Hochtechnologie zu mobilisieren.
Um diese gravierende Lücke in Russlands nuklearer Frühwarnfähigkeit teilweise zu schließen, hat Wladimir Putin selbst eine öffentlichkeitswirksame nationale Anstrengung zum Aufbau eines dichten und leistungsfähigen nuklearen strategischen Frühwarnradarsystems initiiert und öffentlich unterstützt, bei dem zahlreiche riesige Radaranlagen (in der Regel 30 bis 35 Meter hoch) zum Einsatz kommen.
Radaranlage einzige Grundlage für Russland
Da diese Radaranlagen im Wesentlichen die einzige Grundlage der strategischen nuklearen Frühwarnfähigkeiten Russlands bilden, ist jede Manipulation ihrer Funktionen in einer unvorhersehbaren globalen Situation mit einem sehr ernsten Risiko von Fehlinterpretationen der Absichten verbunden, die zu einem massiven Einsatz russischer Kernwaffen führen könnten.
Abbildung 1 zeigt eine Satellitenaufnahme der beiden Radaranlagen in Armewir. Der Radarstrahl von Radar Fan 1 ist gegen den Uhrzeigersinn aus einem Nordwinkel von ca. 125° ausgerichtet. Der Radarstrahl von Radar Fan 2 ist im Uhrzeigersinn aus einem Nordwinkel von ca. 125° ausgerichtet.
Abbildung 2 zeigt die Abdeckung der beiden Radarfächer in Armewir und des Radars in Orsk auf einer Kugelfläche. In der rechten oberen Ecke ist eine Seitenansicht eines Radarfächers dargestellt. Die Seitenansicht zeigt eine sehr wichtige Konsequenz aus der Tatsache, dass die Erde gekrümmt ist und sich der Radarstrahl im Wesentlichen geradlinig ausbreitet. Aus diesem Grund kann das Radar keine Objekte nahe der Erdoberfläche erkennen.
So kann das Radar beispielsweise keine Flugzeuge erkennen, die über der Ukraine fliegen. Auch ATACM-Raketen, die von der ukrainischen Schwarzmeerküste abgefeuert werden und bis zu einer Höhe von maximal 40 km aufsteigen, bevor sie in ihr Ziel gleiten, können von diesen Radaren nicht zuverlässig erfasst werden.
Die Armewir-Radare stellen daher keine Bedrohung für die Überwachung ukrainischer Flugzeuge, Marschflugkörper, Drohnen oder ATACM-Raketen dar. Die eigentliche Bedrohung für ukrainische Flugzeuge und Raketen geht von den russischen Flugradarsystemen aus, die eng mit den russischen bodengestützten Boden-Luft-Raketensystemen gekoppelt sind.
Warum diese Radarsysteme so wichtig sind
Die Bedeutung eines weltraumgestützten satellitengestützten Frühwarnsystems lässt sich leicht verstehen, wenn man sich Abbildung 2 genauer betrachtet.
Zur Veranschaulichung stelle man sich vor, eine ballistische Rakete vom Typ Trident würde vom Indischen Ozean aus, etwa auf dem Breitengrad von Bombay an der Westküste Indiens (20° nördlicher Breite), in Richtung Moskau abgefeuert. Die Reichweite bis Moskau würde etwa 4.500 bis 4.600 km betragen.
Würde die ballistische Rakete auf einer "Minimalenergieflugbahn" (mit einem Abwurfwinkel von ca. 34°) gestartet, wäre die geringste Ausbrenngeschwindigkeit erforderlich, um Moskau zu erreichen. In diesem Fall würde die Zeit zwischen der Zündung der Rakete und dem Aufprall etwa 21 bis 22 Minuten betragen.
Details zu Angriffsszenarien
Die Trident-Rakete ist jedoch so konstruiert, dass sie ihre Sprengköpfe mit sehr viel höheren Geschwindigkeiten abfeuern kann.
So könnte sie beispielsweise ihre nukleare Nutzlast mit einer etwas höheren Geschwindigkeit und einem geringeren Abwurfwinkel von 25° in Richtung Moskau abschießen (was oft als leicht "abgesenkte" Flugbahn bezeichnet wird) und Moskau dennoch problemlos in 18 bis 19 Minuten erreichen.
Bei einem Start in Richtung Moskau auf einer leicht abgesenkten Flugbahn würden die Russen mindestens sechs Minuten lang nicht wissen, dass sie angegriffen werden, bis die Sprengköpfe und die Oberstufen der Rakete in den Suchbereich des Armewir-Radars gelangen.
Wertvolle Minuten
Wäre das Armewir-Radar nicht in Betrieb, würde es acht bis neun Minuten dauern, bis das russische Radar in Moskau anzeigt, dass sie angegriffen werden.
Das Moskauer Radar müsste die einfliegenden Raketen ein bis zwei Minuten beobachten, bevor es genügend Daten hätte, um Alarm auszulösen – das heißt, die russische Führung hätte maximal sechs bis sieben Minuten Zeit, um eine Entscheidung zu treffen!
Man kann also verstehen, warum die Russen über die Angriffe der Ukraine verärgert sind, denn sie würden buchstäblich die ohnehin knappe Zeit verlieren, um auf einen nuklearen Angriff zu reagieren.
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Hätten die Russen ein weltraumgestütztes Frühwarnsystem, wüssten sie, dass sie angegriffen werden, etwa 19 Minuten bevor die angreifenden Sprengköpfe eintreffen und Moskau zerstören. Sie wüssten auch sofort, wenn ballistische Raketen aus anderen Teilen der Welt gestartet würden.
Obwohl alle diese Vorwarnzeiten erschreckend kurz sind, ist klar, dass eine Vorwarnzeit von 19 Minuten gegenüber einer Vorwarnzeit von acht bis neun Minuten den Unterschied ausmachen könnte, ob Russland gezwungen ist, sich auf eine automatische Entscheidung zu verlassen.
Angriff auf USA und EU-Staaten riskiert
Eine solche automatische Entscheidung könnte zu einer versehentlichen Zerstörung der Vereinigten Staaten und Westeuropas führen. Dem gegenüber steht eine wohlüberlegte Einschätzung durch politische Führer und hochprofessionelle militärische Befehlshaber.
Jeder halbwegs sachkundige Experte, der Putins zahlreichen Äußerungen über Atomwaffen aufmerksam zugehört hat, weiß, dass er dieses Warnsystem und seine Grenzen genau kennt. Er hat regelmäßig an den Einweihungen von Frühwarnradaranlagen teilgenommen und dabei offen seine Sorge über die Notwendigkeit eines angemessenen und zuverlässigen Frühwarnsystems zum Ausdruck gebracht.
Derzeit verfügen die Russen über ein sehr begrenztes weltraumgestütztes Frühwarnsystem. Das System beobachtet nur die US-amerikanischen ICBM-Felder in der Nähe seiner Nordgrenze. Es kann aber nicht auf eine globale Abdeckung gegen US-amerikanische U-Boot-Raketen erweitert werden. Es bietet nicht einmal eine 24-Stunden-Abdeckung der US-amerikanischen ICBM-Felder, da dafür neun Satelliten erforderlich sind, von denen derzeit nur vier aktiv sind.
Ich habe versucht, die Führung der US-Regierung vor diesem ernsten Problem zu warnen, das schon vor 30 Jahren hätte gelöst werden können, wenn die USA den Russen bestimmte Technologien "geliehen" hätten.
Ich schlug vor, den Russen spezielle weltraumtaugliche Infrarot-Arrays und Elektronik zur Verfügung zu stellen, damit sie ihre eigenen Systeme bauen können.
Versagen der Clinton-Regierungen (und ihrer Nachfolger)
Mit dieser Technologie würden die Russen keine sensiblen Militärgeheimnisse erhalten. Es gäbe keine Möglichkeit für die Russen, diese Implementierungskomponenten "zurückzuentwickeln". Wie bei den modernsten Computerchips könnte dies nur ein riesiger Technologiekonzern bewerkstelligen.
Anstatt zu erkennen, dass es im Interesse der ganzen Welt liegt, dass sowohl Russland als auch die Vereinigten Staaten über zuverlässige und leistungsfähige Frühwarnsysteme verfügen, ignorierte die Clinton-Regierung dieses ernste Problem damals weitgehend. Und das, obwohl es meiner Meinung nach auch heute noch das Überleben der Zivilisation bedroht. Die nachfolgenden Regierungen waren nicht besser.
Alles in allem hätte diese ernste Bedrohung der menschlichen Zivilisation und möglicherweise des Überlebens der Menschheit von einer kompetenten politischen Führung vor fast 30 Jahren zum Nutzen der ganzen Welt gelöst werden können. Dies ist jedoch nicht geschehen, was den Angriff auf die Radaranlagen zu einer potentiellen Krise macht.
Theodore A. Postol ist emeritierter Professor für Wissenschaft, Technologie und nationale Sicherheitspolitik am MIT. Er lehrte auch in Princeton und Stanford und war Berater des Chief of Naval Operations, wo er die taktischen und strategischen Nuklearkriegspläne der USA, die strategischen U-Boot-Kriegspläne der USA, die russische und amerikanische Raketenabwehr und die ballistischen U-Boot-Raketensysteme Trident I und Trident II evaluierte.