Zu fett

Seite 2: Der umgekehrte Index

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Heute klagt man in aller Welt — reduzieren wir das einmal auf die USA und Deutschland — über die ausufernde Fettleibigkeit. Der Mann von 1.80 m sollte, wenn alles mit rechten Dingen zuginge, 80 Kilo wiegen. Tatsächlich dreht sich aber der Index um, der Bürger wiegt "normalerweise" jetzt eher 100 Kilo, in Extremfällen sogar 180 Kilo.

Dieses Phänomen hatte man in Deutschland schon einmal gehabt. Nicht nur Männer, die mit Nachnamen "Erhard" hießen, explodierten plötzlich ins Fett. Ludwig - "Wohlstand für Alle" - Erhards Mondgesicht (mit der immergleichen Zigarre) symbolisierte gewissermaßen den "Mr. D-Mark" der Fünfzigerjahre. Bilder von ihm ohne Pausbäckchen und Doppelkinn gibt es gar nicht. Tippen Sie einmal bei Google "Ludwig Erhard schlank" ein. Es gibt den Mann nur in der "fett"-Version. Der andere Erhard ist der Komiker, Heinz. Erhardt mit DT. Auch er, fett. Mollig auch seine Fahrlehrerin, Trude Herr, in diesem Film-Clip, der typisch war, für seine Zeit.

Überhaupt wurden die Menschen, die auf Fotos aus den ausgehenden Vierzigern und einsetzenden Fünfzigern noch rank und schlank gewesen waren, auf Fotos der nächsten 15 Jahre zusehends fetter und fetter.

Die Standard-Erklärung dafür klang logisch. Sie machte Sinn. Während der Kriegs- und Nachkriegs-Jahre, sagte man, hätten die Leute einfach nichts mehr zu mampfen gehabt. Außerdem war das Leben hart und sie waren oft krank. Man verglich die Normalbürger mit den skelettartig abgemagerten KZ-Häftlingen. Und es gab unzählige wahre Fälle von Kriegsgefangenen, die den ganzen Weg von Sibirien bis Deutschland heimlich, und oft bei Nacht, zurück gelegt hatten.

Der Roman, "Soweit die Füße tragen",(1955) von Josef Martin Bauer, schilderte das Schicksal eines solchen deutschen Soldaten. Zugleich war es einer der erfolgreichsten Bestseller jener Zeit. Nahezu zeitgleich (1956) erschien in England ein thematisch ähnlicher Roman, "The Long Walk" von Sławomir Rawicz, der die Flucht einer Gruppe von Kriegsgefangenen quer durch die Wüste Gobi, über das Himalayagebirge und bis nach Indien schildert. Unterwegs begegnen sie sogar einem Yeti. Der australische Filmemacher Peter Weir brachte die Geschichte 2011 ins Kino, allerdings mit Verlust.

Auch diese abgemagerten Gestalten übersteigerten das Image von den superschlanken Menschen der Vierzigerjahre. Die Schauspieler im Film von 2011 waren hingegen sportive Gegenwartsmenschen, keine Knochenmänner. Von der damaligen Generation der oft lange Hungerperioden durchleidenden Erwachsenen konstatierte die spätere Kindergeneration der 68er, es sei "erstaunlich" gewesen, "wieviel die Alten spachteln konnten." Mit "spachteln" war "gedankenlos in sich hineinfressen" gemeint, also das "Essen auf Vorrat", wie Wölfe oder andere wilde Tiere. Kein Wunder, daher, dass sie, als wieder genügend Nahrungsmittel vorhanden waren, dreimal täglich in ihren bewusstlosen Fressmodus zurückfielen und einfach sinnlos dick wurden.

Die Fettleibigen waren ein auffallendes Merkmal der Jahre von Mitte der Fünfziger bis Mitte der Sechziger. Sie waren auffallend, weil sie einen gewissen Prozentsatz der westdeutschen Bevölkerung ausmachten. Auch in der DDR trug die Gastronomie diesem Fressbedürfnis Rechnung, indem sie die Restaurantgerichte anhand ihres Fleisch-Bestandteils benannte (etwa "gebackene Leber mit Zwiebelringen") und den Rest der jeweiligen Portion als "Sättigungsbeilage" deklarierte. Auch hier wurde, wie im Westen, das Fressen zum Opium des Volkes.

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