Die Bühnen des Mobs und der Wichtigtuer

Die digitale Revolution entlässt ihre Kinder ins Mitmach-Web

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Riesengroß war die Begeisterung schon im letzten Jahr, als der Begriff „Web 2.0“ plötzlich in aller Munde war und die Agenda der großen Medien besetzte. Ursprünglich von den beiden Medienmanagern Dale Dougherty und Graig Cline ein Jahr davor in San Francisco geprägt, um auf neue Trends im Internet aufmerksam zu machen, meint der Begriff nichts anderes, als ein zuvörderst von Menschen gesteuertes Netzwerk, in dem die Nutzer all jene Inhalte schaffen, die sie sich dann via Internet, iPod, Handy oder Laptop direkt zusenden.

Neue Software, gepaart mit Breitbandkabel und simpel zu bedienenden Anwendungen, machen es möglich. Sie laden zur freien und kreativen Verwendung der digitalen Technik ein, zum Podcasten, Bloggen, Streamen, Scratchen usw. und verlocken Kaufleute und Verleger, von neuen Geschäftsfeldern, Geschäftsmodellen und Geschäftsbeziehungen zu fabulieren. „Das Internet“, so der australische Medientycoon bei seiner Rede vor britischen Verlegern in London, „verändert unser Geschäftsgebaren, die Art, wie wir miteinander reden, wie wir uns amüsieren.“ Weswegen wir unser aller „Talente“ einsetzen sollten, um fortan „dynamische, spannende Inhalte zu erzeugen und zu verbreiten.“

We might be genetically wired to be vulnerable to the lure of the mob.

Jaron Lanier

Du bist nicht allein

Dank solcher Perspektiven und frommer Wünsche dürfte sich mancher alt gediente Freak und Netzwerker wieder in die Anfangs- und Gründerjahre des Webs zurückversetzt sehen (Was kostet das Web 2.0), als mit ebendiesen oder ähnlichen Schlagwörtern (Zweiwegkommunikation, Demokratie von unten, Jeder Empfänger ist Sender und Produzent …) schon mal Kasse gemacht werden sollte – ehe sie ihr jähes Ende im Platzen der Internet- und Dotcomblase fanden.

Doch diesmal soll natürlich alles ganz anders sein. Von einer neuen Goldgräberstimmung ist daher auch die Rede, vom next big thing. Und angesichts der zigmillionen User, die sich rund um die Uhr auf sozialen Plattformen oder in anderen Kontaktbörsen tummeln, ständig ihre Meinung zu Diesem und Jenem in Weblogs und Webforen hackern, zugleich Einträge, Autoren oder Produkte bewerten oder unentgeltlich am Buch über die Welt stricken, scheinen die Erwartungen nicht ganz unberechtigt zu sein. Zumal seitdem unzählige neue Adressen, Dienste und Treffpunkte im Netz entstanden sind, die sich seiner kollaborativen Möglichkeiten bedienen und damit alte „Zukunftsfiguren“ wie die der „kollektiven Intelligenz“ (Pierre Lévy), des Globalen Gehirns (Howard Bloom) und des Homo symbioticus (Joel de Rosney) oder den Traum eines neuen Alexandria (Scan This Book bei Kevin Kelly wiederaufleben lassen.

Homepages, die wie einsame Häuser in der unübersichtlichen Netzlandschaft herumstehen, und Webseiten, die allenfalls zur Weitergabe von Informationen taugen, aber nicht zur Kommentierung einladen, reichen dafür auch nicht aus. Um die scheinbar unstillbare Gier der User nach Amüsement, Wissen und Blabla zu stillen, braucht es schon ein dichtes Netz aus sozialen Verweisen, Plattformen mithin, die den raschen, direkten und symmetrischen Austausch mit anderen Usern ermöglichen, eine Vielzahl kostenloser Dienstleistungen bereitstellen und so selbstverständlich genutzt werden können wie Radio, Telefon und Fernsehen. Strenger kontrollierte Netzwerke wie MySpace.com und YouTube.com, aber auch unkontrollierte wie Liveleak.com oder Stickam.com kommen diesen sozialen Bedürfnissen auch bereitwillig nach. Sie stellen die Technik zur Verfügung, damit Millionen junger Menschen ihre Interessen und Neigungen teilen, sich ihre Meinung über Musik, Beziehungen und Reisen gegenseitig mitteilen oder sich einfach zum virtuellen Schmus oder Händchenhalten treffen können.

Auf diese interaktiven Gemeinschaften und ihre virtuellen Marktplätze ist mittlerweile auch die Privatwirtschaft aufmerksam geworden. Der direkte Zugang zu Millionen von (meist jungen) Menschen zwischen sechzehn und fünfunddreißig könnte sich für sie als höchst lukrativ entpuppen. Mit Hilfe dieser Dienste kann sie genau den Partner, Kunden oder Konsumenten erreichen, den sie haben will. Ohne viel Aufwand kommt sie an Millionen abgespeicherter Daten heran, die die User dort bereitwillig hinterlegt haben, als ob es die Debatten über Datenschutz niemals gegeben habe. Elegant und ohne großen Aufwand lässt sich auf diesen Seiten die entsprechende Bannerwerbung parken und ohne große Streuverluste platzieren – weswegen sie neuerdings nicht nur um den Markt der interaktiven Web-Gemeinschaften heftig buhlen, sondern auch bereits kräftig in die neuen Mitmachportale investieren: Medienmogul Rupert Murdoch ca. 600 Millionen Dollar für MySpace.com; der Dienstleister Google etwa 1.5 Milliarden Dollar für YouTube.com; und die Holtzbrinck AG zuletzt etwa 85 Millionen in ein defizitäres Unternehmen wie StudiVZ.

Das WalMart-Prinzip, Erfolgsrezept der „Normalwirtschaft“, davon sind die großen Medienkonzerne offenbar trotz aller Risiken des Investments überzeugt, sollte auch im Web funktionieren: Nicht das Individuum, die Auswahl oder die Qualität, allein die Masse bringt’s.

Mittendrin statt nur dabei

Und wie es scheint nicht nur die. Auch „das unternehmerische Selbst“ (U. Bröckling), das vor allem in „dürren Zeiten“ ein besonderes Talent für Selbstdarstellung und Selbstvermarktung in sich spürt oder sich seiner expressiven „Begabungen“ bei Arbeitskollegen, Freunden und Bekannten nicht hinreichend gewürdigt sieht, hat das Mitmach-Web für seine Aktivitäten entdeckt. Ihnen, aber vor allem auch Besserwissern, Wichtigtuern oder Paranoikern, die sich im normal life intellektuell verkannt, sozial missachtet fühlen oder einfach viel Zeit haben, bietet das Web 2.0 ein überaus reichhaltiges Angebot, ihren Neigungen rund um die Uhr nachzugehen. „You can't always get what you want“ – diese Songzeile der Rolling Stones von 1969 gilt fortan vielleicht nur für ihr reales Leben, aber nicht mehr für ihre virtuelle Existenz. Im Mitmach-Web bekommen sie jenen sozialen Kredit oder können jenes soziale Kapital anhäufen, das sie im Alltagsleben vermissen oder das ihnen aus welchen Gründen auch immer von Kollegen, Freunden oder Bekannten vorenthalten wird. Und nicht nur das.

Wer sein Produkt, seine Person oder sein Geschäftsmodell den neuen Zugangsmöglichkeiten anpasst und sie geschickt verpackt oder frisiert, kann unter Umständen gar auf die Effekte des „viralen Marketings“ hoffen, wie sie vor einiger Zeit William Gibson „Mustererkennung“ (Im Hier und Jetzt gelandet) literarisch verarbeitet hat. Viele Jungspunde, Hobbyfilmer und Möchtegernstarlets haben sich seither auch auf den einschlägigen Seiten verewigt, sie haben sich ein Profil dort zu- oder ihr Produkt abgelegt, in der Hoffnung, dass es durch virtuelle „Mund-zu-Mund-Propaganda“ entsprechend gewürdigt, verbreitet und promotet wird.

Honoriertes Dilettantentum

Für manchen hoffnungsfrohen Nachwuchs war das auch schon von Erfolg gekrönt. Vor allem seitdem auch klassische, Qualitäts- oder Mainstream-Medien endlich begriffen haben, dass sich Bilder, Texte und Töne im Netz schneller verbreiten und potentielle Kunden direkter erreicht werden als in anderen Medien. Seitdem rüsten sie ihre Webpräsenz mit Newslettern, Blogs, Chats und Podcasts auf, versehen Nachrichten und Artikel mit Trackback-Funktionen, stöbern in Blogs, Foren oder sozialen Kuschelecken nach neuen Stilen und Trends oder Quote machenden Meldungen herum und honorieren das Paparazzitum von Amateurfilmern und Hobbyfotografen mit erklecklichen Sümmchen. Gut dokumentiert ist der Fall der Christine Dolce aka ForBiddeN, die es von der kleinen Kosmetikern bis zum Playboy-Covergirl gebracht hat, mittlerweile ein Jeans-Label vertreibt und pro Auftritt bis zu 5000 Dollar verdient.

In Ländern, die mit der Meinungs- und Pressefreiheit vielfach auf Kriegsfuß stehen, zeigen solche Graswurzelphänomene ab und an durchaus Wirkung. Nachrichten und Erlebnisberichte kommen ans Licht der Öffentlichkeit, über die klassische Medien mangels Masse, Zugang oder Willen kaum oder gar nicht berichten könnten oder würden. Vor allem in Kriegsgebieten, wo Kriegsparteien den „embedded“ Journalisten mit getürkten Informationen versorgen und authentische Bildberichte über die Lage vor Ort fehlen, sind solche Blogs eminent wichtig geworden. Weswegen solche Quellen auch von Mainstream-Medien sehr hoch gehandelt und gern als Informationsquelle genutzt werden.

Wie zuverlässig sie jedoch wirklich sind, ist weder von den Redaktionen noch für den normal user vor den Bildschirmen leicht zu beurteilen. Dabei muss es sich gar nicht um bewusste Manipulationen handeln, die die Kriegsparteien der anderen Seite mithilfe solcher Bloge vermitteln wollen. Der Rezipient erhält immer nur einen persönlich gefärbten Eindruck der Lage, der durch andere Blogs und Rückkopplungsschleifen, die wieder andere persönliche Eindrücke vermitteln, sehr schnell konterkariert werden kann.

Strikte Ambivalenz

Vermessen wäre es, solche Phänomene allein McLuhans Begriff der „Verlängerungen unserer Sinnesorgane“ zuzurechnen. Ihm zu folgen, würde bedeuten, dass sich unser Begehren, unsere Träume und Sehnsüchte direkt und friktionslos im Web 2.0 abbilden ließen. Weil jede „Extension“ aber immer mit Dissonanzen, Störungen und Unterbrechungen verbunden ist, das Netz weniger von Menschen und Bewusstseinen als vielmehr von Algorithmen und Programmcodes bevölkert wird und das Medium nicht von seinem Nutzen getrennt werden kann, ist meiner Einschätzung nach jene nüchterne Feststellung von Carl Schmitt nach wie vor treffender, wonach „die Technik […] immer nur Instrument und Waffe, und eben weil sie jedem dient, […] nicht neutral “ ist.

Solche Einsichten, die im Übrigen auch Donald Rumsfeld teilt (Niederlage im Medienkrieg), haben bislang aber nicht verhindern können, dass man den neuen Diensten, Netzwerken und Plattformen „umstürzlerische“ Effekte und Wendungen bescheinigt, die die Weltgemeinschaft insgesamt auf ihrem Weg zu mehr Demokratie, mehr Vernunft und Partizipation voranbringen.

Big Brother 2.0

Anlässlich der Veröffentlichung des umstrittenen Hinrichtungsvideos Saddam Husseins bei YouTube.com und anderen hat Andrian Kreye erneut die militante Hoffnung geäußert, dass sich mittels mobiler Medien die klassischen Machtverhältnisse umkehrten. „Dem totalen Überwachungsstaat des digitalen Zeitalters“ werde nun, so der designierte Feuilleton-Chef der SZ, „eine totale Überwachung von unten entgegensetzt.“ Um seine Behauptung zu belegen, listet er weitere Beispiele auf. Etwa den Fall des Senators für den Bundesstaat Virginia, George Allen, der einen Wahlhelfer seines demokratischen Gegners als „Affen“ beschimpfte und wegen eines wochenlang zirkulierenden Bilddokuments, das diese Szene festhielt, nicht mehr wiedergewählt worden ist. Oder den des Fernsehkomikers Michael Richards, der, als er sich bei einem Auftritt durch das Schwatzen von ein paar schwarzen Gästen in seiner Konzentration gestört fühlte, die Fassung verlor und sie mit rassistischen Flüchen belegte. Weil ein Gast die Auseinandersetzung mit seinem Handy filmte und CNN den Clip später sendete, war es am nächsten Tag mit seiner Karriere vorbei.

Kreye scheint diesen „basisdemokratischen“ Zug, der mobilen Medien eigen ist rundum positiv zu bewerten. Und zwar so, als ob es „Happy Slapping“, also das Begehen, Filmen und Versenden Gewalt verherrlichender Straftaten an Jugendlichen (Das brutale Spaß-Happening für die Handy-Kamera), oder das berühmte Rodney-King-Video nicht gegeben hätte, nach dessen Ausstrahlung es zu Brandschatzungen, Plünderungen und Tötungen von Unbeteiligten in den schwarzen Ghettos von Los Angeles gekommen ist. Fortan sei es nahezu unmöglich, der Öffentlichkeit irgendwelche Bilder vorzuenthalten. Dass damit dem „digitalen Massenstalking“, so Alex Rühe in der gleichen Zeitung ein paar Tage drauf, sowie der persönlichen Denunziation Tür und Tor geöffnet werden (Social Phishing); dass derartige „Überreaktionen“ und Provokationen einer Person mitnichten etwas über seine Qualität als Politiker oder Komiker aussagen; oder dass man aus einem soeben gehenkten Massenmörder über Nacht eine Kult- und Comicfigur macht, scheint für den künftigen Chef des SZ-Feuilletons kein großes ethisch-moralisches Problem aufzuwerfen, solange die "digitale Häme", die Big Brother-TV 2.0 ausstrahlt, nur „den/oder die Richtigen“ trifft.

Masse statt Klasse

Auch Jimmy Wales, Wikipedia-Gründer, scheint felsenfest davon überzeugt, dass sein Vorhaben, eine Enzyklopädie mithilfe zigtausend anonymer Freiwilliger schreiben zu lassen, ausschließlich dem Wahren, Guten und Schönen dienen wird (Wir glauben an das Gute). Ihm genügt es, dass dort jeder Internet-Nutzer Artikel einbringen oder deren Inhalt verändern und durch gegenseitige Kontrolle aller Mitwirkenden der Missbrauch oder die Verbreitung falscher Informationen verhindert werden kann. Von Expertentum, von Qualitäten, Namen und Adressen hält er nicht viel. Warum auch, zumal nach dem Willen der Macher durch die Kooperation der Vielen eine kollektive Intelligenz entstehen soll, die um etliches größer und klüger ist als die Summe der daran arbeitenden Individuen.

Genau das, was missionarische Netzwerker umtreibt, nämlich mittels Blogs, Wikis und Creative Commons die „Weisheit der Massen“ anzuzapfen und aus dem zusammengetragenen Wissen aller Individuen ein neues Alexandria zu bauen, steht aber in Frage. Jaron Lanier, Pionier des Netzes 1.0, hat die Behauptung, dass das Kollektiv, die Community oder die Masse schlauer als das Individuum ist, in Edge.org heftig kritisiert und die Vorstellung einer von der Mehrheit getragenen Bibliothek des Wissens als „digitalen Maoismus“ bezeichnet. Was ihm auf Edge.org heftige Zuschriften beschert hat. Kurz vor Jahresfrist hat er im „Time Magazine“ nachgelegt und seine Kritik nochmals verschärft.

Auch Schwärme folgen dem Mainstream

Auch wenn Lanier damit bewusst überspitzt – zwischen einem Heer anonymer Beiträger und einem von Stalin, Mao oder Pol Pot von oben verordneten Kollektivismus liegen Welten – , berührt er damit letztlich einen wunden Punkt. Bislang haben sich anonyme Menschenansammlungen eher destruktiv und irrational als konstruktiv und rational verhalten, und zwar auch dann noch, wenn sie in Schwärmen aufgetreten sind und sich willkürlich gebildet und wieder verflüchtigt haben.

Da muss man gar nicht wie Lanier die jüngere Vergangenheit bemühen oder die Massenpsychologie von Freud bis Le Bon bemühen, es reicht auch einfach in ein Fußballstadium zu gehen, auf eine politische Demonstration oder eine öffentliche Wahlveranstaltung, um Trägheit, Dummheit und Manipulierbarkeit der Massen zu beobachten. Sie folgen eher dem Gewohnten als der Ausnahme, dem Bekannten und Vertrauten, als dem Überraschenden und Fremden.

Es mag sein, dass Schwarmintelligenzen zur Lösung von Problemen (siehe Linux) besser taugen als Individuen, geht es aber um Geschmacksurteile, sollte man sie tunlichst meiden. Man denke nur an all die unseligen „Castingshows“ der letzten Jahre. Oder an die beliebten Personality-Debatten (siehe Stoiber-Pauli), die politische Nachrichtensendungen so lieben, um Kundenohren und Konsumentenaugen zu finden. Oder auch an den zunehmenden Trend, die Lehrtätigkeit des Lehrpersonals von den Auszubildenden bewerten zu lassen. Gut kommen in aller Regel diejenigen weg, die Anforderungen gering halten, aber dafür gute Zensuren oder Beurteilungen vergeben; schlecht hingegen jene, die viel fordern und streng benoten. Um von der Masse anerkannt und geliebt zu werden, muss man ihr nur nach dem Mund reden. Gemeinhin nennt man das Populismus.

Frei von Verantwortlichkeiten

Anonymität und Intransparenz der Regeln und Verfahren, nach denen Auswahl und Kontrolle der Einträge erfolgen, tun dabei ihr Übriges. Auf diese Weise werden nicht nur persönliche Verantwortlichkeiten kollektiviert, dadurch bekommen die Artikel auch einen scheinbar objektiven und „pseudoheiligen“ Charakter. Beobachtet man, wie Wikis von Nutzern mitunter gehandelt werden, dann kann man Laniers Kritik kaum widersprechen. Für viele Nutzer ist Wikipedia zu einer Art „Bibel“ geworden, die sie bei Debatten und Diskussionen, wenn ihnen Argumente ausgehen, als obersten Schiedsrichterspruch anführen. Auf diese Weise wird dem Kollektiv eine Allmacht und Allwissenheit attestiert, die aufgrund seiner Anonymität keinen Rückbezug mehr auf den Sender zulässt.

Auch hier spricht die Geschichte eher eine andere Sprache. Neuerungen und Störungen sind eher von Solitären geleistet worden, von Namen und Adressen, die ihr Augenmerk auf das Besondere, das Singuläre oder die Ausnahme gerichtet und alles andere als im Einklang mit der Mehrheit und der Masse gelebt haben. Ohne entsprechende Distanz zu ihnen, wären weder Nietzsche noch Rimbaud oder Duchamps denkbar, die die Welt mit anderen Perspektiven, Werten oder Einsichten vertraut gemacht haben. Es verwundert daher nicht, dass vor allem sie die Masse für dumm und gefährlich gehalten und sie verachtet und verspottet haben.

Warum das von Schwarmintelligenzen (Willkommen im Schwarm!) oder einem Verbund gleichberechtigter Individuen getoppt oder überboten werden soll oder kann, erschließt sich nicht. Weder auf den ersten Blick noch auf den zweiten. Angesichts der Millionen von Wikis, Blogs und Creative Commons, die wie Pilze aus dem Netz schießen, und angesichts der Text- und Bilderflut, die sich über die User ergießt, braucht es eher virtuelle Leuchttürme, die Rückbezüge auf Personen erlauben, Qualitäten vermitteln und dem User Vertrauen und Verlässlichkeit signalisieren. Dass vor allem das Letztere bald zum äußerst knappen Gut in der Wissensgesellschaft 2.0 werden wird, dazu braucht es nicht viel Fantasie.

Virtueller Hooliganismus

Wer das nicht glaubt und die Probe aufs Exempel sucht, der braucht sich nur ein paar Tage in einschlägigen Foren oder Blogs aufzuhalten – auch und vor allem in den hiesigen. Was vor Jahren mal als „basisdemokratische“ Einrichtung gefeiert worden ist, als direkter Kontakt zum Leser oder Hörer, hat sich mittlerweile in sein Gegenteil verkehrt. Von einer Kultur des Streitens und Debattierens ist kaum noch etwas übrig geblieben. Der Umgangston ist rüde, der Stil verroht und versaut. Wer kürzlich Martin Scorseses grandioses Mafiaepos gesehen hat, wird Ähnliches bemerkt haben. Auch dort werden wir mit verkommenen Gemeinschaften konfrontiert, denen jegliche Form von Anstand fehlt. Ihre Sitten sind ebenso verwildert wie ihre Sprache versaut ist, und zwar quer durch alle Lager, auf dem Polizeirevier wie auf der Straße. Ab und an sehnt sich der Beobachter die Cosa Nostra zurück, wo noch mit Anstand und Würde und nach strengen Codices gemordet und geprügelt worden ist.

Die Anonymität, die den Zuträgern im Netz zugesichert wird, vor allem damit sie ihre Scheu vor öffentlichen Stellungnahmen verlieren, scheint diesen negativen Trend noch verstärkt zu haben. Mehr und mehr macht sich dort ein digitaler Hoologanismus breit, der zunehmend von Wichtigtuern, Halbgebildeten und Besserwissern, von Rechthabern, Selbstdarstellern und digitalen Heckenschützen befeuert wird. Statt erstmal den Inhalt von Artikeln genau zu studieren, bevor man seinen Senf dazugibt, werden häufig nur noch Autoren oder andere Diskutanten angepöbelt, beleidigt und mit Schimpfwörtern traktiert. Meist reicht dem ideologisch verbohrten Besserwissi schon ein Stichwort, ein Halbsatz oder ein missliebiger Ausdruck, um den verbalen Baseballschläger zu schwingen oder sich bei Gleichgesinnten seines eigenen Vor-Urteils rückversichern zu lassen.

Auch eine Generationenfrage

Das war, soweit ich mich erinnere, nicht immer so. Gewiss gab es immer mal Ausfälle und Entgleisungen. Um diese in Grenzen zu halten, führte man auch Sysops und Netiquetten ein, die über Mindeststandards des Gesprächs wachten. Doch war das meist auf Einzelfälle oder auf ganz bestimmte Foren begrenzt. Ab und an entspann sich eine kleine, aber feine Diskussion, die zwar auch hitzig, hart und feurig geführt worden ist, aber immer argumentativ ohne Verletzung der diskutierenden Person.

Ferner fanden sich mitunter überaus gut informierte Beobachter aus anderen Genres, die echte Informationen gegeben haben oder Autoren oder Autorinnen auf ihre blinden Flecke hingewiesen haben. Mir ist vor allem Tloen in Erinnerung geblieben, dessen Kommentare und Statements ich gern und gewinnbringend gelesen habe und mit dem ich aber auch, wie mit einigen anderen, manchen Strauß ausgefochten habe – aber immer unter Zeichnung meines Namens.

Dieser anti-mobe Charakter des Netzes scheint meiner Beobachtung nach vorbei zu sein. Ob unwiederbringlich vermag ich nicht sagen. Jaron Lanier meint, dass das Mitmach-Web zum Mobbing richtig einlade. Die Blogosphäre provoziere eine globale Flut Mob ähnlicher Zuschriften. Listig fragt er, was Leute dazu brächte, dass so häufig das Übelste aus ihnen hervorbreche, wenn sie sich dort äußerten. Eine Antwort darauf weiß er aber auch nicht. Zumal er auch positive Auswirkungen findet, bei MySpace.com, YouTube.com und Second Life.

Gewiss verführt die neue Software dazu, aber vielleicht handelt es sich da auch um eine Generationenfrage. So wie in Musikclubs die Zuhörerschaft alle zwei bis drei Jahre wechselt, verhält es sich auch in Foren. Die Kundschaft von heute ist nicht mehr die Kundschaft von morgen. Auch in „Departed“ hat sich das Personal und ihre Codices verglichen mit früher, mit dem „Paten“ und „GoodFellas“, grundlegend verändert. Anders als im Kino, im Ghetto oder auf der Straße könnte eine kleine Korrektur im Web schon Wunder bewirken. Dazu müsste man vermutlich nur eine Formalie ändern.

Müsste nämlich jeder Beiträger mit seinem richtigen Namen zeichnen, wäre es mit einer Vielzahl der Pöbeleien und persönlichen Attacken auf den anderen vorbei. Der Kommentar im Forum oder im Weblog bekäme wieder, wie Lanier meint, „einen Charakter“. Das Individuum, das sich dort äußert oder echauffiert, müsste, als Person, Verantwortung für das übernehmen, was er dort den anderen mitteilt. Zwar würde eine Vielzahl von Kommentaren unterbleiben, die Scham aber, sich vor allen anderen öffentlich zu blamieren, würde den Mob und Pöbel aber zwingen, sich andere Tätigkeitsfelder zu suchen.

Da das aber nicht zu erwarten ist, auch weil viele Poster und Verantwortliche entweder einem überzogenen oder falsch verstandenen Demokratiebegriff nachhängen oder mit den Vorzügen einer „repräsentativen Demokratie“ nichts anzufangen wissen, habe ich mich vor langer Zeit schon aus den Foren verabschiedet. Weniger, weil ich keine Lust habe, beknackte Statements emotionaler oder geistiger Tiefflieger zu lesen, sondern einfach, weil die Zeit dafür viel zu schade ist.