Das Netz als Nest

Ein Essay über die neue Lebenswelt der vernetzten Personal City

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Das Land verlasse ich nur ungern. Womit ich nicht Deutschland meine, wo ich vor vielen Jahren geboren wurde, oder Arizona, wo ich heute lebe, sondern mein Land - die paar, von aller Welt verlassenen Quadratmeter Erde, die ich mein eigen nenne.

Wenn ich vom Monitor auf und aus dem Fenster schaue, glitzern am Horizont die Schneekappen der White Mountains in der grellen Sonne. Um eine Bibliothek zu finden, müßte ich Stunden fahren. Weit und breit existiert auch kein Zeitschriftenladen, keine Kneipe, kein Kino, kein Kaufhaus. Wir befinden uns, wie der Berliner sagt, j.w.d. - janz weit draußen.

Und doch mittendrin.

Geographie sei nicht länger Schicksal, schreibt William Mitchell, Dekan der Architekturschule des Massachusetts Institute of Technology, in seinem Buch "City of Bits". Wir sind in die digitale Epoche eingetreten, und in ihr ist alles möglich und zwar überall. Hier, auf meiner abgelegenen Ranch im amerikanischen Westen, lese ich täglich nicht nur aktuelle amerikanische Zeitungen und Zeitschriften, sondern auch deutsche wie die "taz" oder die "Frankfurter Rundschau"; und das sogar Stunden, bevor die Abonnenten in Berlin oder Frankfurt ihr Blatt in den Händen halten. Beim Surfen treffe ich in America Online oder in Internet-Chat-Räumen so regelmäßig europäische und amerikanische Freunde wie zu den Zeiten, als ich noch die Kneipen und Diskotheken in Berlin, Hamburg, München, Miami oder Los Angeles frequentierte. Und wenn ich einkaufen muß, ist das Warenangebot größer als einst im KaDeWe; die legendäre Freßabteilung vielleicht einmal ausgenommen.

Jahrhundertelang gab es keine gleichwertige Alternative zur großstädtischen Existenz. Wer die Metropolen verließ, um in abgelegenen Landstrichen gesünder, sicherer und besser zu leben, war ein "Aussteiger". Er mußte seine Freunde aufgeben, seine Karriere, und er mußte willens sein, auf all jene Angebote und Annehmlichkeiten zu verzichten, die traditionell nur größere Menschenansammlungen offerierten: gutbezahlte Jobs, ein reichhaltiges Waren- und Unterhaltungsangebot, eine Vielzahl geschäftlicher und privater Kontakte.

Man erinnere sich bloß an jene ferne - gerade einmal zehn Jahre vergangene - Epoche, als es noch nicht überall Satelliten-Fernsehen oder Funktelefone gab, keine erschwinglichen Faxgeräte und keinen Internet-Zugang. Damals beschnitt bereits der Umzug ins Umland der großen Städte die beruflichen und gesellschaftlichen Möglichkeiten dramatisch; von einem Rückzug aufs flache Land oder gar ins Ausland ganz zu schweigen. Seitdem aber haben sich über die beschränkte Infrastruktur der materiellen Welt in mehreren Schichten dichte Kommunikationsnetze gelegt. Indem sie jedermann mit allem und jedem verbinden, beseitigen sie fast jeden Nachteil einer physischen Abwesenheit von bestimmten Orten - und nimmt umgekehrt der räumlichen Anwesenheit so gut wie jeden Vorteil.

Es besagt immer weniger, wo in der Welt wir leben; oder zumindest wo im westlichen Teil der Welt sich unsere Körper gerade befinden. Indem wir immer größere Teile unseres Arbeits- und Privatlebens in die Netze verlegen, werden wir zunehmend unabhängig von unserer materiellen Umwelt, von den Zufälligkeiten einer Existenz im meatspace. Nichts hindert uns, virtuelle Privatstädte zu bauen, Personal Cities.

Denn vom mittelalterlichen Marktplatz bis zum Einkaufszentrum auf der grünen Wiese, von kopfsteingepflasterten Gassen bis zu den Betonstreifen der modernen Stadtautobahnen sind Städte nichts anderes als materielle Manifestationen menschlicher Aktionen; stein-, stahl- und glasgewordene Handlungsstrukturen; Hardware, die den Bedürfnissen nach zwischenmenschlichem Austausch dient und den Strom der Waren und Informationen kanalisiert.

Die Eröffnung des Cyberspace, die Erschaffung eines weltumspannenden Reichs der Daten, verringert nun allerdings den Wert des urbanen Raums und beraubt ihn eines Großteils seiner angestammten Funktionen. Zuerst verlagerte sich der Finanzverkehr - Banking, Brokering, Trading -, der die Städte einst in florierende Geschäftszentren verwandelte, in die Datennetze. Heute macht es deshalb kaum noch einen Unterschied, ob einer seinen Aktienhandel von einem Büro an der Wall Street betreibt oder von einer bescheidenen Berghütte in den Rocky Mountains. Aber das Geld ging nur zuerst online. Inzwischen findet sich kaum noch eine menschliche Verkehrsform, die nicht zumindest zum Teil in den Cyberspace migrierte: Fax und E-mail ersetzen Stück für Stück den Briefversand, Cyberarbeit und Telecommuting reduzieren Berufsverkehr und Büros, elektronische Malls machen den Einkaufszeilen Konkurrenz, Online-Zeitungen lassen ihre auf toten Bäumen gedruckten Gegenparts alt aussehen, Live-Chats und MUDs befördern soziale Kommunikation wie sonst Dienstreisen, Kneipengespräche und andere Treffen im meatspace.

Jeder, der über einen Computer und ein Modem verfügt, kann sich daher heute einen persönlichen Kiez basteln, seine Personal City. Er kann sich eine Bank wählen in, sagen wir, Frankfurt, einen Zeitschriftenkiosk in Hamburg und einen anderen in New York, die Bibliothek in Washington und in aller Welt die Händler, aus deren virtuellen Läden er Software herunterlädt, bei denen er Computer und andere Elektronik kauft, Bücher, CDs, Wein oder Steaks. Er kann sich eine lokale Radiostation aussuchen, ob die nun von Europa, Amerika oder Asien aus sendet. Er kann Stammgast in Cybercafés, virtuellen Kneipen und Chat-Rooms werden und sich dort mit Bekannten, Freunden und Verwandten treffen. Und er kann in dieser selbstgeschaffenen Stadt auch ein eigenes Geschäft eröffnen.

Wer es wagt, wird dabei mit Zehntausenden von Cyberarbeitern aus Dutzenden von Ländern konkurrieren, die bereits online ihre Produkte und Dienstleistungen anbieten; bevorzugt natürlich solche, bei denen am Ende nicht Atome, sondern Bits stehen. Autoren und Komponisten, Maler, Anwälte und Software-Programmierer, Finanz-, Steuer- und andere Berater, Datenbearbeiter, Stenotypistinnen, Computer-, Reise- und Werbefachleute, Redakteure, Übersetzer, Layouter, Grafiker - sie alle versuchen, ihr Geld im Cyberspace zu verdienen.

Von den wirklichen unterscheiden sich diese virtuellen Geschäfte und Treffpunkte vor allem dadurch, daß sie global zugänglich sind. Wo ich mich zufällig befinde, macht keinen wesentlichen Unterschied. Ob in Berlin oder Los Angeles, ob auf einem Bauernhof in Lüchow-Dannenberg oder auf einer Ranch im amerikanischen Westen, ob zuhause oder unterwegs in irgendeinem Hotel, meine Personal City, das persönliche Umfeld, das ich mir zusammengestellt habe und in dem ich lebe, bleibt sich mehr oder weniger gleich.

Wie ich arbeite, ist daher weitgehend unabhängig von meinem geographischen Aufenthaltsort. In Arizona tue ich, was ich genauso im Schwarzwald oder auf einer Ostseeinsel täte. Es fiele mir daher ziemlich schwer zu sagen, was sich grundsätzlich geändert hat im Vergleich zu der Zeit vor ein paar Jahren, als ich noch zwischen Berlin und Los Angeles pendelte - mit der wichtigen Einschränkung, daß nun mein Nicht-Arbeitsleben entschieden angenehmer und geruhsamer verläuft.

Denn meine Personal City bringt alle Vorteile einer Metropole, doch keinen der Nachteile, die sich mit der großstädtischen Existenz, mit der Konzentration großer Menschenmassen auf begrenztem Raum verbinden: keine horrenden Mieten und lauten und neugierigen Nachbarn, keine lange Anfahrt zum Arbeitsplatz, keine Staus und keine Warteschlangen, kein Smog, kaum Unfallgefahr und eine Verbrechensrate, die gegen Null tendiert.

Schön und gut, werden Sie sagen: Aber wer kann sich solch Cybercocooning schon leisten? Ein Autor vielleicht, der seine Artikel und Bücher überall schreiben kann, auch Künstler und Angehörige anderer privilegierter Berufsgruppen. Aber doch nicht wir, die Normalbürger mit festem Arbeitsplatz, wir müssen hinaus ins feindliche Großstadtleben.

Ehrlich gesagt: Genau umgekehrt wird ein Schuh draus, daran lassen die vorhandenen Zahlen wie die Mehrzahl der Prognosen kaum Zweifel. Unter den ökonomischen Bedingungen der digitalen Epoche werden immer weniger Normalbürger einen "festen Arbeitsplatz" besitzen, weder einen bestimmten Ort, an dem sie sich einzufinden haben, noch die lebenslange Festanstellung. Die digitale Ökonomie verringert die praktische Bedeutung der Großstädte, und zur selben Zeit explodieren die Transaktionskosten traditioneller Metropolen - die individuellen Lebenshaltungskosten ebenso wie die sozialen Nebenkosten und die Umweltschäden. Immer weniger Angehörige der Mittelklasse, insbesondere aus der Schicht der gutausgebildeten Fachleute, werden daher willens oder auch nur in der Lage sein, die Nachteile, Beschwerlichkeiten, Risiken und finanziellen Belastungen auf sich zu nehmen - nun, da sie, um ihr Einkommen zu erzielen, nicht mehr unbedingt in einer Großstadt leben müssen.

In der industriellen Epoche machte der urbane Lebensstil durchaus Sinn. Die Massierung von Menschen und die geographische Trennung von Wohn- und Arbeitszonen war im Interesse der Massenproduktion notwendig. Im Gefolge der Fabriken entstanden damals zugleich die gewaltigen Ballungsgebiete mit ihren Wohlfahrts-Bürokratien, die die neuen Menschenmassen versorgten und verwalteten. In der digitalen Epoche zerfällt nun diese wohlgeordnete Zivilisation der Massen zusammen mit ihrer ökonomischen Grundlage. In den meisten der entwickelten westlichen Länder befinden sich Gesundheits- wie Erziehungssystem in einer Dauerkrise, der Verkehr bricht zunehmend zusammen, Verbrechen und Umweltschäden eskalieren. Nicht eine, sondern nahezu alle Institutionen des öffentlichen Lebens, die das industrielle Zeitalter gebar, die staatlichen Bürokratien, die politischen Parteien, die Gewerkschaften, die Massenmedien, wirken sklerotisch und verlieren unablässig an Glaubwürdigkeit.

Selbst in den Regionen der industrialisierten Welt, die bislang von den gröbsten Krisen verschont blieben, erscheint, wie Umfragen zeigen, einer immer größeren Zahl von Menschen das Leben und Arbeiten unter den gegenwärtigen Durchschnittsbedingungen als bleischwere Last - die reglementierte Tätigkeit in den denkblockierten Apparaten, die gebremste Bewegungsfreiheit in den verstopften Städten und, last but not least, die langweilende und frustrierende Freizeit unter dem Bombardement einer Massenunterhaltung, deren Produkte stets auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zielen.

Stadtluft, so heißt es, macht frei. Das Sprichwort bezieht sich auf den historischen Umstand, daß jeder Leibeigene, der länger als ein Jahr in einer freien Stadt lebte, selbst zum freien Mann wurde. Heute allerdings läßt sich die Luft, die einst Freiheit bedeutete, kaum mehr atmen. Der psychische Rückzug in die Enklaven der Privatheit, in die eigenen vier Wände, ist längst ebenso epidemisch wie die halbherzige Flucht aus der Stadt in die Eigenheim-Vorstädte oder in den Urlaub, wann immer es nur geht.

Bewohnern anderer, zumal ärmerer Länder mag das als beneidenswerter und erstrebenswerter Luxus erscheinen, als sicheres Anzeichen dafür, daß zum Beispiel die deutsche Mittelschicht immer noch eine verhältnismäßig privilegierte Existenz führt. Aber die meisten dieser Wohlstandsbürger genießen ihr Leben kaum. Für sie bieten all diese vielen Kurzurlaube nur kurze Fluchten aus einem Alltag, der sie, ihrem eigenen Bekunden nach, einengt und übermäßig belastet.

Die deutsche Spielart des luxuriösen Unglücks mag ein Extremfall sein. Aber in den meisten Gebieten der entwickelten Welt und gerade unter den "Wissensarbeitern", der neuen Mittelschicht in der digitalen Ökonomie, wächst die Zahl der Menschen, die sich mit business as usual nicht mehr abfinden wollen. Viele von ihnen haben begonnen, mit den Füßen abzustimmen. In den USA etwa zeigen die demographischen Zahlen eine nach Hunderttausenden zählende Bevölkerungswanderung aus den Ballungsgebieten aufs Land. Überdurchschnittlichen Anteil an den Stadtflüchtlingen haben gut ausgebildete Männer und Frauen in den besten Jahren. Sie geben hochbezahlte Positionen in den Metropolen und großen Konzernen auf, um sich in Klein- und Kleinststädten mit höherer Lebensqualität selbständig zu machen und ökonomische Unabhängigkeit zu erlangen.

Der Traum, den sie realisieren wollen, die Sehnsucht nach der Versöhnung von Zivilisation und Natur, ist so alt wie die urbane Zivilisation des Abendlandes. "Kurze Anfahrt nach Rom, gute Nachrichtenverbindungen, ein ordentliches Haus und genügend Land ..., um seinen Kopf zu klären und seine Augen zu erfrischen", so beschrieb Plinius der Jüngere, Erbauer vieler schöner Landsitze, vor 1900 Jahren diesen Traum. Die von Plinius angestrebte Quadratur des Kreises - zurück in die Natur der ackerbauenden Vorväter zu finden, ohne auf die Annehmlichkeiten der Zivilisation seiner Zeit verzichten zu müssen - blieb eine Sehnsucht, die über die Renaissance bis in die Gegenwart reicht. Die Medicis wollten genauso vom geschäftigen Stadtleben Abstand gewinnen, ohne es zu verlieren, wie die Berliner Großbürger der Jahrhundertwende, die sommers für einige Monate ins Grüne zogen.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als sich die wirtschaftliche Lage der Mittelschichten verbesserte, ergriff diese Sehnsucht nach der Integration von urbaner Zivilisation und Natur auch sie; auch uns. Einige mögen noch jene seltsame Mode erinnern, die sich vor einem Vierteljahrhundert wie eine Epidemie ausbreitete: Dank verbesserter und verbilligter Drucktechniken "öffneten" sich überall in der westlichen Welt die Wände bescheidener Etagenwohnungen und Eigenheime und gaben den Blick frei auf spektakuläre Aussichten, auf sonnenüberflutete Strände, majestätische Alpenlandschaften oder melancholisch-mediterrane Sonnenuntergänge.

Die Anziehungskraft dieser Fototapeten schwand bald dahin, doch das Verlangen blieb - und nun, mit dem Anbruch der digitalen Epoche, gelingt es einer wachsenden Zahl von Menschen, den Traum zu realisieren. Die großen Städte und großen Konzerne zu verlassen und das Zentrum des eigenen Lebens an die phantasmatischen Plätze zu verlegen, deren Abbild jene Fototapeten einst in die Wohnung brachten; ein High-Tech-Nomade zu werden oder ein High-Tech-Siedler, der sich abgelegene Gebiete erobert - das alles ist kein Privileg irgendwelcher Eliten mehr, sondern eine mögliche Option. Wer es tut, unternimmt nichts Extravagantes mehr, er schwimmt nicht gegen den Strom. Im Gegenteil, er folgt dem Trend zur globalen Cyberwirtschaft.

Das "Center for the New West" beobachtet die Entfaltung einer neuen Ökonomie im Gefolge der digitalen Revolution. Seine Mitarbeiter haben Dutzende solcher Fälle von Cyberarbeitern, die ihre Geschäfte aus abgelegenen Gebieten betreiben, gesammelt und analysiert. Sie nennen sie "Einsame Adler", und sie meinen, dies sei "die wichtigste soziale Umwälzung, seit sich die Doppelverdiener-Familie durchsetzte". "Die Einsamen Adler", sagt Philip M. Burgess, Leiter des Centers, "sind Vorreiter einer Welle, die als Folge der Telekommunikations-Revolution die Art, wie wir leben, arbeiten, spielen, lernen und uns fortbewegen, vollkommen verändern wird." Ihre Zahl rechnet Joseph Pelton, Professor an der Universität von Colorado in Boulder, für die Jahre nach 2010 auf fünf Millionen hoch - rund zehn Prozent der dann wohl fünfzig Millionen amerikanischen Telecommuter.

Sie alle werden den Arbeitstag nicht in der physischen Welt verbringen, die sie umgibt, sondern in Telesphären, elektronisch vermittelten Gemeinschaften aus Freunden und Kunden - wie es heute bereits Millionen von High-Tech-Arbeitern tun, ob sich ihre Büros nun in New York oder Berlin, Toronto oder Paris befinden. Sie alle agieren in einer künstlichen Arbeitswelt, abgeschottet von der Außenwelt, und ihre Tätigkeit ist geprägt von der Auseinandersetzung mit immateriellen Symbolen, Zahlenkolonnen und Vertragsklauseln, mit Börsenkursen, abstrakten Formeln, Bilderfolgen oder endlosen Textmengen.

Um derlei Arbeit in Telesphären erfolgreich zu leisten, braucht es keine Großstädte mehr, keine Geschäftsviertel, keine Bürohäuser. Diese Einsicht setzt sich allmählich auch bei Architekten und Stadtplanern durch. Wie die neue Bit-Sphäre zu gestalten sei, wie die Städte und ihre Gebäude sich ihr anpassen lassen und ob Architektur "Elektrotektur" werden sollte, wird gegenwärtig erbittert diskutiert.

Das Auto löste die Massenmigration in die Vorstädte aus. Welche seltsamen Veränderungen wird der Computer bewirken? Werden die Netze jene Funktionen an sich reißen, die bislang Versicherungspaläste und die Gebäude erfüllen, die Banken oder die Verwaltungsmaschinerie des Staates beherbergen? Und was wird aus öffentlichen Räumen wie Einkaufspassagen, Museen, Universitäten oder Bibliotheken?

Daß virtuelle Gebäude ihre realen Gegenstücke ersetzen könnten, läßt sich leicht vorstellen. In seinem Essay Being There. Some Notes on a Cybereal Architecture gibt Peter Anders ein gutes Beispiel. Geplante Bauten in realistischen CAD-Simulationen dreidimensional zu entwerfen, ist heute gang und gäbe. Was jedoch, schreibt Anders, "wenn jedes Buch und jeder Film, den die Bibliothek bergen soll, bereits in dem Modell vorhanden ist? Gehen wir durch die Regalreihen des Modells, sehen wir jeden Band der geplanten Bibliothek dort stehen. Wenn wir anhalten und ein Buch öffnen, erblicken wir den gesamten Text zusammen mit den Illustrationen, möglicherweise gar einen Hauch modrigen Papiers einfangend ..."

Peter Anders fragt sich selbst, ob diese virtuelle Bibliothek nicht ihren Bau in der Realität überflüssig machen würde. Die Antwort lautet natürlich: Ja. Solch eine cyberreale Bibliothek könnte jede Funktion einer realen Bibliothek erfüllen - und sie wäre, wenn ich das sagen darf, die ideale Bibliothek für meine wie jedermanns Personal City.

So also ist der Stand und Zustand meiner Personal City. Gegenwärtig sind ihre Gebäude natürlich nur Webseiten aus aller Welt, die Informationen und Dienstleistungen anbieten, Waren und Gelegenheiten, andere Menschen zu treffen, wo auch immer auf diesem Planeten die leben mögen. Doch es wird nicht lange dauern, dann wird ein gänzlich neues Element hinzukommen - neue Bewohner: virtuelle Menschen.

Sie zu erschaffen, daran arbeiten heute zahlreiche Institutionen und Firmen. Allein das Militär hat Millionen in die Forschung gesteckt. US-Marines trainieren bereits auf virtuellen Schlachtfeldern und üben den Nahkampf mit den "DI-Guys" von Boston Dynamics, und die Piloten der US Air Force bereiten sich auf Luftschlachten vor, in dem sie versuchen, einen virtuellen Piloten auszumanövrieren, den Paul Rosenbloom von der University of California entwickelt hat.

Nicht nur die Militärs aber haben Interesse an virtuellen Menschen. Solche Humanoiden wünschen sich viele Industrien - als geduldige Mitspieler und geduldige Patienten, als unsterbliche Opfer. Man wünscht sie sich in 3-D-Architektur- und Verkehrssimulationen als realistisch reagierende Bevölkerung und für ergonomische Studien als unermüdliche digitale Arbeitskräfte. Man braucht sie in der Unfallforschung als ausdauernde Dummies und für medizinische Experimente und Medikamententests als menschenähnliche Versuchskaninchen - so hat zum Beispiel Norman Badler vom Zentrum für "Human Modeling und Simulation" der University of Pennsylvania einen virtuellen Menschen programmiert, einen Syntheten, dessen Blutdruck, Atmung und neurologischen Reaktionen physiologisch korrekt sind. "Wenn der Sauerstoff ausgeht", sagt Badler, "und der Synthet nicht in der notwendigen Zeit entsprechend behandelt wird, stirbt sein Gehirn."

Das größte Verlangen nach virtuellen Menschen allerdings existiert in der Unterhaltungsindustrie. Special-Effects-Studios wie James Camerons Digital Domain und Georg Lucas' Industrial Light & Magic investieren viel Geld in die Konstruktion von computergenerierten Schauspielern, sogenannten Synthespians. Sie sollen Hauptrollen in Hollywoodfilmen spielen, aber sie sollen auch als (Mit-) Spieler in Video- und Computerspielen auftreten, als Instrukteure in Lern-Software, als realistische Simulationen in Themenparks und nicht zuletzt auch als Cyberführer - das heißt: als Bewohner von Websites und Homepages.

Sie werden in Cyberläden als multilinguale Rund-um-die-Uhr-Verkaufskräfte arbeiten und als Croupiers in Online-Kasinos, sie werden die Helden unserer Web-Soaps sein, die Mitbewohner unserer Personal Cities - und sie könnten natürlich auch unsere Partner in Cyber-Rollenspielen und beim Cybersex werden. (Da Sex noch immer ein Hauptmotiv und die treibende Kraft technologischen Fortschritts war, ist es nicht unwahrscheinlich, daß ihre Rolle als Sexualpartner tatsächlich zur "killer application" für virtuelle Menschen wird.)

Wie immer jedoch die Zukunft virtueller Menschen im Detail aussehen wird, gegenwärtig verbinden sich nur zu augenfällig die Ziele der kapitalstarken Unterhaltungsindustrie mit denen der wissenschaftlichen Forschung. Die Special-Effects-Zauberer, die zumindest partiell autonom handelnde Synthespians zu programmieren versuchen, machen ausgiebigen Gebrauch von den Forschungsergebnissen so verschiedener Gebieten wie künstliche und Maschinen-Intelligenz, aufgebesserte und virtuelle Realität, Expertensysteme, neuronale Netze, künstliche Lebensformen und Robotik - während gleichzeitig viele Forscher von den avancierten Verfahren zur graphischen Repräsentation und Animation lernen, die in Hollywood entwickelt wurden.

Seit 1996 bringt eine Expertenkonferenz, gesponsort von Silicon Graphics, der Computerfirma, auf deren Maschinen die meisten Simulationen laufen, alljährlich die Special-Effects-Zauberer mit den Wissenschaftlern aller Sparten zusammen - in Hollywood, natürlich. In der Ankündigung zum ersten Treffen schrieben die Organisatoren: "Virtuelle Menschen werden die Wachstumsindustrie der 90er Jahre werden."

Ich denke, es wird nicht mehr allzu lange dauern, bis einige dieser Wesen in meiner Personal City auftauchen - und wer weiß, vielleicht werden sich so meine globalen Mitbürger eines Tages zumindest virtuell menschlich verhalten."