Marx bestimmt den Lohn falsch

Marx ist Murks - Teil 4a. In dieser Replik besprechen wir die Einwände gegen die Marxsche Theorie der Lohnkosten und ihre Folgen. Da es sehr viele Einwürfe zu diesem Thema gab, wird der Punkt in der nächsten Replik fortgesetzt.

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Vorab: Die Repliken sind keine "Abrechnung" oder Wunsch nach dem letzten Wort, sondern lediglich die Gelegenheit, die Begriffe zu klären und Standpunkte zu verteidigen. Ich gehe vor allem auf Argumentationsfiguren ein, die ich selbst schon häufig gehört oder gelesen habe, und deshalb für allgemein verbreitet und von allgemeinem Interesse halte. Zu den Vorwürfen gegen Marx als Person habe ich bereits vor Beginn der Artikelserie etwas geschrieben, man möge sich dort informieren.

Ein paar Lesern sind die Repliken zu lang oder zu viele, andere wiederum meinen, ich würde "Cherrypicking" betreiben. Sind sie ihnen demnach zu kurz oder zu wenig? Zwischen diesen unversöhnlichen Rezensionen meiner Repliken gibt es keinen Mittelweg. Also mache ich so weiter wie bisher. Wer mit der Textlänge überfordert ist, kann sich den Artikel ja auch einteilen, wenn er an ihm interessiert ist. Oder es andernfalls lassen. Freiheit beinhaltet auch die Möglichkeit, seinen Verstand nicht benutzen zu wollen. Dies sei jedem unbenommen.

Bevor es losgeht, möchte ich noch ein kurzen Dank an den Foristen "Klaus N" richten. Er hat einen Rechenfehler in meiner Gegenrechnung in Einwand 10b. Die Formel war schon die richtige, aber ich habe mich bei der Eingabe vertippt:

Der Autor kann die Berechnung nicht nachvollziehen, dass 600 Euro jährliche Ansparung und mit 11% verzinst 750.000 Endkapital ergeben, er selber kommt nur auf 450.000.

:Forist "Klaus N"

Keine Frage, in Pi-mal-Daumen-10%-Fragen kennt er sich aus (vgl. "Klausis 10%-Rätsel zum Wertzuwachs"). Jedenfalls, Danke für die Richtigstellung. Dies ändert aber weder etwas an der dortigen Argumentation, noch an den sonstigen Rechenergebnissen, z.B. die glatte Halbierung des Aktiengewinns bei nur 2% Inflation (also rund 350.000 statt 700.000 Euro), und eine nochmalige Halbierung bei 4% Inflation, und davon wieder die Halbierung bei 6%. Es sollte lediglich demonstrieren, wie unsicher solche Kalkulationen sind. Es ist im Grunde ungenierte Bauernfängerei.

Einwand 14: Marx bestimmt den Lohn falsch

In Teil 4 der Artikelserie referierte ich über die versteckte Form der Ausbeutung kapitalistischer Produktionsweise, deren Umfang über den Lohn geregelt wird, und sie so auf Dauer stellt. Man erinnere sich an das dort vorgestellte Arbeitstag-Diagramm, welches in einen roten und einen blauen Teil unterteilt ist. Darüber, wie sich die Lohnhöhe bestimmt, habe ich bewusst nicht allzu viele Worte verloren, aber doch ein paar. Ich schrieb:

Den roten Teil nennt Marx "notwendige Arbeitszeit", die der Arbeiter braucht, um seinen Lohn und damit seinen Lebensstandard zu finanzieren, der es ihm ermöglicht, seine Arbeitskraft täglich aufs Neue zu reproduzieren. Der blaue Balken steht für "überschüssige" oder "Mehrarbeit", deren Ertrag dem Kapitalisten zufällt. […] Der Lohn kann erst gesenkt werden, wenn die Reproduktionsfähigkeit der Arbeitskraft nicht darunter leidet. Der Arbeiter muss schon auch noch fit genug bleiben können, um auf der Arbeit zu erscheinen, denn ohne seine Arbeit wird auch der Kapitalist nicht reicher.

Genauer: Den Wert der Ware Arbeitskraft bestimmt Marx ganz im Einklang zu seiner sonstigen Werttheorie, nämlich durch den Arbeitsaufwand, den es gesellschaftlich notwendig - d.h. im gesellschaftlichen Durchschnitt - braucht, um die Arbeitskraft zu produzieren bzw. reproduzieren. Das hängt vom allgemeinen Stand der gesellschaftlichen Produktivität, also vom technischen Fortschritt, und je nach Branche - etwa Landwirtschaft - auch von den vorherrschenden Naturbedingungen (Klima, Boden, etc.) ab.

a) "Marxismus light" vs. "Marxismus deluxe"

Warum habe ich diesen Punkt nicht explizit betont und ausgearbeitet? Nun, es kommt eben ganz darauf an, wie streng man mit der kapitalistischen Produktionsweise ins Gericht gehen will, hängt also davon ab, was man letztlich über sie beweisen will. Will man das Lohngefälle zwischen verschiedenen Branchen erklären und die Bewegungsgesetze für die Höhe der Lohnsumme herausarbeiten, wann sie sinkt und wann sie steigt, so kommt man um die Marxsche Bestimmung des Lohns als Reproduktionskosten der Arbeitskraft nicht umhin. Dann muss man diese Bestimmung mit ein paar Argumenten verteidigen.

Begnügt man sich hingegen mit dem für sich ohnehin schon vernichtenden Urteil, dass in dieser Gesellschaft systematisch Ausbeutung, also Aneignung fremder Arbeit stattfindet, tut es eigentlich auch weniger. Dann genügt es, dass die Arbeitswertlehre wenigstens für anderen Waren stimmt (Ausnahmen wie Kunst- und Militärmarkt ausgeschlossen. Dann ist es egal, ob dies nun zusätzlich auch für die spezielle Ware Arbeitskraft zutrifft oder nicht. Solange für die anderen Waren nur weiterhin die These stimmt, dass der gesellschaftlich notwendige Arbeitsaufwand den Wert bestimmt, und solange ein Mehrwert generiert wird, ist an dem Urteil "Kapitalismus = Ausbeutung" nicht zu rütteln.

Das ist zugegeben ein etwas laxerer "Marxismus" als bei Marx, sozusagen "Marxismus light", aber auch nicht ohne. In dieser abgeschwächten Variante beraubt man sich mangels der Kenntnis um die Bewegungsgesetze des Lohns zwar der Möglichkeit, allgemeinere Tendenzen für das weitere Wirtschaftsgeschehen zu formulieren, aber die Abschwächung verunmöglicht es nicht, weiterhin über systematische Ausbeutung sprechen zu können. Die Voraussetzungen dafür bleiben nämlich alle erhalten.

In einem laxeren Setting bleiben einem jedenfalls mühselige, orakelartige Diskussionen darum erspart, ob der Kapitalismus auf seine Endkrise zusteuert oder ins Paradies, und wenn ja, seit wann das schon so ist und wie lange das wohl noch dauern mag, und wie sich das mit der langfristigen "Zusammensetzung des Kapitals" und dem "tendenziellen Fall der Profitrate" denn nun eigentlich verhält, ob die dazu anhängigen Thesen überhaupt statistisch bewiesen werden können, also an der Realität überprüfbar sind, was dann seinerseits in die Diskussion über komplizierte Methodenfragen übergeht, für deren Besprechung dann einem wiederum das nötige intellektuelle Rüstzeug und auch die Daten fehlen, die einem nicht hinterhergeworfen werden und die man sich deshalb entweder mühsam recherchieren muss, wenn sie denn überhaupt erhoben werden. All diese Mühsal kann man sich direkt ersparen, indem man sich in seiner Beweisabsicht von vornherein auf weniger verpflichtet und damit dem vermeintlichen Gegenargument den Wind aus den Segeln nimmt.

Vor diesem Hintergrund eines "Marxismus light" ist überhaupt der ganze Einstieg in die Artikel-Serie zu sehen. Die begann nämlich mit den zwei Argumenten "Produktion findet nur unter Vorbehalt des Mehrwerts statt“ und "Die Produzenten entscheiden nicht über Was und Wie der Produktion". Hier wird von der Strenge der Marxschen Ableitung bewusst stark abgewichen. Von der Logik der Sache her müsste man im Grunde zunächst über "Wert" sprechen, bevor man überhaupt über ein Mehr davon, also über den "Mehrwert" reden kann. So macht es auch Marx. Aber selbst ohne zu wissen, was der genaue Inhalt des Wertes ist, selbst unter einer eklatanten Fehlbestimmung dieser Größe, lassen sich durchaus einige Schlussfolgerungen ziehen, die allein auf dem Zugewinn, aus eben diesem "Mehr", basieren. Man hat also keinesfalls den ganzen Marx komplett widerlegt, nur weil man ihm seine Arbeitswertlehre zerschossen hat. Wenn man nämlich genau hinschaut, wird man feststellen, dass eben nicht jedes seiner Argumente auf ihr fußt.

Ich will mit diesem Vorgehen nicht Marxens Theorie verwässern, was ich im übrigen auch nicht tue, wenn ich einige Teile von ihr einfach nicht weiter ausleuchte, sondern ich will hartnäckige Kritiker des Marxismus für die Einsicht sensibilisieren, dass ihre Siegesgewissheit verfrüht sein mag, wenn sie mal wieder mit diesem oder jenem Einwand auftrumpfen. Es ist nämlich keinesfalls so, und stimmt auch für anderen Theorien in anderen Wissenschaften nicht immer sofort, dass ein Denkgebäude restlos in sich zusammenstürzt, wenn sich einzelne Säulen als unrichtig erweisen sollten, was ich hiermit jedoch übrigens nicht einräume, aber als einlassendes Gedankenexperiment durchaus zulasse. Man muss schon schauen, inwiefern sie überhaupt tragend sind, um mal bei diesem architektonischen Bild zu bleiben.

Die Nachfolger Darwins haben übrigens mit neuen Untersuchungsmethoden […] Erweiterungen seiner Evolutionstheorie darauf aufgebaut. Das Darwin etwas noch nicht berücksichtigt hatte, führt nicht zur "Falsifizierung" [= Widerlegung. AdA] seiner Theorie […], sondern zu mehr besseren und genaueren Erklärungen, nicht zum Generalurteil, die Evolutionstheorie sei Schrott.

Forist "Ice Tea"

Es hängt halt davon ab, welche Teile der Theorie durch welche Säulen gestützt werden, also von ihnen abhängen, und welche nicht, die von daher weiterhin unberührt von den erbrachten Einwänden bleiben. Dafür muss man die Theorie klar sortiert bekommen. Auch hängt es davon ab, von welcher genauen Art der behauptete Fehler ist, selbst wenn er gewichtiger Natur sein sollte, und ob er sich nicht im Nachhinein noch korrigieren lässt, ohne die ganze Theorie und ihre Hauptaussagen gleich dem Scheiterhaufen überantworten zu müssen.

Will man sich also bei einem Gespräch zwischen Tür und Angel nicht darum streiten, ob die Lohnsumme durch die Reproduktionskosten bestimmt ist oder nicht, hat man meines Erachtens gar nicht viel verloren, wenn man nachgibt und diese These zunächst fallen lässt. (Die Details kann man ja später immer noch nachreichen.) Man hat trotzdem noch einiges in der Hand. Immerhin kann man dennoch anstelle einer genauen Bestimmung der Lohnsumme noch wenigstens eine Obergrenze für sie benennen: Sie darf nicht so groß sein, jedenfalls nicht dauerhaft, dass sie die Erzeugung von Mehrwert behindert. Erstmal so ganz abstrakt. Etwas genauer in der Fußnote1. Noch genauer weiter unten im Text, in Punkt (e). Die Untergrenze wurde ja oben schon genannt: Wenn der Arbeiter seine Arbeitskraft nicht regenerieren kann, ist er für ihren Anwender, den Kapitalisten, schlicht unbrauchbar. Im Grunde stimmt auch diese Untergrenze nicht wirklich. Tagelöhner zum Beispiel können auch weniger verdienen, wenn es einen Überfluss an ihnen gibt. Ihre Arbeit ist so einfach, dass sie ebenso einfach ausgetauscht werden können. (Hier wären noch allenfalls noch Erwägungen interessant, wie hoch der Tagelöhnerjob sein muss, dass sich die Klasse der Tagelöhner als Ganzes reproduziert.)

Für die Puristen unter uns, die den Streit um die Marxsche Lohnbestimmung dennoch führen wollen, und das passiert im Folgenden, hat man sich unter Umständen an Einwänden von folgendem Typ abzuarbeiten.

b) Einwand: Löhne ≠ Reproduktionskosten

Ein Arbeiter bei VW bekommt einen Lohn von 3.000 Euro im Monat. Eine Kindergärtnerin von 1.200 Euro. Dieser Unterschied lässt sich nicht durch unterschiedliche Reproduktionskosten erklären.

Forist "Klaus N"

Der Einwand geht also prinzipiell so: Es wird auf das Lohngefälle zwischen den Branchen und Geschlechtern verwiesen und dort auf einen Lohnunterschied von fast 3:1 gedeutet, was ja wohl nur schwerlich sein könne, da die Reproduktionskosten verschiedener Menschen in derselben Weltgegend und zur selben Zeit sich wohl kaum ums Dreifache voneinander unterscheiden können. Der Einwand basiert auf einem häufigen Missverständnis, was denn nun Reproduktionskosten genau sein sollen. Der Forist teilt uns freundlicherweise ziemlich exakt mit, was jedenfalls er unter solchen verstehen will:

"Das Durchschnittsnettoäquivalenzeinkommen liegt bei 1.800 [Euro] im Monat. Relativ einkommensarm ist man mit 913 Euro [Stand 2017. AdA]. Das würde ich als moderne Reproduktionskosten bezeichnen, wobei auch die Armutsgrenze von 731 [Euro] vertretbar wäre [!!! Wie großzügig! AdA]. Man kann hier noch ein paar Korrekturen machen […], aber von der Größenordnung her dürfte das stimmen. Mit anderen Worten: Die Löhne sind ungefähr doppelt so hoch wie die Reproduktionskosten. Und das tendenziell schon seit mindestens den 60er Jahren. Ich würde sagen, wenn sich die Praxis so lange hartnäckig weigert, sich an Marx' Theorie zu halten, vielleicht stimmt dann zumindest ein wichtiger Teil der Theorie nicht?" (Forist "Klaus N")

Ergo:

Reproduktionskosten erklären die Untergrenze [für Löhne], aber eben nicht Löhne, die darüber liegen.

Forist "Klaus N"

Nun die Gegenstimme dazu:

Du fasst Reproduktion als Existenzminimum. Das ist nicht der Marxsche Begriff, es ist deiner. Zudem behauptest du, dass man dieses Existenzminimum bestimmen kann. Das halte ich für fraglich. Das hiesige staatlich festgelegte Existenzminimum ist eine politische Festsetzung, keine wissenschaftliche Bestimmung. Man könnte den Warenkorb verändern, und z.B. Strom und Heizung kürzen, der Mensch würde trotzdem noch existieren. Vielleicht frierend und im Dunkeln sitzend, aber auch Obdachlose überleben ja irgendwie. Vielleicht nicht so lange wie andere Menschen.

Forist "jsjs"

Vom Prinzip her richtiger Einwand. [!!! Aber irgendwie doch nicht? AdA] Weder ist das Existenzminimum notwendigerweise das gleiche wie die Reproduktionskosten, noch ist eine politische Festlegung notwendigerweise das gleiche wie das objektiv zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendige. Und schließlich sind die Reproduktionskosten in Deutschland 2020 ganz andere als die in Bangladesch, oder auch als die Reproduktionskosten in Deutschland 1850. [!!! Und dennoch (AdA):] Wenn man aber den Begriff für Deutschland 2020 operationalisieren will [!!!], und Du weißt ja, so ticke ich [!!! Oh ja. AdA], dann ist das Existenzminimum eine ganz brauchbare Annäherung an die wahren Reproduktionskosten.

Forist "Klaus N"

Das ist schon eine seltsame Logik. Man weiß um den eigenen Fehler, man gesteht ihn sogar ein, und möchte trotzdem an ihm festhalten und die eigene Theoriebildung darauf aufbauen. Das Ganze rechtfertigt man auch noch ausgerechnet mit einer Marotte ("so ticke ich"), während man gleichzeitig dem Gegenüber in denselben Punkten Theoriemängel vorwirft.

Die Reproduktionskosten sind durchaus unterschiedlich [beim VW-Arbeiter wie auch bei der Kindergärtnerin. AdA] und enthalten auch das, was Marx das "historisch moralische Element" nennt.

Forist "jsjs"

Es ist eben dieses "historisch moralische Element", was vielen Kritikern Kopfschmerzen zu bereiten scheint, weil es sich nicht als eindeutiger Lohnanteil in einer Geldsumme oder wenigstens einer Methode zur näherungsweisen Bestimmung solch einer Geldsumme darstellen lässt. Was sagt der Altmeister selbst dazu in Kapitel 4.3?

"Zu seiner Erhaltung bedarf das lebendige Individuum einer gewissen Summe von Lebensmitteln. Die zur Produktion der Arbeitskraft notwendige Arbeitszeit löst sich also auf in die zur Produktion dieser Lebensmittel notwendige Arbeitszeit, oder der Wert der Arbeitskraft ist der Wert der zur Erhaltung ihres Besitzers notwendigen Lebensmittel. Die Arbeitskraft verwirklicht sich jedoch nur durch ihre Äußerung, betätigt sich nur in der Arbeit. Durch ihre Betätigung, die Arbeit, wird aber ein bestimmtes Quantum von menschlichem Muskel, Nerv, Hirn usw. verausgabt, das wieder ersetzt werden muss. Diese vermehrte Ausgabe bedingt eine vermehrte Einnahme. Wenn der Eigentümer der Arbeitskraft heute gearbeitet hat, muss er denselben Prozess morgen unter denselben Bedingungen von Kraft und Gesundheit wiederholen können. Die Summe der Lebensmittel muss also hinreichen, das arbeitende Individuum als arbeitendes Individuum in seinem normalen Lebenszustand zu erhalten. Die natürlichen Bedürfnisse selbst, wie Nahrung, Kleidung, Heizung, Wohnung usw. sind verschieden je nach den klimatischen und anderen natürlichen Eigentümlichkeiten eines Landes. Andrerseits ist der Umfang sog. notwendiger Bedürfnisse, wie die Art ihrer Befriedigung, selbst ein historisches Produkt und hängt daher großenteils von der Kulturstufe eines Landes, unter anderem auch wesentlich davon ab, unter welchen Bedingungen, und daher mit welchen Gewohnheiten und Lebensansprüchen die Klasse der freien Arbeiter sich gebildet hat. Im Gegensatz zu den anderen Waren enthält also die Wertbestimmung der Arbeitskraft ein historisches und moralisches Element. Für ein bestimmtes Land, zu einer bestimmten Periode jedoch, ist der Durchschnittsumkreis der notwendigen Lebensmittel gegeben."

Marx

Was braucht der Mensch denn so alles, um seine Arbeitskraft zu regenerieren? Das ist ja nicht eine Frage des durchschnittlich notwendigen Kalorienverbrauchs, um das reine Überleben abzusichern, nach dem Motto: Hauptsache jeden Tag gut genährt, Hülsenfrüchte, Kartoffeln und ein Nickerchen und schon ist der Arbeiter wieder fit für die Werkhalle. Wenn man dies unter Reproduktionskosten versteht, führt es in der Tat zum Widerspruch, auf den "Klaus N" verweist. Denn wir mögen zwar alle unterschiedlich groß, alt und schwer sein, die einen fitter, die anderen weniger, mit einem unterschiedlich schnellen Stoffwechsel und einer je verschiedenen Krankheitsgeschichte versehen usw., aber statistisch betrachtet streichen sich die Abweichungen nach oben und nach unten (um einen in jeder dieser Messgrößen ermittelbaren Durchschnitt) heraus, zumal der Arbeitgeber eh nicht über diese anthropometrischen Einzeldaten seiner Angestellten verfügt, also den Lohn jedenfalls auf dieser Basis gar nicht individuell festlegen kann. Und dann hat man es tatsächlich nur noch mit normalverteilten "Durchschnittsmenschen" (Adolphe Quetelet) zu tun und fragt sich ratlos und am Hinterkopf kratzend, warum der Durchschnittsmensch in jener Branche doppelt und dreifach so viel verdient wie der Durchschnittsmensch in einer anderen. So stark können sich ihre Kalorien- und sonstigen Bedarfe, die sie zur Reproduktion brauchen, doch gar nicht unterscheiden.

Doch. Die Arbeitskraft stellt jeweils branchen- und länderspezifisch ihre ganz eigenen Anforderungen an ihren Erhalt. Früher musste man z.B. als intellektuell Beschäftigter (etwa als Journalist, Lehrer, Forscher), sich regelmäßig neu befüllte Bücherregale und auch ein paar Tageszeitungen und Fachzeitschriftenabos leisten können. Journalisten müssen tagesaktuell informiert sein, Forscher müssen die neusten Kniffe und Einsichten ihrer jeweiligen Wissenschaft kennen, etc. Auf diese Weise das eigene Bildungsniveau zu hegen und zu pflegen, gehörte zur Reproduktion dieser spezifischen Arbeitskraft bis vor kurzem schlicht dazu. Und jeder Besucher wusste: Oha, an allen Wänden Bücherregale mit Fachliteratur, hier lebt wohl ein Studierter.

Heutzutage hat jeder ein Smartphone oder ein Laptop, über welche auf einen Großteils des Weltwissens zugriffen werden kann, die Bücherregale können downsizen oder gar vollständig verschwinden, mit ihnen auch die benötigte Wohnfläche, das spart Wohnkosten - jedenfalls unter der Annahme gleichbleibender Mietkosten. Stattdessen müssen der Internetzugang und der vermehrte Stromverbrauch bezahlt werden. Und das ist nur ein Aspekt. Auch an anderen Fronten gibt es eine ständige Bewegung der Kosten nach oben oder unten. Das alles fällt unter den Begriff der Reproduktionskosten. Und auch noch viel mehr, wie wir gleich sehen werden.

Sogar sogenannte "Luxusartikel" können gelegentlich unter die Reproduktionskosten fallen. In manchen Branchen (Vermögensverwaltung, Consulting, etc.) muss man als Angestellter im Kundengespräch Geld repräsentieren, um dem Kunden zu suggerieren, dass er eine Fachkompetenz vor sich stehen hat, die mit Geld umzugehen und auch sein Geld zu vermehren weiß. Kleider machen Leute. Dann gehört eben auch eine glanzvoller Auftritt dazu, d.h. teure Garderobe, Rolex, Montblanc-Füller, vielleicht sogar ein geleaster Benz, makellose Zähne, Botox-Behandlungen gegen Hautfalten und unter Umständen auch mal eine Escortdame für die Charitygala. Das sind alles berufsnotwendige Repräsentationskosten, wenn man in den entsprechenden Kreisen verkehrt.

Ferner beinhaltet Reproduktion der Arbeitskraft auch die Pflege der Psyche. Na sicher das! Wie einer die Welt und sich in ihr reflektiert, das hat schon gar nichts mehr mit Kalorien und Expertise zu tun. D.h. auch der Wille, täglich zur ungeliebten Arbeit zu gehen und einen großen Teil des eigenen Lebens dort zu verschwenden, wenn man denn so empfindet, muss ständig erneuert werden. Denn das Gebot des Mehrwerts hat notwendig viele Arbeitsprozesse derart trostlos eingerichtet (vgl. Teil 2), dass sie den Körper nicht nur physisch verschleißen, sondern auch emotional zermürben.

"Was tue ich hier eigentlich?", haben sich sicherlich viele in ihrem Leben am Arbeitsplatz schon etliche Male frustriert gefragt. "Ach ja, das Geld", folgt alsdann die Selbstvergewisserung. Je branchenüblicher die Trostlosigkeit, umso eher auch das Bedürfnis nach psychischer Kompensation, die man sich dann aber auch leisten können muss. D.h. vom Lohn muss eben genug Geld übrig bleiben für (wahlweise, oder in in Kombination): Den regelmäßigen Urlaub, die Yogastunden, die exzessiven Wochenend-Sauftouren mit den Jungs auf Schalke, die täglichen Feierabendjoints oder -biere beim Netflix & Chill oder die aparten Hobbys - jedenfalls lauter Gelegenheiten, bei denen man für einen Moment lang "abschalten" und die arbeits- und konkurrenzgestresste Psyche etwas zur Ruhe und Abwechslung kommen lassen kann, die eigene Individualität ausleben, die Seele baumeln lassen. Während man auf der Arbeit einstecken muss, ist daheim der Ort des Rückzugs und der Hort des Friedens. Schön soll es da sein und entspannend. Also wird ein Nest gebaut. My house is my castle. Eine IKEA Möbelgarnitur muss sich auch der Fabrikarbeiter mindestens leisten können. Das zählt also auch zu den Reproduktionskosten der Psyche.

Zusätzlich hat der Kapitalist es mit dem lästigen Umstand zu tun, dass viele Arbeiter ihr Leben nicht ganz allein fristen, sondern häufig ein nach Möglichkeit funktionales Familienleben anstreben. Wie groß ist so eine durchschnittliche deutsche Arbeiterfamilie, d.h. wie viele Leute müssen von einem oder inzwischen zwei je branchenüblichen Löhnen miternährt werden? Und was hat die Familie als Ganzes für einen Budgetbedarf, um die an sie gestellten ökonomischen und politischen2 Anforderungen noch erfüllen zu können? Das alles muss im Lohn nämlich mitbezahlt werden, fällt also zweifellos auch unter die Reproduktionskosten.

Wie groß solch eine Familie ist und wofür man sie sich hält (z.B. als soziales Auffangnetz, vor allem in ärmeren Ländern, dann muss sie entsprechend groß sein, um etwa vorzeitiges, ortsübliches Wegsterben des Nachwuchses zu kompensieren), mag sich von Kulturraum zu Kulturraum, von Epoche zu Epoche drastisch unterscheiden, und in je verschiedenen Reproduktionskosten äußern. Problematisch bei der Bezifferung des historisch moralischen Elements ist auch die Konkurrenz der Arbeitnehmer über Landesgrenzen hinweg. Das lohnarbeitende Oberhaupt einer Großfamilie aus Bangui in Zentralafrika mag einen hohen Bedarf anmelden, so viele Mäuler zu stopfen, aber mangels produktiver Produktionsmittel muss er, weil er mit der industrialisierten Welt auf dem Weltmarkt - und das heißt auch: bei sich daheim - in Konkurrenz steht, etwa auf dem Feld der Agrarproduktion3, einen massiven Lohnverzicht gegenüber den traktorenfahrenden Arbeitnehmern der ausländischen Konkurrenz hinnehmen, denn sonst sind die von ihm hergestellten Waren schlicht unverkäuflich. Dann müssen er und seine Familie eben damit klarkommen. Was die Reproduktionskosten sind, womit einer klarzukommen hat, setzt sich auf dem Markt beständig immer wieder neu durch. (Mehr zum internationalen Lohngefälle in der Replik 4b.)

Wie setzt sich der Lohn denn durch? Wann immer und in welchem Umfang es geht, wird in jeder Branche um den Lohn gestritten. Was dabei herumkommt, hängt vom Kräfteverhältnis zwischen Arbeitnehmer und -geber ab, womit eben nicht nur der gewerkschaftliche Organisationsgrad, der Zusammenhalt der Betroffenen und die finanziellen Rücklagen beider Parteien gemeint sind, sondern auch die generellen äußeren historischen Umstände, so wie etwa das allgemeine Produktivitätsniveau, die Situation auf dem Arbeitsmarkt, die Konjunktur- und Weltmarktlage, das politische und mediale Umfeld, wie gut sich das hauseigene Produkt zu welchem Preis und in welchem Umfang verkauft usw., also alles Einflussgrößen, die man als Arbeiter allesamt kein Stück unter Kontrolle hat, ja noch nicht einmal überblickt, obwohl es doch gerade die Arbeiter sind, welche die Arbeitsprozesse dieser Welt in Gang halten. Der Lohn ist eben nicht nur einmal ausgehandelt und dann auf längere Dauer fix und fertig, sondern unterliegt einer beständigen Attacke, weil er im Gegensatz zum Interesse des Kapitals steht, welches permanent seine Stückkosten senken will (sofern es muss), um fortwährend wettbewerbsfähig bleiben zu können.

Dabei kann der ausgehandelte Lohn seine Kaufkraft auf verschiedene Weisen anteilig verlieren, eben nicht nur durch die Senkung des nominellen Lohnbetrags, d.h. einer expliziten Lohnkürzung. Im Grunde ist er permanent umkämpft, weil sich im Hintergrund Dynamiken abspielen, die für eine relative Entwertung des Lohns sorgen, sodass man sich von einem gegebenen Geldbetrag heute weniger kaufen kann als früher. Inflation heißt ja wörtlich, dass sich die Preise der benötigten Güter "aufblähen". Bei gleichbleibender Lohnsumme kann man auf weniger von ihnen zugreifen, also wird für ihre Erhöhung gekämpft.

Und eben weil der Lohn immer umkämpft bleibt, wird bei Lohnkämpfen von beiden Seiten alles an Argumenten aufgetischt, was verspricht, den Lohn in eine für sich günstigere Richtung zu rücken. Z.B. will der Arbeitnehmer die Länge und die Härte seiner Ausbildung vergütet sehen, der Arbeitgeber hingegen seine Investitionspläne berücksichtigt haben, beide erinnern sowieso an den jeweiligen Schaden und Nutzen für den Betrieb oder die Nation, usw. usf. Lohnerhöhung oder -senkung im Dienste das Vaterlands kennt man eben auch als Argument. Ob‘s faktisch stimmt, ist egal, wer will das schon nachrechnen und wie? Kurzum: Wie hoch die Reproduktionskosten letztlich sind, muss zum großen Teil überhaupt erst erkämpft werden und dieser Kampf spielt sich innerhalb besagter Ober- und Untergrenzen ab. Das ist ein wechselseitiges Hauen, Stechen und Lavieren, wobei die Kapitalisten als Eigner des Kapitals regelmäßig am längeren Hebel sitzen.

c) Erörterung: Ausbildungskosten

Ein Ingenieur muss erst mal studieren, bevor er arbeiten kann, seine Reproduktionskosten sind also höher.

Forist "Klaus N"

Richtig! Aber dieses "also" muss erklärt werden, zumal es sich nicht mit seiner Theorie von den Reproduktionskosten als reinem Existenzminimum (s.o.) verträgt. Ein Ingenieur lässt sich nicht so einfach auswechseln wie eine einfache, ungelernte Putzkraft. Wieso hat er damit automatisch höhere Reproduktionskosten? Im Prinzip ist nicht die Person, d.h. der Ingenieur selbst, relevant, sondern die Arbeitskraft, welche die entsprechenden Ingenieurstätigkeiten ausüben kann, die aber an ihm, an seinem Körper, dranhängt. Sie ist nicht ohne Weiteres zu reproduzieren, wenn die Person aus welchen Gründe auch immer ausscheidet. Um den durchschnittlichen Junior-Ingenieur zu reproduzieren, braucht es eine durchschnittliche Ingenieursausbildung, die üblicherweise 4-8 Jahre dauert. Bei jährlichen Ausgaben von z.B. 10.000 Euro, von denen ein Student leben muss, sind das also schon 40.000-80.000 Euro für die Produktion eines neuen Junior-Ingenieurs (gerechnet nach Schulabschluss). Die nicht so billige Reproduzierbarkeit des Ingenieurs ist sein Druckmittel für höhere Einstiegslöhne, sofern er keine Konkurrenz hat. (Wer für sein Studium, länger braucht, z.B. 12 Jahre, wird die Kosten für die zusätzlichen Lehrjahre nicht wieder eintreiben können, da er ja mit den schnelleren Studenten auf dem Arbeitsmarkt zum marktüblichen Lohn konkurriert.)

Mit höherem Lohn steigen aber auch seine "Lebensansprüche" (s. Marx oben). Ob er sie durchsetzen kann gegen die Rentabilitätsrechnung seines Chefs, ist dann eine andere Frage. Das hängt z.B. auch damit zusammen, was für ein Geschäft sich mit ihm machen lässt. Bzw. welchen Schaden er anrichten kann, wenn er auf Basis enttäuschter Gehaltsansprüche frustriert zur Konkurrenz abwandert: Als Senior-Ingenieur verfügt er ja auch über betriebliches Geheimwissen, das er bei seinem neuen Arbeitgeber gegen seinen alten zum Einsatz bringen kann. Und wie schwer ist es, solch einen Senior-Ingenieur überhaupt zu reproduzieren, mit seinem auf die Betriebsabläufe hochspezialisierten Geheimwissen? Im schlimmsten Fall ist das gar nicht möglich, weil er sich auf seiner Arbeitsstelle ein auf sich zugeschnittenes System um sich herum gebaut hat, das kein anderer durchblickt, und sich auf diese Weise fast schon unersetzbar gemacht hat.

Programmierern wird von ihren Nachfolgern oft nachgesagt, dass ihre Quellcodes nicht lesbar und unzumutbar seien, man also nicht ohne weiteres darauf aufbauen könne, sondern erst einmal ein neues System aufsetzen müsse. Hier muss der Chef also zwei Mal überlegen und gegebenenfalls auch nachrechnen, ob er seinem Zugpferd nicht doch ein besseres Gehaltsangebot macht oder stattdessen für teuer Geld alles neue entwickeln lässt. Solche Neuentwicklungen sind ja auch mit Unsicherheit behaftet: Leistet der Neue auch wirklich, was er verspricht? Ist seine Ansage über die Dauer der Neuentwicklung realistisch oder nimmt er das Maul zu voll? Viel Raum für Spekulation.

Insofern hat "Klaus N" also letztlich recht. Ein Studium fällt ganz sicher unter die Reproduktionskosten. Es gibt aber Methoden, die Ausbildungskosten des Ingenieurs zu senken, indem man die Ausbildungsdauer kürzt. Z.B. ersetzt Software beim Design das Zeichenbrett und macht diese Tätigkeit in schnellerer Zeit und einfacher erlernbar. Techniken der "Künstlichen Intelligenz" werden hier noch einiges beschleunigen. In der Programmierung gibt es für die fortlaufende Weiterentwicklung des Quellcodes Tools für die Versionsverwaltung, sodass man nicht ganz von neuem beim Aufbau eines neuen Systems anfangen muss. Immer bessere Entwicklungsumgebungen, neue Möglichkeiten der Kooperation (z.B. Zugriff auf Bibliotheken, d.h. auf Codeschnipsel, die von den Entwickler-Communities zur Verfügung gestellt werden) und der Aneignung des benötigten technischen Wissens (Blogs, Tutorials etc.) beschleunigen das Schreiben solcher Codes und machen die Wissensaneignung niederschwelliger. Den Arbeitskräften erscheinen solche softwaregestützten Neuerungen des Arbeitsplatzes als Angebot an sie, denn es erleichtert ihre Arbeit maßgeblich, macht aber insofern auch ein Stück der benötigten Expertise, die man zuvor mitbringen musste, gänzlich überflüssig. (Das macht den Job aber nicht unbedingt gemächlicher, sondern wird gleich gegen sie verwendet: Dann werden die Abgabefristen eben verkürzt, um den Kapitalrückfluss zu beschleunigen.)

Eine weitere Methode, die Ausbildungskosten zu senken: Um brauchbaren Ersatz für akademische Fachkräfte bedarfsweise durch einen Import aus dem Ausland ausgleichen zu können, wurde von den wirtschaftlich erfolgreichen Nationen die internationale Vereinheitlichung universitärer Abschlüsse forciert. Bei dieser Gelegenheit wurden die Jahre, die es bis zu einem Schul- bzw. Uni-Abschluss im Durchschnitt braucht, ein wenig reduziert (Stichworte: G12-Abitur, Bachelor-Abschluss, Bologna-Prozess).

Als gleich zwei Attacken auf die Reproduzierbarkeit des Ingenieurs in einem Zug wurde die Konkurrenz ausgeweitet und die Ausbildung verbilligt. Das führte zu geringeren Reproduktionskosten an dieser Front, weshalb die Industrie sich so sehr für diese Reform stark gemacht hat, obwohl Lehrer und Professoren vor dem Niedergang der Wissenschaften warnten und dies auch immer noch tun. Überdies führte es auch noch zu einer "Akademikerschwemme", einem Überfluss an Kopfarbeitern gemessen am Bedarf des Kapitals, sodass sich Effekte von Angebot und Nachfrage zusätzlich zu Ungunsten der Akademiker bestimmter Fachrichtungen auswirkten. Damit war der Beweis praktisch und gegen den Willen dieser Sorte Akademiker erbracht, dass sie ja gar keine 3- bis 4-Zimmerwohnung oder gar ein eigenes Häuschen mehr brauchen, wie sie immer behauptet haben. Geht auch ohne. Weniger tut es bei vielen von ihnen wohl auch, mehr schlecht als recht, aber man "überlebt". (Dazu mehr in Teil 5 der Artikelserie.)

Praktisch geht das mit einer sozialen Herabwürdigung einher, kleinen Sticheleien im Alltag. Früher galten die studierten Herren als "Honoratioren", denen anbeträchtlich ihres Wissens eine gewisse Achtung und Ehrerbietung gebührte, heute werden auch diejenigen, die sich um besonders viel Wissen bemühen, als "Langzeitstudenten" abqualifiziert. Witze vom Soziologen als Taxifahrer haben inzwischen Konjunktur. Das hat für die Arbeitgeberseite den schönen Nebeneffekt, dass es den sozialen Druck erhöht, sich als Arbeitnehmer mit geringeren Löhnen abspeisen zu lassen. Ihre "Lebensansprüche" sind gesunken. Wer heute Geisteswissenschaften studiert, stellt sich schon während des Studiums oder gar vorher drauf ein, dass er/sie später weniger verdienen wird als die Maschinenbauer und Informatiker, obwohl sich, je nach Fach und individuellem Vertiefungsinteresse die Dauer und die Intensität des Studiums nicht so stark voneinander unterscheiden müssen.

Diese Lohn-"Ungerechtigkeit" vor sich selbst und anderen zu rechtfertigen, dafür entwickeln sich dann in den Köpfen der Beteiligten fast schon stereotypische Begründungs- und Bewältigungsmuster. Die Ingenieure sagen: Ach die Geisteswissenschaftler, die lernen doch gar nichts auf der Uni und erfahren dort nur eine lasche Ausbildung. Wir hingegen sind die Leistungsträger in dieser Gesellschaft und treiben die Nation weiter voran an die Spitze. Wir erfinden den technischen Schnickschnack, der das Leben für alle einfacher macht und unser Land konkurrenzfähig hält. Die Geisteswissenschaftler trösten sich mit der Dialektik aus "Haben und Sein": Ach wo, du Naivling, Geld allein macht doch nicht glücklich. Geht es nicht vielmehr darum, ein erfülltes Leben anzustreben? Das geht auch ohne viel Geld, welches unter Umständen sogar hinderlich sein kann, weil sich dann ja alle Gedanken um den Schutz des Eigentums drehen. Das belastet. Da ist die breite Bildung und das Wissen um die eigene und fremde Kultur doch viel wichtiger, als ein rein technisches Wissen. Außerdem, denk doch mal langfristig. Was hat das denn überhaupt für einen "Sinn", reich zu sterben? Stattdessen verplempert man das Geschenk des Lebens, indem man die ganze Zeit nur dem Geld hinterher jagt. Usw., hin und her.

Inzwischen steigen die akademischen Ausbildungskosten dank Corona wieder an. Je nachdem, was sich sonst noch so tun wird bei den übrigen Reproduktionskosten, hat dies längerfristig vielleicht sogar wieder eine Anhebung der Löhne geisteswissenschaftlich gebildeter Akademiker zur Folge. Ich bezweifele es, aber wer weiß das schon, ich bin kein Orakel.

d) Willkürliche Gehälter

"Ein Spitzenverkäufer im Außendienst kann locker [!!!] 400.000 Euro verdienen. Das zahlt der Arbeitgeber freiwillig [!!!]. Reproduktionskosten spielen da keine [!!!] Rolle. Und ein schlechter Verkäufer bekommt unter Umständen nur 10.000 Euro im Jahr. Weniger [!!!] als die Reproduktionskosten." (Forist "Klaus N")

Ergo: Löhne und Reproduktionskosten sind grundverschiedene Dinge, haben also nichts miteinander zu tun. Ich möchte nun wahrlich nicht leugnen, dass es durchaus Beispiele für krasse Einkommensgefälle gibt, und zwar für die exakt selbe Tätigkeit am selben Ort: Es gibt Mannschaftssportler, die allein locker so viel verdienen wie der Rest ihres Teams oder mehrere ihrer ärgsten Konkurrenten zusammen (z.B. Michael Jordan, Michael Schumacher, Cristiano Ronaldo etc.), und jeder für sich vermutlich mehr als die gesamte Frauenbundesliga, egal, ob sie sich genauso auspowern wie die Männer in ihrem Sport. Und im Film- und Serienbuisness mag ein berühmter Nebendarsteller oder eine Gastrolle eine viel größere Gage einstreichen als ein noch unbekannter Hauptrollendarsteller, der sich in Hollywood noch etablieren muss.

Von Lohn im eigentlichen Sinne kann man in solchen Kontexten eigentlich gar nicht sprechen. Andererseits: Was ist denn der durchschnittlich notwendige Aufwand, Brad Pitt zu reproduzieren? Wenn die Fans nur ihn sehen wollen, dann ist er eben nicht ersetzbar. Das wird dann so ähnlich wie auf dem Kunstmarkt sein - relativ willkürlich im Rahmen großzügiger Grenzen, die sich wiederum, wie auf dem Bodenmarkt, daran bemessen, was sich mit solchen Leuten für ein Geschäft machen lässt. Die abstrakten Obergrenzen (s.o.) gelten auch hier. Und das kann von Ort zu Ort stark variieren (Hollywood, Bollywood, Nollywood) und hängt auch stark davon ab, was die Fans für ihre Idole überhaupt zahlen können, also von den allgemeinen Verdienstmöglichkeiten in ihrem Land, was wiederum mit dem Stand der Nation auf dem Weltmarkt zu tun hat, womit wir wieder bei der Produktivität wären. In Ägypten müssen die Stadiontickets nun mal billiger sein als in westeuropäischen Staaten, um vollständig befüllt werden zu können, was wiederum den Umfang des damit gemachten Geschäfts reduziert und sich in kleineren Spielergehältern ausdrückt.

Wiederum andererseits können Cricket-Spieler in Indien enorme Vermögen auf sich vereinen. Die Durchschnittsgehälter der Zuschauer sind dort sogar noch geringer als in Ägypten, aber das Spiel ist dort der mit Abstand beliebteste Nationalsport und mit jeder Übertragung eines Spitzenspiels im Fernsehen oder per Internet werden potentiell mehr als 1 Milliarde Inder angesprochen. Das sind alles mögliche Käufer von Waren. Der Spieler wird dafür bezahlt, dass er diese immense Aufmerksamkeit auf die Bildschirme lenkt, denn die lässt sich ihrerseits ausnutzen, um per Reklame Produkte des täglichen Lebens anzupreisen (von Waschmittel bis Zahnbürsten und etlichem mehr).

Im Grunde sind die bestbezahlten Spieler Werbefiguren für alle möglichen Waren, die ihre Zielgruppe interessieren könnten, und sie werden für diese Marketingleistung gebührlich bezahlt. Sie übernehmen in ihrer Person Funktionen des Handelskapitals, und zwar der Unterabteilung des Marketings. Die Reproduktion ihrer sportlichen Durchsetzungsfähigkeit ist es jedenfalls nicht, die ihnen bezahlt wird - das mag vielleicht in der 3. Bundesliga und den Ligen darunter so sein -, sondern sie selbst ist nur das Mittel dafür, zu solch einer Figur aufgebaut werden zu können. Für diese Fähigkeit, Aufmerksamkeit zu generieren und auf sich ziehen zu können, muss man kein Ausnahme-Athlet sein. Die einzige Voraussetzung ist, dass man das Interesse eines zahlungskräftigen Gutteils der Bevölkerung wie auch immer, aber jedenfalls werbewirksam wecken kann. Das geht auch mit ganz anderen Mitteln als Sport.

Hübsch sein ist eine medial gesuchte Qualität (It-Girls), lustig sein eine andere (Comedians). Manche machen sich dadurch interessant, dass sie immer wieder für Skandale sorgen (z.B. Klaus Kinski). Auch seine eigene Ignoranz vor sich her zu tragen, kann die Aufmerksamkeit ebenso ignoranter Zuschauer wecken (Keeping up with the Kardashians). Es ist also Quatsch, bei den Gagen, welche die erfolgreichsten Gestalten des Entertainmentsegments beziehen, von "Löhnen" zu sprechen. In ihrer Funktion sind sie eher Unternehmer als Lohnempfänger.

Wer sich solche Randphänomene ernsthaft erklären will - und es sind Randphänomene gemessen am Umfang der globalen Arbeiterschaft -, sollte sich einmal sorgfältig überlegen, was in diesen Branchen eigentlich das Produkt ist, welches verkauft wird. Und das ist oft gar nicht mal so augenscheinlich, zumal Vertragsklauseln und genaue Daten über die Höhe und Art der Entlohnung (z.B. als Beteiligung am Gewinn, als Prämien etc.) bestenfalls ein paar Anwälten und dem Finanzamt vorliegen und ansonsten gut gehütete Geheimnisse der Vertragspartner sind. In diesem Sinne habe ich auch nichts weiter zu den oben vorstellig gemachten Verkäufern zu vermelden, die ihre Konkurrenten "locker" ums Vierzigfache überflügeln, mag es sie nun real geben, oder seien sie der blühenden Fantasie des Foristen entsprungen. Was weiß ich, zu welchen genauen Bedingungen sie überhaupt arbeiten? Der erfolgreiche Verkäufer mag stiller Teilhaber sein und formell zwar einen Lohn beziehen, aber im Prinzip am Gewinn beteiligt sein, während sich der weniger erfolgreiche zu einem Stundensatz verdingen mag, sich also noch so sehr ins Zeug legen kann, es spielt keine Rolle, weil sich sein Gehalt gar nicht an seinem Verkaufserfolg orientiert. Beide zu vergleichen und so zu tun, als sei ihre ökonomische Rolle identisch, halte ich mindestens für fragwürdig.

Sind die Bedingungen innerhalb einer Branche für die Gehaltsempfänger gleich oder wenigstens hinreichend ähnlich, dann gibt es so etwas wie einen marktüblichen Lohn. Dass es den gibt, weiß im Grunde auch jeder, der seine Karriere nach solchen Kriterien ausrichtet. Schon in der schulischen Berufsberatung zirkulieren Tabellen, die zu den gängigsten Berufen die üblichen Gehaltsspannen auflisten und bei den Schülern für große Augen und große Träume sorgen.

e) Die Lohnuntergrenze und der Zwang zur Arbeit

Dass nicht alle innerhalb derselben Branche desselben Landes zur selben Zeit - und sonstigen gleichbleibenden Bedingungen - Dasselbe bekommen, ist im Sinne der Marxschen Arbeitswertlehre jedenfalls trivial: Wie auch bei anderen Waren kann - ja muss - der Preis der Arbeitskraft (Lohn) ihren Wert eben über- oder unterbieten, schwankt also von Fall zu Fall. Diese Abweichung ist immer gegeben, ja sogar notwendig, zumal wir den Wert ohnehin nicht bestimmen können. Nicht umsonst beginnt Marx in Band 1 viele seiner Analysen mit so sinngemäßen Prämissen wie: "Nehmen wir an, der Arbeiter wird zu seinem Wert bezahlt, dann …". Er wusste, dass die Realität noch deutlich schlimmer sein konnte, er spricht dies auch immer mal wieder an, und benennt ökonomische und politische Dynamiken, die zu solchen Szenarien führen können. Aber solche Fälle sind analytisch letztlich wenig interessant, und agitatorisch sowieso irrelevant. Man muss wohl kaum jemanden davon überzeugen, gegen solche Niedriglöhne zu sein, von denen niemand leben kann. Egal, wie die Lohnkämpfe4 ausgehen, eins steht jedenfalls von vornherein fest:

Die allermeisten Lohnabhängigen benötigen ihr Leben lang ein Einkommen aus Lohn oder Lohnersatzleistungen. […] Reichtum, von dem sie [dauerhaft] leben können, häufen sie offenbar nicht an. Man sollte nicht von einem fixen Betrag ausgehen, den die Arbeitskraft wert ist. Die Kindergärtnerin bekommt ihre Reproduktion (halbwegs) geregelt, der Arbeiter bei VW auch. Viel mehr aber auch nicht.

Forist "jsjs"

Der Lohn reicht nicht dazu, mit dem Arbeiten aufhören zu können, noch nicht einmal, um Phasen der Nichtbeschäftigung und Krankheit zu überbrücken.

Forist "jsjs"

Vereinfacht gesagt: Der Lohnarbeiter erhält einen Lohn, der es ihm gestattet, Tag für Tag wieder erneut anzutreten, der ihn auch nötigt, Tag für Tag wieder anzutreten.

Forist "jsjs"

Und das ist eben die eigentliche Obergrenze dessen, was unter den Begriff der Reproduktionskosten der Arbeitskraft fällt - zwar nicht der individuellen, da mag der eine ein asketischer Eremit und der andere ein prassender Playboy sein, aber doch die branchenüblichen. Wenn nämlich ein Großteil der Arbeiterklasse in ihrer Mehrheit jahrelang von ihrem Ersparten leben könnte, dann wäre mit ihr kein gutes Geschäft zu machen. Und es würde mit ihr unter den Bedingungen eines Lohnsystems kaum etwas produziert, was sich anschließend rentabel verkaufen ließe. Die Not der Arbeiterklasse, die sich mangels Produktionsmittel in ihrer Verfügungsgewalt auch nicht selbst helfen kann, ist die elementare Geschäftsbedingung des Kapitals.

Lohnarbeit macht nicht reich. Obwohl die Produktivkraft der Arbeit in den letzten 150 Jahren enorm gestiegen ist, müssen Lohnarbeiter immerzu arbeiten.

Forist "jsjs"

Egal, wie produktiv die Arbeit inzwischen ist, wie viel sachlichen Reichtum ein Arbeiter mit wenigen Handgriffen produziert - er erhält nicht so viel, als dass er Reichtum anhäufen kann, oder einfach nur weniger arbeitet.

Forist "jsjs"

Egal wo du arbeitest, in der Regel bist du dein Leben lang von Lohn abhängig. Es ist die Ausnahme, dass ein Lohnarbeiter Reichtum anhäuft und irgendwann von diesem Reichtum lebt. Richtig ist, dass die Lohnabhängigen unterschiedlich entlohnt werden.

Forist "jsjs"

Dass Menschen einem Arbeitszwang unterliegen, ist ein gesellschaftliches Übel. Es wäre besser, die Menschen würden arbeiten, weil sie es wollen, weil sie Sinn in ihrer Arbeit sehen und weil sie den Lohn wollen, aber nicht brauchen. Wie man das erreichen kann, das ist die schwierige Frage.

Forist "Klaus N"

Und so schwierig nun auch nicht. Das erreicht man letztlich - den Übergang muss man sich noch genauer überlegen, man muss ihn aber auch erst einmal wollen -, indem man eben jenen Arbeitszwang ausschaltet. Dazu muss man sich aber begreiflich machen, wie der Zwang in einer Gesellschaft mit kapitalistischer Produktionsweise dem Arbeiter überhaupt gegenübertritt, nämlich als stummer Zwang der Verhältnisse. Geld verdienen muss man, sonst landet man schnurstracks auf der Straße.5 Die Gesellschaft ist in ihren Grundfesten, in ihrer allgemeinen Produktionsweise, gar nicht darauf ausgerichtet, dass in der Arbeit Sinn zu finden ist. Die muss man ändern - und ja, dafür muss man sich Rechenschaft über den Eigentumsbegriff ablegen -, und erst dann kann man davon träumen, die Arbeit nach solch erhabenen Kriterien wie Sinn einzurichten. Sonst sind das allenfalls Krokodilstränen. Dafür muss man sich aber auch von der Täuschung befreien, der Lohn sei das Mittel des Arbeiters und nicht des Kapitalisten.

In der Replik 4b gehen wir näher auf das internationale Lohngefälle ein, was bei einigen Lesern bestimmt für manche Verunsicherung sorgen könnte, und setzen uns mit weiteren Ideologien den Lohn betreffend auseinander.