Wie lautet die Bilanz der Bundeswehr-Mission in Afghanistan?

Drei unübliche Antworten auf drei übliche Fragen zur Bundeswehr in Afghanistan (Teil 3 und Schluss)

Wie lautet die Bilanz der Bundeswehr-Mission in Afghanistan?

Die übliche Antwort I (vor dem Sieg der Taliban):

"In Afghanistan gibt es seit 2002 keine relevanten Operationsbasen für weltweit agierende islamistische Terroristen mehr", schreibt die Bundesregierung in der Antwort (19/16274) auf eine Große Anfrage der AfD-Fraktion (19/10492). Die Exekutive werde von einem demokratisch legitimierten Parlament kontrolliert. Die gesellschaftliche Stellung von Frauen habe sich wesentlich verbessert. Es gebe eine vielfältige Medienlandschaft und weitgehend freie politische Debatten.

"Bildungsmöglichkeiten wurden durch neue Schulen, Universitäten und die Ausbildung von Lehrern verbessert. Die Gesundheitsversorgung und Lebenserwartung sind auf einem deutlich höheren Niveau als je zuvor in der afghanischen Geschichte." Lebenswichtige Transport- und Versorgungsinfrastruktur seien gebaut und wiederhergestellt worden. Dazu habe auch das deutsche Engagement wesentlich beigetragen."1

Die übliche Antwort II (nach dem Sieg der Taliban):

"Bitter, dramatisch, furchtbar" seien der Vormarsch der Taliban in Afghanistan und seine Folgen. Angela Merkel spricht vom geschundenen Land, von den Millionen Menschen, die auf die Demokratie gesetzt hätten. (…) Alles, was man über die Terrorbekämpfung hinaus habe erreichen wollen, so Merkels Fazit, sei "nicht so geglückt und nicht so geschafft worden, wie wir uns das vorgenommen haben." Eine Lehre für die Zukunft sei, dass man die Ziele "kleiner fassen" müsse. (Süddeutsche Zeitung, 18. August 2021)

Die unübliche Antwort:

Bundesregierung und Bundestag hatten sich das so vorgestellt: Im Schlepptau des US-Überfalls zeigt unsere Bundeswehr, was sie mittlerweile kann und zum Beispiel in Jugoslawien praktiziert hat - einen zuverlässigen Aufpasser spielen, aufräumen und auch mal "robust" zur Waffe greifen, wenn Widerstand aufflammt. Diesen Teil des Auftrags haben die deutschen Soldaten tatsächlich zur Zufriedenheit erledigt. Und sie haben eine Menge dazu gelernt. Der Plan war es zwar nicht gewesen, aber sie wurden in einen echten Krieg gezwungen. Was dafür an Material und vor allem an Strategie und Taktik benötigt wurde - unschätzbare Lehren für weitere "Friedensmissionen".

Damit hat die Bundeswehr gezeigt, dass Deutschland inzwischen überall auf der Welt in der Lage ist, in den Krieg zu ziehen. Und das braucht es schließlich für die Durchsetzung von Interessen, pardon, für die Wahrnehmung von "Verantwortung". Eine Aufgabe für die Zukunft bleibt: Sich noch mehr von den militärischen Führungsnationen zu emanzipieren. Also sich gegenüber den USA, aber auch Russland und China stärker aufzustellen. Das geht allerdings nicht allein, sondern nur im Verbund mit möglichst vielen und wehrhaften anderen europäischen Staaten - der schon erwähnte Dauerbrenner einer EU-Streitmacht.

Kurzfristigere Überlegungen konzentrieren sich in Deutschland auf eine Entwicklung der Bundeswehr, die nicht mehr von der militärischen Führung Frankreichs abhängig ist, wie aktuell in Mali. Schon wird vor einem "zweiten Afghanistan" gewarnt, zumal auch dort die deutschen Kräfte als Hilfstruppe agieren - und wie die Leitnation Frankreich in einem Krieg mit islamistischen Terrorgruppen und anderen Separatisten verwickelt sind. In einem Staat, der ähnlich wie Afghanistan zu den ärmsten Ländern der Welt zählt und von wechselnden Clans regiert wird, die sich bei ihren Putschen abwechseln (Tagesschau, 18.08.2021).

Keine Terror-Basis mehr in Afghanistan: Warum sind wir dann noch hier?

Zur positiven Bilanz neben der nachgewiesenen Kriegstauglichkeit gehört für die Bundeswehr die erfolgreiche Bekämpfung der terroristischen Al-Kaida. Jedenfalls hat sie dabei mitgeholfen, im Verein mit den anderen Staaten unter Führung der USA. Genau das war schließlich der Beweggrund für den Afghanistan-Krieg gewesen. Insofern wurde der Kriegszweck erreicht.

Es war nur eine Frage der Zeit, wann die Amerikaner zu der Auffassung gelangten, dass auch nach ihrem Abzug das Land keine ernstzunehmende Basis mehr für antiamerikanische Umtriebe sein würde. Dabei verließen sie sich nicht auf die installierte Regierung und deren mit US-Waffen ausgestattenen Streikräfte. Ganz realistisch verhandelten sie mit der zweiten Macht im Staate, den Taliban. Offenbar schätzte bereits die Trump-Administration es als möglich ein, dass sie die Oberhand gewinnen könnten. Vielleicht nicht sofort nach dem Abzug der US-Besatzer, aber irgendwann. Und für diesen Fall versicherten die Talilban, "dass aus Afghanistan keine Gefahr mehr für die Sicherheit der USA und ihrer Verbündeten ausgehe.

Damit sind Garantien gemeint, dass die Islamisten künftig keinen terroristischen Gruppen mehr Unterschlupf bieten. Sie versprechen unter anderem, diese Gruppen davon abzuhalten, Kämpfer zu rekrutieren, auszubilden oder Gelder für sie zu sammeln. Mehrmals wird dabei explizit das Terrornetzwerk Al-Kaida erwähnt".(dpa, 1. März 2020, zit. nach: Tagesschau)

In der Vereinbarung erklärten sich die Taliban zwar auch zu baldigen Verhandlungen mit der Regierung in Kabul bereit. Wann genau und mit welchem Ziel blieb aber offen. Die USA gaben sich jedoch damit zufrieden. Sollte es zu einer Versöhnung kommen, gut. Wenn nicht, schade. Die Anti-Terror-Erklärung würde jedoch auch für die neuen Herren gelten. Und eines dürfte klar sein: Bei Bruch dieses Vertragsteils würden die Amerikaner wiederkommen.

Der neue Präsident Biden übernahm die Absprache mit den Taliban und beschloss den Abzug. "Er will (…) sich verstärkt dem Verhältnis zu den großen Rivalen China und Russland widmen. Er ist der Ansicht, es habe diesen Nationen lange in die Hände gespielt, dass die USA gigantische Ressourcen am Hindukusch investierten, die anderswo fehlten." (Christian Zaschke: Vertrauensbruch, in: Süddeutsche Zeitung, 18. August 2021)

In dieser Frage herrscht eine seltene Einigkeit zwischen den Demokraten und Republikanern in Washington. Warum soll man sich in einem dauerhaften Kleinkrieg gegen Islamisten in deren Land verzetteln? Sollen die sich doch in einem Bürgerkrieg aufreiben, vielleicht sich gegen all die anderen Stämme, Warlords und Reste der ehemaligen Marionettenregierung durchsetzen.

Unter Umständen sind die Taliban sogar nützlich, um Glaubensgenossen in China zu unterstützen. Das wäre schließlich nicht das erste Mal, dass schlimme "Fundamentalisten" dem Westen dabei helfen, ihren imperialistischen Gegenspielern Probleme zu bereiten - wie die Mudjadehin in den achtziger Jahren gegen die von der Sowjetunion gestützten afghanischen Kommunisten.

"Desaster", "Katastrophe": Gemeint ist Deutschland, nicht Afghanistan

Das Ziel des "War on terror" wurde also erreicht, und die Bundeswehr hat tatkräftig dabei mitgeholfen. Dennoch ist nun die Rede von "Desaster", "Katastrophe" und "Blamage". Der Westen habe seine Glaubwürdigkeit im Hinblick auf seine Werte verloren, die Lage vollkommen falsch eingeschätzt und sich überschätzt, die Afghanen im Stich gelassen.

Stimmt: Man hinterlässt ein kaputtes Land, in dem die meisten Menschen täglich ums Überleben kämpfen. Eine irgendwie halbwegs funktionierende Ökonomie gibt es nicht, keine gewinnbringenden Unternehmen mit ordentlich ausgebeuteten Afghanen. Entsprechend kommt auch kein Reichtum zustande für die staatlichen Institutionen. Wer in diesem Land Geld verdiente, bekam es entweder von den ausländischen Besatzern, durch Korruption oder vom Drogengeschäft. Das ist nun durch den Sieg der Taliban fraglich geworden.

So ist die Kritik aber nicht gemeint. Den hiesigen Herrschaften ist anderes unangenehm: Es lief kein geordneter Rückzug! Man hatte zwar mit einem Vorrücken der Islamisten gerechnet, indes doch nicht so schnell! Aber hätte man das nicht wissen müssen? Wenigstens der Geheimdienst BND? Und warum hat das mit den Visa für die Ortskräfte, also die der Bundeswehr helfenden Afghanen, so lang gedauert? Da tut sich doch ein Wirrwarr von Kompetenzen zwischen Innen-, Außen- und Verteidigungsministerium auf! Und was sollen denn nun die anderen Ortskräfte, zum Beispiel in Mali, davon halten? Die werden doch nicht mehr für uns arbeiten, wenn wir die einfach fallen lassen!

Schon fordert Möchtegern-Kanzlerin Annalena Baerbock im ZDF bei Maybritt Illner die "Evaluation" des Einsatzes und einen Untersuchungs-Ausschuss des Bundestages. Ein zackiger Oberstleutnant pflichtet ihr bei, betont, dass die 59 toten deutschen Soldaten nicht vergeblich waren. Man habe "viel bewirkt" und, das sagt er todernst, ein "besseres Leben" für die Afghanen erreicht. (Maybritt Illner spezial, ZDF, 19. August 2021) Möchtegern-Kanzler Armin Laschet wiederum möchte auf jeden Fall ein neues "2015" verhindern - nicht wieder so viele Flüchtlinge wie damals, das wollen "wir" nicht noch einmal! Experten beruhigen: Bis zu uns werden das nur wenige Afghanen schaffen. Da liegen zu viele gut bewachte Grenzen dazwischen! Die meisten stranden in Pakistan und im Iran, das ist weit genug weg.

"Blamage": Am deutschen Wesen konnten die Afghanen nicht genesen

Eine "Blamage" für Deutschland ist darüber hinaus, den Afghanen die versprochene Demokratie und Stabilität nicht gebracht zu haben - obwohl man doch 20 Jahre Zeit hatte und viel Geld investierte. So fällt der Politik ihre steile Ansage zu Beginn des Einsatzes auf die Füße: Die Bundeswehr würde nicht nur den Amis bei einem gerechten Krieg helfen, sondern auch dem Land Demokratie und damit verbundenen Wohlstand bringen. Man kann das "Selbstbetrug" nennen, wie es verständnisvoll Leitmedien formulieren (vgl. Stefan Kornelius: Der Selbstbetrug, in: Süddeutsche Zeitung, 21. August 2021). Man kann es auch einfach als eine dreiste Behauptung bezeichnen - denn der Kriegszweck war der Aufstieg Afghanistans von der Dritten in die Zweite oder gar Erste Welt nicht.

Mit ihrer Sorte "Nation Building" verbrämte Deutschland den schnöden Job als US-Hilfstruppe zu einem enorm wichtigen Beitrag, der sogar über den kurzsichtigen Kriegszweck der Terrorbekämpfung hinausging. Tatsächlich konzentrierten sich die deutschen Soldaten zunächst auf den Aufbau zerstörter Infrastruktur in dem ihr zugewiesenen Reservat. Eine für ein funktionierendes Staatswesen notwendige Ökonomie entstand jedoch nicht. Wie auch? Seit wann ist es der Job von Soldaten, Unternehmen zu gründen, zu leiten und auch noch national und international zum Erfolg zu führen? Absurd, klar.

Von einschlägigen deutschen Wirtschaftsexperten war in Afghanistan ebensowenig zu sehen wie vom doch sonst so investitionsfreudigen hiesigen Kapital. Welche lohnenden Geschäfte sollten auch für deutsche Unternehmen in einem zerstörten Bürgerkriegsstaat winken? Selbst für die klassische Ausbeutung als Billiglohnland fehlten die Voraussetzungen. Aber das stand ohnehin nie zur Debatte. Weil "wir" doch die "Guten" sind, mit all unseren "Werten" und sympathischen Schützenpanzern, durfte der Einsatz am Hindukusch nicht nur einfach einem Kriegszweck dienen. Vielmehr war er eine "Mission".

Da macht es sich nicht allzu gut, wenn der Export des doch so guten Regierungs- und Wirtschaftssystems keine Früchte trägt. Und die Adressaten mehrheitlich gar keinen Gefallen daran finden, sondern ihre von den "Guten" spendierten Waffen widerstandslos den "Bösen" übergeben. Gründlich ausgebildet und ausgerüstet von den westlichen Besatzern waren zwar die Streitkräfte der afghanischen Marionetten-Regierung. Mehrheitlich überzeugt davon, für die richtige Seite zu kämpfen, aber offenbar nicht.

Deutschland hat "versagt" - einer maßgeblichen Weltmacht unwürdig

Wenn dann noch hinzukommt, dass man den von den Amis erzwungenen Rückzug nicht richtig organisiert, ist die "Blamage" perfekt. Noch nicht einmal konnten die Deutschen den Flughafen in Kabul für die Evakuierung sichern. Das vermochten nur die US-Streitkräfte. Armin Laschet regt das auf: "Warum sind wir als Europäer dazu nicht in der Lage? Es muss eine Lehre sein, international - nicht in der ganzen Welt - bei bestimmten Einsätzen als Europäer handlungsfähig zu sein." (Bild TV, 22. August 2021) Da ist sie wieder, die Sehnsucht nach einer eigenständigen Gewalt - die zuschlagen kann ganz ohne die USA.

Deutschland hat "versagt": Vor dem eigenen Anspruch, eine bestimmende Weltmacht zu sein, die als leuchtendes Vorbild für ein erfolgreiches Herrschaftssystem (i.e. Demokratie) und ebenso erfolgreiche Ökonomie (i.e. Kapitalismus) auf dem Globus gelten will - und als solches den nötigen Respekt der anderen Nationen einfordert, ob verbündet oder in Konkurrenz. Und es hat versagt, weil es eingestehen muss, militärisch immer noch nur die zweite Geige zu spielen. Das so vorgeführt zu bekommen wie nun in Afghanistan - das tut jedem aufrechten deutschen Politiker wirklich weh.

Was bedeutet das für die nächsten Aktionen der Bundeswehr in der Welt? Bundeskanzlerin Angela Merkel hat da bereits einen Hinweis gegeben: Man sollte künftig die Ziele "kleiner fassen". Also nicht mehr allzu großspurig behaupten, bei den Einsätzen gleich das ganze Demokratie-Paket mit zu exportieren. Die Begleitmusik dürfte sich daher ändern. Ein Abschied von kriegerischen Interventionen lässt das aber nicht erwarten. Es sieht eher nach dem Gegenteil aus.

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