Selenskyj – Held oder Zündler?

Präsident Selenskyj bei seiner Rede an den Bundestag. Bild: president.gov.ua, CC BY-SA 4.0

Der ukrainische Präsident inszeniert sich im Kampf gegen die russischen Invasoren auch medial. Seine Rolle ist dabei aber nicht festgelegt

Zur Vermeidung von Missverständnissen wiederhole ich hier, was ich kürzlich geschrieben habe: Russlands Krieg in der Ukraine ist unverantwortlich, brandgefährlich und völkerrechtswidrig. Es gibt für ihn keine Rechtfertigung. Damit ist eine Hauptrolle im aktuellen Kriegsdrama vergeben. Der Bösewicht ist Wladimir Putin, Präsident der Russischen Föderation. An dieser Einschätzung wird sich voraussichtlich nichts mehr ändern, es sei denn, Putin beendet seinen sinnlosen Krieg.

Selenskyj, der Held

Sein Widerpart ist Wolodymyr Selenskyj, gelernter Schauspieler und Komiker und seit 2019 Präsident der Ukraine. Er steht in den Mainstream Medien für das Gute und Richtige schlechthin, gewissermaßen Gary Cooper, John Wayne und Charles Bronson in einer Person. Oder ist dieses Bild vielleicht doch zu einfach?

Zerstörung im Ukraine-Krieg (14 Bilder)

Zerbombte Trambahn in Charkiw. Bild: Mvs.gov.ua / CC-BY-4.0

Seit Kriegsbeginn leuchtet Selenskyjs Stern am westlichen Himmel. Er genießt in olivgrünen T-Shirts seine Rolle als Tag und Nacht präsenter Kriegsheld. In seiner Begeisterung über sich selbst ist kein Raum mehr für den Gedanken, dass er gerade dabei sein könnte, das ihm anvertraute Volk in den Untergang zu führen. Der Gedanke drängt sich ihm derzeit auch nicht auf. Immerhin ist es den ukrainischen Streitkräften gelungen, den russischen Vormarsch auf Kiew zu stoppen, vorerst.

Peter Vonnahme, von 1982 bis 2007 Richter am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in München, Mitglied der deutschen Sektion der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA), von 1995 bis 2001 Bundesvorstand der Neuen Richtervereinigung, seit 2007 publizistisch tätig, Schwerpunkt: Rechtstaat und Politik.

Doch bei nüchternem Nachdenken wird klar, dass der Untergang nach wie vor droht. Aus der Sicht der Betroffenen ist Untergang nämlich nicht nur die totale militärische Niederlage im Waffengang, sondern auch der totale Ruin eines Landes in einem auszehrenden Zermürbungskrieg. Dessen Folgen sind grauenvoll, Zusammenbruch der Versorgung, Hunger, Krankheit, Elend, Flucht, Massensterben. Nach letzterem sieht es im Moment aus.

Es ist nämlich nicht damit zu rechnen, dass die militärischen Rückschläge der letzten Tage den "versteinerten" Kriegsherrn Putin zum Rückzug seiner Truppen bewegen werden. Nach der Analyse schlauer Kreml-Astrologen kann es sich der Diktator nicht erlauben, Schwäche zu zeigen, weil dann seine Tage an der Spitze Russlands gezählt wären. Also wird er sein Zerstörungswerk intensivieren.

Was könnte die Ukraine noch retten? Vielleicht ihr eigener Präsident? Aus Mitleid mit seinem geschundenen Volk? Kaum. Selenskyj wird die Waffen nicht niederzulegen. Schließlich ist er zum allseits bewunderten Kriegshelden aufgestiegen und Helden ziehen es vor, lieber mit fliegenden Fahnen unterzugehen als vor dem Feind niederzuknien.

Also wird Selenskyj – bestärkt durch die aktuellen Probleme des Aggressors – unbeirrt weitermachen. Er verlangt vom Westen mehr und schwerere Waffen, mit guten Aussichten auf Erfolg. Vor allem aber vertraut er seiner letzten Trumpfkarte. Er lässt nichts unversucht, Deutschland, die EU und damit die Nato irgendwie in den Krieg hineinzuziehen.

Dazu schöpft er das gesamte Arsenal der psychologischen Kriegsführung aus. Er vermeldet Verluste der Russen, belobigt sein Volk für seinen Patriotismus und versprüht zwischendurch Siegeszuversicht. Als sehr wirkungsvoll hat sich erwiesen, die Deutschen der Feigheit und der Verblendung zu bezichtigen.

Sie, die Deutschen, sprächen immer nur von "Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft" und füllten mit dem Weiterbezug von russischem Erdgas Putins Kriegskasse. Frieren für die Not leidende Ukraine sei nicht ihr Ding. Sie übersähen sogar, dass sie auf mittlere Sicht selbst zur Beute der Russen werden.

Selenskyjs dramatische Appelle stießen hierzulande auf viel positive Resonanz in Politik und Medien. Dann geschah Außergewöhnliches. Der Kriegsheld durfte sich per Video-Schalte unmittelbar an den Deutschen Bundestag wenden. Das tat er mit viel Pathos und rhetorischem Geschick.

Sein Kampfesmut und seine harsche Kritik an Deutschland waren so eindrucksvoll, dass sich am Ende seiner Rede ein Großteil der Abgeordneten von ihren Sitzen erhob und Beifall klatschte. Die Getadelten belohnten die ihnen zuteilgewordene Standpauke mit stehenden Ovationen. Hierin zeigt sich die wahre Größe unserer Volksvertreter.

An dieser Stelle hätte es sich angeboten, Selenskyj sofort zu antworten und die deutsche Haltung darzulegen, etwa das Interesse, eine Ausweitung des Krieges zu vermeiden. Der Bundeskanzler hätte sagen können, dass man die ukrainischen Sorgen und Wünsche verstehen könne, dass Regierung und Parlament aber auch – und vor allem – den Interessen der deutschen Bevölkerung verpflichtet seien, etwa dem Wunsch nach warmen Stuben im Winter und Energie für die Volkswirtschaft.

Deshalb stehe es Selenskyj nicht zu, den Weiterbezug von russischem Erdgas so vehement zu kritisieren. Der Bundestagsauftritt Selenskyjs hätte auch genutzt werden können, ihm und seinem großmäuligen Botschafter Melnyk zu verdeutlichen, dass es ungehörig ist, Deutschland in jeder Rede zu maßregeln und gleichzeitig weitere Hilfen einzufordern. Doch Scholz zog es vor zu schweigen.

Unübersehbar ist, dass Selenskyjs verbales Trommelfeuer auf Deutschland Wirkung zeigt. Bekanntlich weigerte sich die Regierung zunächst, Waffen in ein Kriegsgebiet zu liefern. Als die Kritik daran zunahm, schickte die Bundeswehr Stahlhelme. Nach weiteren Vorwürfen Selenskyjs lieferte sie Panzerabwehrwaffen und Boden-Luft-Raketen.

Wie zu erwarten war, folgte sogleich die Forderung nach wirksameren Waffen. Rote Linien sind ein Bild von gestern. Der Kanzler sprach von einer Zeitenwende und machte über Nacht zusätzlich hundert Milliarden Euro für militärische Aus- und Aufrüstung locker. Selbstverständlich gab es auch mehr Geld für die Ukraine zum Ankauf von Waffen.

Selenskyjs Widerständigkeit gegen Russland, den aktuellen Lieblingsfeind der Deutschen, macht vieles möglich, was bisher als undenkbar galt. Es erinnert an David gegen Goliath. In Selenskyjs Steinschleuder sind jedoch nicht Kieselsteine, sondern Worte, die das Potential zum Weltenbrand haben.