Afghanistan: Sicherheit durch Massaker an Zivilisten?

Die wiederholten Bombardierungen von Zivilisten durch die Koalitionstruppen verstärken deren Ablehnung in der afghanischen Bevölkerung

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Wieder einmal hat der afghanische Präsident Karsai die Koalitionstruppen für einen "unilateralen" Einsatz heftig kritisiert, bei dem durch die Bombardierung eines Dorfes mehr als 70, wahrscheinlich sogar mehr als 90 Zivilisten getötet wurden (Afghanistan: 30 tote Taliban oder über 70 tote Zivilisten?). Folgen dürfte die Kritik des vom Westen gestützten Präsidenten kaum haben, dessen Einflussbereich sich sowieso auf kaum mehr als die Hauptstadtregion beschränkt, an die in letzter Zeit immer mehr Taliban, Milizen oder Aufständischen heranrücken, während die Zufahrtsstraßen immer unsicherer werden. Die Regierungen, die die Koalitionstruppen stellen, vermeiden wie die deutsche zudem möglichst, von unschuldigen Opfern der militärischen Einsätze zu sprechen, um die Mission innenpolitisch nicht zu gefährden oder um noch mehr Truppen zu entsenden, die dann womöglich durch ihre Operationen noch mehr Ablehnung und Widerstand erzeugen.

Karsai muss aber wenigstens öffentlich Kritik äußern, weil solche immer wieder vorkommenden "Anschläge" auf afghanische Bürger den letzten Rest an Glaubwürdigkeit der afghanischen Regierung und der Truppen unter ISAF- und US-Kommando untergraben. Das um so mehr, als sich die verantwortlichen Militärs kaum jemals öffentlich für die von ihnen versursachten "Kollateralschäden", deren Opferzahlen oft höher sind als die von Terroranschlägen, entschuldigen und Maßnahmen zur Wiedergutmachung anbieten. Dadurch verfestigt sich der Eindruck, dass die ausländischen Truppen die Regierung in Kabul stützen, ansonsten aber gegenüber dem Leben der Afghanen gleichgültig sind, das im Grunde nichts wert ist. Dass mit dem ISAF-Einsatz, wie die Bundeswehr schreibt, "die afghanische Regierung bei der Herstellung und Wahrung der inneren Sicherheit und der Menschenrechte" unterstützt wird, dürfte den Überlebenden und den Angehörigen der Opfer der oft wahllosen Angriffe kaum einleuchten.

Bombardiert wird oft präventiv ohne genauere Informationen oder aufgrund von Informationen aus interessierten Kreisen, mitunter auch von Taliban-Fraktionen, aus der Luft. Das ist verständlich, weil man dadurch das Leben der eigenen Soldaten schont, was aber die Opferzahlen unter Zivilisten in die Höhe schnellen lässt. Ausführen lässt sich ein solcher Luftkrieg nur in solchen Ländern, deren Regierungen letztlich doch die ausführenden Truppen unterstützen müssen, auch wenn sie rhetorisch wie Karsai Kritik äußern. Karsai bedauerte, dass der Druck der afghanischen Regierung auf die Koalitionstruppen, Zivilisten zu schonen, bislang nicht erfolgreich gewesen sei. Während ihm gegenüber den Koalitionstruppen und den dahinter stehenden Regierungen die Hände gebunden sind, versuchte er Handlungsfähigkeit dadurch zu demonstrieren, dass er zwei Kommandeure der afghanischen Armee, die mit den Koalitionstruppen zusammenarbeiteten, und einen General entließ, weil sie Tatsachen zu verschleiern suchten.

Nach einem Bericht einer Delegation, die Karsai an den Ort geschickt hatte, sollen durch die "schwere Bombardierung" mehr als 90 Zivilisten getötet worden sein. Es sei nicht klar, warum der Angriff überhaupt stattfand. Falls Taliban dort gewesen sollten, müssten die Koalitionstruppen Beweise dafür vorlegen. Die meisten der 15 Häuser, die durch den Angriff zerstört wurden, gehörten Familien, deren Männer als Sicherheitskräfte für einen Landeplatz arbeiteten. Allerdings sollen sich die meisten der Getöteten in einem Haus befunden haben, um nach afghanischer Tradition den 40. Todestag eines Milizenkommandeurs zu begehen.

Kai Eide, der Sondergesandte für Afghanistan des US-Generalsekretärs und Leiter der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA), fordert eine gründliche und schnelle Überprüfung des Vorfalls. Die Vereinten Nationen hätten immer deutlich gemacht, dass zivile Opfer inakzeptabel seien und das Vertrauen der afghanischen Menschen zerstören. Zur Zielgenauigkeit der Angriffe haben die deutschen Tornados bislang anscheinend nichts beigetragen.

Forderungen nach Bestrafung der Verantwortlichen werden lauter

Wie die Stimmung der Bevölkerung durch derartige Angriffe auf die Zivilbevölkerung kippen kann, zeigt ein Bericht des Institute for War and Peace Reporting (IWPR) über die Menschen, die die Bombardierung der Hochzeitsgesellschaft durch die US-Luftwaffe am 6. Juli überlebt haben. Damals fanden 50 Menschen den Tod. Stammesführer der Region wie Rai Khan sagen, Karsai müsse die Verantwortlichen bestrafen oder zurücktreten, wenn er dies nicht könne. Wenn er weder das eine noch das andere mache, würden die Menschen ihre Häuser verlassen und die Dinge in ihre eigenen Hände nehmen.

Auch hier hatte die afghanische Regierung eine Delegation zur Überprüfung des Vorfalls geschickt. Deren Leiter erklärte, dass es sich bei den Toten um Zivilisten gehandelt habe. Auch Dr Borhanullah Shinwari, ein Mitglied der Delegation, berichtete, man habe keine bewaffneten Toten gesehen. Er forderte, dass sich die Täter vor Gericht verantworten müssten: "Die Geduld der Menschen ist zu Ende." Auch Abgeordnete fordern inzwischen, dass die Operationen der Koalitionstruppen rechtlich begrenzt werden sollten. Senator Abdullah Haghayeghi warnte, dass die Menschen bald revoltieren würden, wenn die Koalitionstruppen nicht ihre Strategie verändern. Religiöse Führer aus Westafghanistan versuchen, die Situation auszunutzen. Die "Feinde des Islam" hätten wieder einmal ihre Hände in das Blut von Unschuldigen getaucht, erklärten sie. Man werde die Entschuldigung dieses Mal nicht mehr akzeptieren.

Bereits am vierten Juli waren durch Luftangriffe in der Provinz Nuristan weitere 30 Zivilisten getötet worden. Zuvor hatten die Koalitionstruppen Flugblätter über dem Ort abgeworfen und vor einer Bombardierung gewarnt. Damit scheint man dann schon genug getan zu haben, um wahllos bombardieren zu können. So wurde offenbar just ein Konvoi von Fahrzeugen bombardiert, in denen Zivilisten saßen, die der Warnung Folge leisten und aus dem Ort fliehen wollten.