Angriff auf Streikende in Oaxaca
Tote, Verletzte und Verschwundene sind erneut das Ergebnis eines Angriffs der Polizei auf Demonstranten im Bundesstaat Oaxaca. Marcos warnt vor einem Bürgerkrieg
Mindestens drei tote Demonstranten, etliche Verletzte, Verhaftete und Verschwundene sind die traurige Bilanz der schweren Auseinandersetzung im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca vom Wochenende. Die Volksbewegung hat ihr Ziel, den Rücktritt des umstrittenen Gouverneurs und den Abzug der Bundestruppen durchzusetzen, nicht erreicht. Ulises Ruíz trat seit Monaten erstmals wieder öffentlich in der Stadt auf und sprach von einer "Normalisierung". Angesichts der Übergabe der Präsidentschaft an Felipe Calderón am Freitag warnt der Zapatistenführer Marcos vor "einem großen Aufstand oder einem Bürgerkrieg". Reporter ohne Grenzen haben Mexiko nun zum zweigefährlichsten Land der Welt für Journalisten erklärt.
Es war einer der blutigsten Wochenenden, seitdem sich der Lehrerstreik im armen mexikanischen Bundesstaat Oaxaca vor fünf Monaten in einen allgemeinen Aufstand verwandelt hat. Mit der Entsendung von Bundestruppen war die Zentralregierung dem in Not geratenen Autokraten der Provinz beigesprungen. Diese hatten die Stadt zwar Ende Oktober besetzt, sie auch unter Einsatz von Gewalt bisher nicht unter Kontrolle gebracht (Spannung steigt in Mexiko).
Gegen die militärische Besetzung des zentralen Platzes der Stadt Oaxaca durch Bundestruppen (PFP) wollte die "Volksversammlung der Völker Oaxacas" (APPO) am Samstag demonstrieren. Der Zócalo sollte 48 Stunden umringt werden. Die APPO hatte den Gouverneur der ehemaligen Staatspartei "Partei der Institutionellen Revolution" (PRI) ultimativ für Samstag zum Rücktritt aufgefordert.
Was sich am Samstag genau abspielte, ist umstritten. Doch erinnern die Bilder an das brutale Vorgehen der Polizei in Atenco im Mai. Die Aufklärung der Vorgänge, bei der es ebenfalls Tote, Verletzte, Gefolterte und vergewaltigte Frauen gab, verlangt inzwischen auch die Menschenrechtskommission der UNO.
Ähnlich wie in Atenco soll die Polizei die Demonstranten auch in Oaxaca brutal angegriffen haben. Gegen 17 Uhr am Samstag meldete das von der APPO betriebene Radio Universidad, von Gebäuden der Stadt werde mit Tränengas auf die Demonstration im Zentrum gefeuert, das inzwischen von Demonstranten angefüllt war. Die Polizeiführung behauptet, man habe sich nur gegen Angriffe der Demonstranten verteidigt.
Die Liga für Menschenrechte in Mexiko hat die Vorgänge beobachtet und auf ihren Webseiten eine Chronologie veröffentlicht. Sie macht die Polizei für die Eskalation verantwortlich. Nach Angaben von Zeugen sei auch schwere Bewaffnung zum Einsatz gekommen, wie Schützenpanzer. Zudem hätten Polizisten, zum Teil in Zivilkleidung, etliche Demonstranten verhaftet und mit scharfer Munition in die Menge geschossen.
Es sei dahingestellt, von wem die Gewalt ursächlich ausging, denn in Frage kämen auch Provokateure, die schon zu früheren Anlässen die Polizei zu einem massiven Einschreiten provoziert hat. Im Lauf des Wochenendes wurden auch öffentliche Gebäude angezündet.
Angesichts der schrecklichen Bilanz wird aber deutlich, dass die Sicherheitskräfte sich nicht nur verteidigt haben. Mindestens drei Demonstranten wurden getötet, weitere 20 wurden durch den Einsatz scharfer Munition verletzt. Mehr als Hundert Menschen wurden durch Gummigeschosse und Schlagstöcken verletzt. Hunderte leiden an Vergiftungserscheinungen durch den massiven Einsatz von Reizgasen. Es seien auch Waffen zum Einsatz gekommen, über die nur die Armee verfügt, wird berichtet. Während die Polizei von offiziell 149 Verhafteten spricht, wurden bis zum gestrigen Abend (Ortszeit) noch 39 Menschen vermisst, die ebenfalls verhaftet worden seien. Dass sie für immer verschwinden könnten, befürchtet die Liga für Menschenrechte.
Erstmals seit Monaten ist der umstrittene Gouverneur am Sonntag öffentlich in der Stadt aufgetreten. Ruíz sprach von einer "Stadt, die in der Normalisierung" begriffen sei. Doch davon kann keine Rede sein. Die APPO vermutet vielmehr, dass der Konflikt mit dem offenen Einsatz des Militärs weiter eskaliert werden soll. Der Gouverneur will jedenfalls keine "Gnade" mit denen walten lassen, welche die "Ausschreitungen" verursacht hätten. Dabei war er es, der im Sommer den Streik der Lehrer mit einem Angriff der Polizei auf das Streikcamp eskalieren ließ. Er hatte seine Polizei angewiesen, "die Scheiße aus ihnen herauszuprügeln".
Die Angriffe auf die Opposition gehen in Oaxaca weiter. In der Nacht auf den Montag wurde das Büro der kürzlich gegründeten Organisation Nueva Izquierda Oaxaqueña (NIOAX) niedergebrannt. Vermutet wird auch, dass der Versuch der APPO verhindert werden soll, das zentrale Streikcamp wieder aufzubauen, das am Samstag nach der Auflösung der Demonstration von der Polizei abebrannt wurde. Am Montag haben sich zahlreiche Menschen an der Universität gesammelt, um dann in die Innenstadt zu ziehen und das Lager wieder aufzubauen. Die APPO rief über ihr Radio zu strikter Gewaltfreiheit auf. Um möglichen Provokateuren die Suppe zu versalzen, soll trotz der Repression auf eine Maskierung verzichtet werden.
Generalprobe für die Regierungsübernahme?
Bisher ging die Mehrzahl der Toten auf paramilitärische Gruppen und lokale Polizeikräfte, die von der PRI gesteuert werden. Dieses Verhalten von Noch-Präsident Vicente Fox und dessen Partei der Partei der Nationalen Aktion (PAN) lässt sich nicht nur damit erklären, dass die PAN auf die Stimmen der PRI im Parlament angewiesen ist. Offensichtlich soll nun Stärke gezeigt werden.
Die Entscheidung für eine gewaltsame Lösung in Oaxaca (oder auch darüber hinaus) scheint gefallen. Es wird vermutet, dass es sich bei dem Vorgehen in Oaxaca um eine Generalprobe dafür handelte, wie der umstrittene Calderón am Freitag ins Präsidentenamt eingeführt werden soll. Die Linkskoalition wirft ihm massiven Wahlbetrug vor und mobilisiert seit Monaten Millionen zu friedlichen Protesten im Land. Am 20. November wurde deren Kandidat Andrés Manuel López Obrador (AMLO) vor mehr als einer Million Anhänger in der Hauptstadt zum Gegenpräsidenten gekürt. Am Freitag könnte es zum Showdown kommen, denn die Gegner Calderóns angekündigt, dass sie dessen Amtseinführung verhindern wollen.
Da gedroht wurde, die Amtsübergabe "mit allen Mitteln" durchzusetzen, müsste möglicherweise auch in der Hauptstadt massive Gewalt eingesetzt werden. Doch das könnte die instabile Lage im Land, das von etlichen Konflikten erschüttert wird, zum Überkochen bringen. Subcomandante Marcos, Sprecher der südmexikanischen Zapatisten-Guerilla EZLN warnt vor einem "Bürgerkrieg oder einem großen Aufstand". Marcos befindet sich seit Monaten auf einer Rundreise, um Werbung für die Andere Kampagne zu machen. Der Amtsantritt Caldérons markiere den Anfang vom Ende eines politischen Systems, sagte er. Das habe sich ab der Mexikanischen Revolution 1910 eingekapselt und "Generation über Generation betrogen, bevor es in der aktuellen Situation angelangt ist".
Der Aufstand der Zapatisten 1994 hat wesentlich dazu beigetragen, die Krise der abgewrackten PRI offen zu legen. Letztlich trug er auch dazu bei, dass die PRI vor sechs Jahren erstmals nach 71 Jahren die Macht abgeben musste. Jahrzehntelang hatte sie mit Gewalt und mit Wahlbetrug über Wasser gehalten. Geändert hat sich für den Großteil der Bevölkerung wenig, der weiter in großer Armut lebt. Dass sich insgesamt wenig geändert hat, aber der Willen zu realen Veränderungen stärker wird, darauf weisen nicht nur die Aufstände in den Bundessstaaten Chiapas oder Oaxaca hin. Dass sich die Lage in Mexiko zuspitzt, kann auch an der Lage der Pressefreiheit abgelesen werden. Dass es um sie schlecht bestellt war, darauf hatten die Reporter ohne Grenzen immer wieder hingewiesen. Die Organisation hat nun Mexiko aber zum gefährlichsten Land Amerikas für Journalisten erklärt. Es steht nun weltweit an zweiter Stelle, direkt hinter dem Irak.
Mit Roberto Marcos García, stellvertretender Direktor der Wochenzeitung "Testimonio" wurde in der letzten Woche der dritte Journalist in diesem Monat ermordet. Ende Oktober trafen tödliche Kugeln von paramilitärischen Einheiten auch den US-Amerikaner Bradley Will an einer Barrikade in Oaxaca. Er arbeitete für das alternative Internetportal Indymedia in New York.
Vor allem klagt RSF die Straflosigkeit an, die sich für die Mörder an Journalisten auch unter der Regierung Fox nicht verändert hat. "Das Ende des Mandats von Präsident Vicente Fox wird von der Tatsache überschattet, dass währen dessen Amtszeit 20 Journalisten ermordet wurden, ohne dass einer der Verursacher dieser Verbrechen zur Verantwortung gezogen worden wäre."