Blick nach Singapur: Braucht Deutschland eine härtere Migrationspolitik?
Singapur steuert Migration gezielt. Der Stadtstaat setzt auf strenge Regeln und ethnische Balance. Können wir davon lernen? Die Antwort überrascht. (Teil 2)
Moralische und theologische Aspekte von Migration und Integration sollen in diesem Diskussionsbeitrag ausgeklammert bleiben. Die entsprechenden Debatten in Deutschland sind lange und hitzig geführt worden, haben aber nicht zu erkennbaren Reparatur- oder Lösungsvorschlägen geführt. Die Alterung der alteingesessenen Bevölkerungen in den Industrieländern legitimiert die Überlegungen zur Anwerbung von jüngeren Arbeitskräften aus dem Ausland, wird aber so gut wie überall kontrovers, weltanschaulich, moralisch oder religiös geführt.
Gerade in Deutschland haben die überzogen moralischen Ansätze in der politischen Diskussion eine sachlichere Debatte verhindert und große Teile der Bevölkerung gegen die Migranten aufgebracht.
Die zunehmende Erosion unseres Parteienspektrums kann weitgehend auf diese Fehlentwicklung zurückgeführt werden und kostet die führenden Moralisten zunehmend ihre politischen Mandate.
Der anderen Seite des Spektrums, dem sogenannten rechten Rand, sind erhebliche Stimmengewinne bei den letzten Landtagswahlen zugefallen, die keineswegs bedeuten, dass sie bessere Rezepte für eine sachgerechte Migrationspolitik anzubieten haben.
Bei rund 25 Millionen Einwohnern mit Migrationshintergrund und davon 12,6 Millionen mit deutschem Pass sind Ausweisungen keine gangbare Lösung.
Migration: Wirksame Kontrolle in Deutschland kaum möglich
Das Dilemma wird dadurch noch verschlimmert, dass eine wirksame Kontrolle der Einwanderung schon durch die geografische Lage im Herzen Europas illusorisch ist.
Die offenen Grenzen im Schengenraum spielen dabei kaum eine Rolle, denn vermutlich sind 99 Prozent der 3876 km langen deutschen Grenzen praktisch unkontrollierbar. Kontrollen an den offiziellen Grenzübergängen sind eine politische Panikreaktion ohne Wirkung.
Massenmigration historisch: Die Völkerwanderung Ein Vergleich mit der Völkerwanderung von heute scheint erst einmal abwegig, doch es gibt eine ganze Reihe von Ähnlichkeiten. Vom Ende des vierten bis zum Ende des sechsten Jahrhunderts machten sich großenteils germanische Gruppen und Stämme aus dem Norden Europas zu Hunderttausenden, vielleicht Millionen, auf den Weg nach Süden.
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Allein bei den Vandalen, die es in das damals wohlhabende heutige Tunesien zogen, schätzen Historiker, dass etwa 80.000 Menschen über Jahrzehnte unterwegs waren und schließlich die Provinz Africa Proconsularis von Karthago bis zur Cyrenaika eroberten und die römische Herrschaft ersetzten. Auslöser der Massenmigration waren die Überfälle der Hunnen aus dem Osten und eine Klimakatastrophe nach massiven Vulkanausbrüchen in Island im Jahre 536, deren Aschewolken den Himmel für mehr als ein Jahr verdunkelten.
Die Temperaturen fielen und die Misserntenten lösten Hungersnöte aus, die Flucht nach Süden wurde für viele eine Überlebensfrage. Das spätrömische Imperium war militärisch nicht mehr in der Lage, seine Grenzen zu sichern.
Es war aber auch erstaunlich vorurteilsfrei und offen für assimilationsbereite Migranten, die wie freigelassene Sklaven das Bürgerrecht erlangen konnten. Einer der assimilierten Germanen war der Offizier Arminius, der später die Legionen des Varus im Teutoburger Wald vernichtete und nach Jahrhunderten als Hermann zum deutschen Nationalhelden stilisiert wurde.
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Leer war das Römische Reich rund um das Mittelmeer keineswegs, die von Historikern geschätzten Bevölkerungszahlen reichen von 60 bis 100 Millionen. Die über Jahrhunderte überlegene Militärmaschinerie der Römer begann im fünften Jahrhundert zu bröckeln, die Massenimmigration aus dem Norden verlief aber ohnehin weitgehend gewalttätig.
Vandalen, Goten, Sueben, Alanen, Burgunder, Franken, Sachsen, Angeln oder Jüten waren nicht willkommen und mussten sich ihren neuen Lebensraum erkämpfen. Hier endet jeder Vergleich mit der heutigen Situation Europas, aber von ähnlichen Push- und Pull-Faktoren muss man ausgehen.
Das römische Weltreich war nicht nur wirtschaftlich, technisch und infrastrukturell hervorragend organisiert, sondern im Vergleich auch unendlich viel wohlhabender als die Heimatgebiete der Migranten. Die neueste Prognose der Weltbank erwartet in den nächsten 15 Jahren bis zu 800 Millionen Arbeitslose im Globalen Süden, von denen viele Millionen ihr Glück in den vermögenden Ländern suchen werden. Der Migrantenstrom wird weder in Europa noch in Nordamerika geringer werden.
USA: Massenmigration als Chance, aber für wen?
Die USA gelten als Einwanderungsland par excellence. Im Vergleich zu seiner riesigen Landmasse war Nordamerika bei der Ankunft der ersten europäischen Migranten, genannt Siedler, dünn besiedelt. Nach den jüngsten Schätzungen gab es zwischen zehn und 18 Millionen "Indianer". Die dramatische Geschichte ihrer Verdrängung und Bekämpfung durch den endlosen Strom europäischer Migranten ist inzwischen weitgehend vergessen.
Die Washington Post berichtete aber im September 2023, dass die heute als "First Nation" bezeichnete indianische Minderheit zwischen 1970 und 2020 von weniger als einer auf knapp vier Millionen Menschen angewachsen sei.
Kann man aus der amerikanischen Verdrängungsgeschichte, die sich immerhin bis Ende 1890 hinzog, eine Lehre für die europäische Massenimmigration ziehen? Bis jetzt eher nicht, aber es bleibt die Frage nach Quantität und Qualität bei weiter steigender Zuwanderung, die inzwischen in Deutschland bei 30 Prozent liegt.
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Man kann aber bereits die Frage anfügen, wie sich weiße Siedler und Indianer gegenseitig gesehen und beurteilt haben. In den ersten Jahren haben die "Eingeborenen" den ersten Siedlern oft noch Überlebenshilfe geleistet, während diese die Migranten als unzivilisierte "Wilde" einstuften. Da tun sich für uns in Deutschland bereits fast identische Abgründe auf.
Der Massenimport von Sklaven aus Afrika in die Neue Welt zog sich über drei Jahrhunderte hin und hing eng mit der europäischen Nachfrage nach Zucker, Tabak und Baumwolle und der Ausbreitung der Plantagenwirtschaft zusammen.
Zwischen 1525 und 1866 wurden rund 12,5 Millionen Afrikaner importiert, von denen weniger als elf Millionen die Schiffsreise überlebten. In die heutigen USA gelangten rund 500.000, die Mehrheit der anderen in die Karibik und nach Südamerika, fast fünf Millionen allein nach Brasilien.
Interessant ist dabei, dass die brasilianische Integration und Assimilation der Afrikaner in krassem Gegensatz zur Entwicklung in den USA stehen. Dort wurde zwar die Sklaverei 1865 beendet, lebt aber in verschiedenen Formen gesellschaftlicher Diskriminierung bis heute fort.
Von den 335 Millionen US-Bürgern sind knapp 48 Millionen oder 14,4 Prozent "black". Ihre Stellung in der amerikanischen Gesellschaft hat sich nach der Bürgerrechtsbewegung der 1950er- und 1960er-Jahre unter der Führung von Martin Luther King in vieler Hinsicht verbessert, von Gleichheit kann aber nach jahrelangen Diskussionen über Entkolonisierung und Rassismus noch keine Rede sein.
In verschiedenen Stufen gilt das auch für andere Minoritäten; Latinos, Araber und Asiaten. Für Amerikaner mit chinesischem Hintergrund gab es eine historische Zäsur, den "Chinese Exclusion Act" von 1882 bis 1943, zurzeit aber zunehmend Probleme im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen und strategischen Rivalität zur Volksrepublik China.
Die "Melting Pot"-Theorie wurde längst von der "Salad Bowl"-Theorie abgelöst, die USA bleiben eine höchst heterogene Gesellschaft. Dominant in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und vielen anderen Bereichen bleibt aber der "weiße" Bevölkerungsanteil.
Nach dem Zensus von 2020 sind das knapp 58 Prozent mit fallender Tendenz. Ohne nicht-europäische Migration hätten die USA im Laufe ihrer Entwicklung seit 1789 nicht zur Weltmacht werden können.
Viele Migrantengruppen haben allerdings wenig vom Wohlstandszuwachs abbekommen und bleiben bis heute am unteren Ende der sozialen Pyramide. Trotzdem bleiben die USA ein bevorzugtes Ziel von Migranten aller Art, von den Elendsflüchtlingen aus Lateinamerika am mexikanischen Grenzzaun bis zur technischen Weltelite, die es ins Silicon Valley zieht.
Japan, reich und fast ohne Migranten, gehört neben Südkorea zu den wenigen wohlhabenden Industrieländern, die keine Migration zugelassen haben.
Das Land ist weitgehend monoethnisch und bis in jüngster Vergangenheit ohne politische Anstrengungen, das durch die rasch alternde Bevölkerung schrumpfende Arbeitskräftereservoir durch Migranten aufzufrischen. Historisch hat das mit Japans Status als Inselnation zu tun, aber auch mit dem Zweiten Weltkrieg.
Während der damaligen Eroberung großer Teile Ost- und Südostasiens und der langen Kolonisierung von Korea und Taiwan entstanden wie in Nazi-Deutschland starke nationalistische Narrative, die ein Gefühl ethnischer Überlegenheit einschlossen.
Obwohl inzwischen viele Japaner auch Englisch sprechen, dürfte die Sprachbarriere für Ausländer hoch bleiben. Heute gehört Japan zu den weltweit am schnellsten alternden Gesellschaften. Trotz der in den vergangenen Jahren stagnierenden Wirtschaftsentwicklung kam es deshalb vorwiegend in kleinen und mittleren Unternehmen zu einem spürbaren Arbeitskräftemangel.
Bisher haben sich die letzten Regierungen aber nicht entschließen können, eine geregelte Einwanderung von Arbeitskräften ins Auge zu fassen. Seit Anfang der 1990er Jahre gab es ein Programm, das als Training für Praktikanten aus dem Ausland definiert war, das Technical Intern Training Program (TITP).
Im März wurde es, auch unter internationalem Druck wegen verbreiteter Menschenrechtsprobleme mit den ausländischen Arbeitern, beendet und durch ein "New Skill Developing Program for Foreign Workers (Ikusei Shuro) ersetzt.
Unter den 126 Millionen Japanern machen Migranten inzwischen etwas mehr als 3 Millionen aus. Das liegt so weit unter der "Bis-zehn-Prozent-sorglos"-Faustregel in Europa, dass selbst vom stramm rechten Parteienspektrum kein Protest zu hören war.
Wir können von Japan also sehr wenig lernen. Das Beispiel seiner Arbeitsmarktprobleme dürfte aber "völkische" Gedankenspiele in Deutschland ernüchtern, denn unser immer noch sehr produktionsorientiertes Geschäftsmodell kann ohne ausreichende Arbeitskräfte nicht lange erfolgreich bleiben.
Singapur: Multiethnisch, aber mit sehr selektiver Immigration
Der gerade im August 59 Jahre alt gewordene Stadtstaat Singapur ist seit seiner Kolonisierung durch die britische East India Company 1819 durch seinen Status als Freihafen ohne Hafengebühren ein Magnet für Migranten gewesen.
Bei der Staatsgründung 1965 lag die Verteilung der ethnischen Gruppen bei 74 Prozent Chinesen, 13 Prozent Malaien, den eigentlichen Ureinwohnern der Insel, 10 Prozent Indern und einem Rest von drei Prozent sonstigen, meist Europäern.
Diese Verteilung besteht weitgehend bis heute weiter und wird durch eine Reihe von balance-, respekt- und ausgleichsfördernden politischen Maßnahmen kontinuierlich gepflegt.
Papst Franziskus hat die ethnische und religiöse Harmonie bei seinem kürzlichen Besuch mit Recht gewürdigt, dennoch bleiben aber immer bestimmte Vorurteile bestehen.
Das erstaunliche wirtschaftliche Wachstum Singapurs wäre mit dem einheimischen Arbeitskräftereservoir nicht möglich gewesen. Heute setzt sich die Gesamtbevölkerung aus 3,64 Millionen oder 60 Prozent Staatsbürgern zusammen, knapp 544.000 Permanent Residents, größtenteils besonders qualifizierten Arbeitnehmern, und 1,86 Millionen "Migrant Workers".
Die Regeln sind streng und eindeutig, sodass für die Gastarbeiter nach Ablauf ihres Vertrags keinerlei Aussicht auf ein Bleiberecht besteht.
Die meisten kommen aus den Billiglohnländern der Region und sparen für ihre Familien zu Hause, darunter 200.000 Haushaltshilfen, die vielen einheimischen jungen Müttern eine Vollzeitarbeit ermöglichen und Senioren zu Hause betreuen.
Illegale Migration ist in Singapur durch die Insellage und strenge Grenzkontrollen nahezu ausgeschlossen, straffällige Ausländer werden konsequent abgeschoben.
Insofern ist Singapur ein Paradebeispiel für eine langfristige und zielgenau durchorganisierte Migrations-, Arbeitsmarkt- und Bevölkerungspolitik, bietet damit aber kaum umsetzbaren Beispiele für Deutschland.
Die erwähnte ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Vielfalt Singapurs bietet aber eine ganze Reihe von Ansatzpunkten zu der Frage, wie solche superpluralistischen Gesellschaften funktionieren können.
Der "National Pledge" der Inselrepublik, eine Art Gelöbnis, das schon in der Schule täglich wiederholt wird, erwähnt die nationale Einheit als "unabhängig von Rasse, Sprache oder Religion." Während die konsequente Migrationskontrolle Singapurs in Deutschland unmöglich ist, sollte die Möglichkeit einer besseren Integration unserer Stammbevölkerung und der Zuwanderer intensiver ausgelotet werden.
Die Bedingungen der Möglichkeit dazu und die offenkundigen Hindernisse und Hemmschwellen sollen in Teil drei dieses Diskussionsbeitrags behandelt werden.