Budd Boetticher und die Ranown-Western

Seite 2: Absurdes Theater

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Die Figuren von Boetticher und Kennedy müssen sich mit einer Welt arrangieren, in der die Utopie gestorben ist. Aus den sieben Städten im Gelobten Land werden sieben Leichen. John Ford hält auch in seinen pessimistischsten Western wenigstens die Erinnerung an die alten Träume wach und kann sogar dem Tod noch etwas Mythologisches abgewinnen. Boettichers Bild vom Wilden Westen ist so rauh und trostlos wie die (Seelen-)Landschaften, durch die seine Charaktere reiten. Das bedeutet nicht, dass seine Figuren am Leben verzweifeln würden. Sie stellen sich nur den Gegebenheiten.

In Fords Western werden Rituale zelebriert, mit deren Hilfe sich die Gemeinschaft ihrer Zusammengehörigkeit versichert. Dazu gehören die Tanzveranstaltung und das Begräbnis, bei dem die Hinterbliebenen über dem offenen Grab "Shall We Gather at the River" singen. In The Wild Bunch zerschmettert Sam Peckinpah die Idylle, indem er die dieses Lied singende Trauergesellschaft in das Zentrum eines Massakers stellt. Boetticher macht dasselbe zehn Jahre früher, auf seine Weise.

Comanche Station

In Comanche Station gibt es eine tragikomische Szene mit Frank und Dobie, zwei jungen Banditen, in einer pastoralen Flusslandschaft. Wie viele von Boettichers Bösewichten träumen auch sie vom ehrlichen Leben. Allerdings müssten sie dann arbeiten, und das ist ein noch schlimmerer Gedanke, als ein Verbrecher zu sein und irgendwann erschossen zu werden. Als Cowboy, meint Frank, arbeitet man sich tot, und wenn alles vorbei ist wird gesammelt, damit man anständig beerdigt werden kann. Wenig später treibt er tot im Wasser, mit einem Pfeil im Rücken. An diesem Fluss versammelt sich niemand, und für das Begräbnis muss keiner sammeln, weil es nicht stattfindet. Da die Indianer in der Nähe sind, bleibt keine Zeit für eine Zeremonie.

Buchanan Rides Alone

Bezeichnenderweise gibt es nur in der Western-Parodie Buchanan Rides Alone eine formelle Beisetzung mit Gedenkminute und letzten Worten. In der zur Bühne gewordenen Felslandschaft von The Tall T erschießt Randolph Scott einen von den Banditen; dann nimmt er ganz sachlich und emotionslos ein Seil, verbindet den Körper mit dem Sattel seines Pferdes und lässt die Leiche von der Bühne ziehen wie einen toten Stier aus der Arena. Wo bei Ford ein Gemeinschaftsgefühl entsteht, gibt es bei Boetticher den Einzelnen in seiner Isolation. In einem Interview sagt er, der erste Stierkampf, den er miterlebte, sei das Einsamste gewesen, das er je gesehen habe. In Ride Lonesome verscharren James Coburn und Pernell Roberts die Leiche eines von Indianern getöteten Postkutschenfahrers. Der Rest der Reisegesellschaft kommt erst gar nicht dazu, weil das eine Erledigung ohne zeremoniellen Gehalt ist. Coburn hat noch eine vage Erinnerung daran, wie solche Begräbnisse im Western verlaufen sollten. Das Ganze sei unchristlich, meint er, jemand müsste feierliche letzte Worte sprechen. Das nützt dem Toten auch nichts mehr, erwidert Roberts. Weil das damit erledigt ist, wechseln sie das Thema. Wenn zur Struktur der Ranown-Western nicht die Fortbewegung gehören würde, könnten in diesen kargen Landschaften auch die Figuren von Samuel Beckett auf Godot warten.

The Tall T

Die Ranown-Filme sind reich an philosophischen Implikationen, die es Bazins Meinung nach nicht gibt. Boetticher drängt sie einem nur nicht auf. Er drehte postmoderne Western (und war damit seiner Zeit voraus), aber ohne die postmoderne Besserwisserei. Nie führt er seine Zuschauer als ungebildete Dummköpfe vor, die wieder einmal einen Hinweis nicht verstanden haben. Man kann diese Western auch ganz für sich allein genießen, ohne Verbindungen zu Geschichte, Mythos oder anderen Kunstwerken herstellen zu müssen. Beim mehrmaligen Sehen allerdings fängt man an, ein Geflecht von Zitaten und Anspielungen zu entdecken, das sich unter der Oberfläche der Filme verbirgt.

Ride Lonesome

Dialog mit Pferd und Indianern

Eine schöne Einführung in das Boetticher-Universum ist der Anfang von Ride Lonesome. Der Film beginnt mit dem Panorama der Alabama Mountains. Wenn John Fords Helden durch das Monument Valley reiten, bleiben die Felsformationen meistens Kulisse. Sie geben den Hintergrund für mythische Geschichten ab. Bei Boetticher schwenkt die Kamera nach unten. Wir sehen eine durch eine bizarre Felslandschaft führende Schlucht. Durch diese Schlucht kommt ein Mann auf uns zugeritten. Noch ehe wir den Reiter als Randolph Scott erkennen, sind da im Vordergrund diese eindrucksvollen Felsen. Der Mann steigt ab und geht zu Fuß weiter. Das signalisiert, dass es eine gefährliche Situation gibt, die den Mann zur Vorsicht zwingt. Aber es verschafft uns auch mehr Zeit, die Textur der Steine zu studieren. Boetticher verstand es wie nur wenige, die Erfordernisse eines primär visuellen Erzählens mit seinen ästhetischen Anliegen zu kombinieren. Das Gebirge, das bei anderen nur eine imposante Kulisse wäre, wird bei ihm in Einzelteile aufgelöst, erhält Plastizität und physische Präsenz.

Ride Lonesome

Während sich der Mann weiter nähert, schwenkt die Kamera nach rechts. Wir befinden uns noch immer in der ersten, ungeschnittenen Einstellung des Films, sehen jetzt einen anderen Mann und sein Pferd, dazwischen eine auf dem Lagerfeuer stehende Kaffeekanne. Es ist eine ähnliche Situation wie am Anfang von Seven Men from Now. Diesmal hat Randolph Scott nicht den Mörder seiner Frau verfolgt, sondern dessen Bruder Billy. Gibt es noch einen anderen Western wie Ride Lonesome, in dem ein Pferd das erste Wort hat? Wahrscheinlich nicht. Billys Pferd wiehert. "Ich habe ihn gehört", antwortet Billy. Dann folgt der erste Schnitt. Den durchschnittlichen Hollywood-Produzenten der 1950er hätte so ein Anfang zur Weißglut getrieben.

Ride Lonesome

Anschließend betritt Brigade, dessen Kommen das Pferd bemerkt hat, die Bühne. Wer noch nicht weiß, dass das ein Film von Budd Boetticher ist, bekommt eine von dessen visuellen Signaturen nachgereicht. Eine beliebte Einstellung in Hollywood-Filmen ist der over-the-shoulder-shot. Dabei wird von hinten über die Schulter eines Darstellers photographiert. Boetticher hat diese Einstellung modifiziert, ein Stück weiter nach unten gerückt und einen over-the-gun-shot daraus gemacht. Die sexuellen Implikationen der Einstellung sind offensichtlich, wenn vor der Pistole des Helden ein ausgestreckter Frauenkörper liegt wie in Comanche Station. Allerdings muss man bei Boetticher immer damit rechnen, dass unter der Oberfläche ein Subtext verborgen ist, und manchmal sogar mehrere.

Comanche Station

Im over-the-gun-shot in Ride Lonesome hängt neben der Pistole ein Paar Handschellen am Gürtel des Helden. Boetticher ruft durch seine Bildkompositionen unterschiedliche Assoziationen hervor und etabliert so die Themenstränge, die sich durch den Film ziehen. Mit den Handschellen wird Brigade Billy fesseln. Dadurch, dass Billy die liegende Stellung einnimmt, die sonst den das männliche Begehren weckenden Frauen zugewiesen wird, betont Boetticher die sexuelle Komponente. Die sexuelle Gewalt ist eines seiner Themen. Was mit der Gefangennahme von Billy beginnt, wird mit dem grotesken Fruchtbarkeitsritual am phallischen Galgenbaum enden. In The Tall T wird der sadistische Anführer der Banditen mit dem over-the-gun-shot eingeführt. Dann lässt er den Kutscher erschießen und in den Brunnen werfen, als müsse dieser verstopft werden (im Brunnen liegen schon die Leichen des Stationsbetreibers und seines Sohnes). Die Sexualmetaphorik ist ziemlich offensichtlich.

The Tall T

Noch frecher als der Anfang von Ride Lonesome ist der von Comanche Station. Als Faustregel gilt: Eine Drehbuchseite ergibt eine Filmminute. Auf der Seite eines Drehbuchs stehen viele Dialogzeilen. In Comanche Station vergehen fünf Minuten, bis einer den Mund aufmacht. Ein Indianer sagt etwas in einer Sprache, die wir nicht verstehen. Eine weitere Minute später sagt Randolph Scott seinen ersten Satz: "Suit yourself." Das ist Budds Credo: Tu, was du für richtig hältst (und nicht, was irgendein Chef dir aufträgt). Boetticher ist ein Meister des visuellen Erzählens. Wer genau hingesehen hat, weiß auch ohne Worte, worum es geht: Randolph Scott ist mit einer Decke voller Waren in das Indianergebiet geritten, er will eine Frau und keine Pferde eintauschen, und er macht so etwas nicht zum ersten Mal.

Comanche Station

Die Komantschen sehen wild und gefährlich aus. Komisch ist der Anfang aber auch. Der Krieger, mit dem Scott verhandelt hat, ist nur einer von den Indianern, nicht der Häuptling. Im Grunde hat er nichts zu melden. In einer grandiosen Einstellung zeigt Boetticher, wie Scott mit seinen Begleitern zum Lager des Häuptlings reitet (die Komantschen bilden in vollem Ritt einen Kreis um ihn). Da breitet er wieder seine Waren aus und gibt noch eine Winchester dazu. Das wirkt. Auf Befehl des Häuptlings holt einer der Komantschen eine weiße, von den Indianern verschleppte und vergewaltigte Frau und wirft sie auf die Decke mit den Tauschobjekten. Ohne dass seit dem "Suit yourself" noch ein weiteres (englisches) Wort gesagt werden musste, kennen wir jetzt ein zentrales Thema des Films: der Mensch als Ware. Die Welt der Weißen unterscheidet sich nur durch die Währung von derjenigen der Komantschen: bei den Weißen ist die Frau 5000 Dollar wert, bei den Indianern etwas Tand und eine Winchester. Das Gewehr wird sich als Motiv durch den ganzen Film ziehen. Die ersten, fast dialogfreien Minuten sind die Nuklearform der in Comanche Station erzählten Geschichte. Boetticher war ein sehr souveräner Filmemacher.

Comanche Station