Das Knie im Abseits

Schiedsrichterassistent beim Anzeigen einer Abseitsposition. Foto (2010): Steindy / CC BY-SA 3.0 deed

Maschinen übernehmen die Macht: Töten Videobeweis und Regulierungswut den Fußball? Brauchen Mannschaften heute noch Hierarchien? EM-Blog.

Es gibt keine Gerechtigkeit im Fußball. Es gibt nur Ergebnisse.

Uli Hoeneß

Video killed the Radio-Star!

Harpo

"Ein paar Millimeter Abseits beim vermeintlichen 1:0, dann das Handspiel im Gegenzug – das sind bittere Entscheidungen aus dänischer Sicht. Ich hätte gern mal gesehen, was los gewesen wäre, wenn es so einen Elfmeter gegen das deutsche Team gegeben hätte." – Der ehemalige Bundes-Berti Vogts ist inzwischen altersweise geworden und hat die rosarote Brille vieler Deutscher abgesetzt.

Vogts warnte nach dem glücklichen Sieg der Deutschen gegen Dänemark vor Hochmut und legte den Finger in die Wunden der deutschen Mannschaft: "Flapsigkeiten, die es gegen die Dänen gab, darf sich das deutsche Team gegen die absoluten Top-Mannschaften nicht erlauben", schrieb Vogts nach dem mühsamen Achtelfinalsieg in seiner Kolumne für die Rheinische Post und erinnerte an die für die Deutschen überaus glücklichen Entscheidungen des Video-Schiedsrichters und seines Avatars auf dem Platz.

Deutschland ist längst nicht so genial, wie es sich selbst gern sieht

Deutschland ist längst nicht so genial, wie es sich selbst gern sieht. Es war ein mühsamer Arbeitssieg gegen die Dänen, mit viel Glück. Denn die Dänen schafften es, Kroos zuzustellen, und so war kein Tritt mehr im deutschen Spiel.

Vielleicht war es somit ein großes Glück für die Deutschen, dass nach dem Achtelfinale kaum jemand über das eher mäßige Spiel der deutschen Mannschaft sprach und alle über Technik, den Videobeweis und andere Regelfragen.

Denn es war schon ziemlich ungerecht: Nach starkem Beginn der deutschen Nationalmannschaft fuchsten sich die Dänen mehr und mehr rein, fanden über den Kampf zum Spiel, und hatten nach der 30. Minute zwei 80-prozentige Chancen. Die Regenpause war das Beste, was den Deutschen passieren konnte, denn so kam der Gegner etwas aus dem Tritt. Trotzdem gab es weitere immer bessere Möglichkeiten und große Chancen am Schluss der ersten Halbzeit.

Und nach der 48. Minute schlug dann die Stunde des Videobeweises.

Ungerechtigkeit & Bayern-Dusel für Nagelsmann

Zweimal entschied eine Technik, nicht das menschliche Auge, gegen Dänemark. Die Annullierung des dänischen Tors wegen eines Zentimeters Abseits, und der Handelfmeter wegen Streifen des Balles mit dem Arm waren ungerecht. Denn es ist ungerecht, dass ein nicht absichtliches und eindeutig nicht geplantes Abseits genauso hart bestraft wird, wie ein geplantes.

Es ist auch ungerecht, dass Bewegungen, die nicht vom menschlichen Auge wahrnehmbar sind, sondern nur von einem Computerchip, der im Ball drin ist, zu einem Elfmeter führen. Schließlich ist es ungerecht, dass der Schiedsrichter komplett seiner Unabhängigkeit und seines "letzten Wortes" beraubt wird.

Das sind dann diese ungerechten deutschen Siege, diese FC-Bayern-haften Siege: Nicht gut gespielt, aber gewonnen - durch einen Elfmeter, der nur vom Computer gesehen wurde. "Bayern-Dusel" für Nagelsmann.

Die Deutschen hatten einmal Pech und dreimal Glück in diesem Spiel, die Dänen fünfmal Pech und einmal Glück.

Die Maschinen übernehmen die Macht über die Menschen

Daraufhin entspann sich eine bis dato nicht gekannte, bis jetzt nicht beendete Debatte um den Video-Schiedsrichter VAR.

Was nämlich in den neuesten, bei der laufenden EM erstmals praktizierten Fußballregeln vollkommen fehlt, ist praktische Vernunft und die Beachtung eines menschlichen Maßes. Die Maschinen übernehmen die Macht über die Menschen.

Der Sinn der Regeln gerät außer Acht, es herrscht Prinzipienreiterei

Man scheint im Augenblick zudem einige praktische Grundeinsichten des Fußballsports zu vergessen: Denn bestraft wird im Fußball nicht etwa Handspiel als solches, sondern nur absichtliches Handspiel. Bestraft wird eine Bewegung zum Ball hin.

Diese muss aber eine aktive Bewegung sein, die reine vage Berührung des Balles allein reichen bislang nicht aus. Und warum soll es als Kriterium eigentlich plötzlich genügen, dass der Lauf des Balles durch die unabsichtliche Berührung verändert wird? Denn der Lauf des Balles wird auch durch Berührung jedes anderen Körperteils verändert. Es geht um die aktive Bewegung zum Ball.

Der tatsächliche Sinn der Abseitsregel ist es seit ihrer Einführung 1925 ebenfalls, dass eine Absicht vorliegt. Der Sinn der Abseitsregel ist es, zu verhindern, dass Spieler vorne vor dem Torwart herumstehen, und den Spielfluss zu erhöhen. Ihr Sinn ist es aber nicht, zu entscheiden, ob ein einzelner Körperteil ein Zehntelzentimeter über einer imaginären Linie ist oder nicht. Sondern, das ist nicht fair. Es tötet eher die Kreativität von Spielzügen.

In jedem Fall aber müsste es nur um klar sichtbares Abseits gehen und es müsste zugleich einen Quasi-Korridor des Zulässigen geben. "Auf gleicher Höhe" muss mindestens 10 cm vor und nach der Linie gelten. Es kann nicht sein, dass eine nur für die Maschine erkennbare Linie darüber entscheidet, ob ein Tor geschossen wird oder nicht, es geht um menschliche Maß. Die Abseitsregel ist so, wie sie ist, ein ziemlicher Unsinn.

Der Sinn der Regeln gerät heute außer Acht, es herrscht reine Prinzipienreiterei, ein gerechtigkeitsfanatisches Schreckensregime jenseits menschlicher Dimensionen.

Im Zweifel für den Spielzug, im Zweifel gegen die Technik

Im Fußball muss immer der Grundsatz gelten: im Zweifel dafür! Im Zweifel für den Angreifer, im Zweifel für das Tor. Denn das Tor ist der Sinn des Fußballspiels. Nur das Tor ist seine Vollendung. Man sollte im Zweifel offensive Mannschaften und offensive Spielzüge belohnen und nicht defensive und destruktive.

Natürlich kann auch eine gut aufgestellte Abseitsfalle kreativ sein. Aber die Kreativität entscheidet sich nicht an einem Zentimeter, der nicht für den Täter kontrollierbar ist, und nur durch ein technisches Hilfsmittel erkennbar wird. Auch hier gilt: im Zweifel für den Spielzug, im Zweifel gegen die Technik. Im Zweifel für den Körper und das menschliche Maß.

"Zwei lächerliche Entscheidungen"

Auch der dänische Nationaltrainer Kasper Hjulmand wütete nach dem EM-Aus gegen Deutschland über die Art des Zustandekommens und die VAR-Eingriffe: "Eine Schande."

Vor allem das wegen Abseits aberkannte 1:0 von Joachim Andersen erzürnte Hjulmand. "Wir reden über einen Zentimeter. Kann das wirklich die zweifelsfreie Wahrheit sein?", sagte er im ZDF. "Ist die Technik so genau? Lässt sich der Zeitpunkt des Abspiels so genau bestimmen? Ich habe Fragen", sagte er.

Auch beim Handspiel von Andersen war Hjulmand skeptisch. "Wir können nicht Fußball spielen, ohne die Arme zu bewegen. Dazu die kurze Distanz. Das sind zwei lächerliche Entscheidungen, die entscheidend waren", sagte er.

Das Problem wäre leicht zu lösen

Das Problem und der ganze Ärger aller Seiten über den VAR wären übrigens leicht zu lösen: Überlassen wir doch den Teams und nicht den unsichtbaren Dritten im Schiedsrichterkeller, wann der VAR eingesetzt wird. Jede Mannschaft könnte fünfmal den VAR-Joker ziehen dürfen.

Das würde auch dazu führen, dass die Aussagen der Spieler auf dem Platz ehrlicher sind und weniger markiert würde; es gäbe maximal zehn Unterbrechungen durch den VAR und die Schiedsrichter dürfen (und müssen) sich wieder auf ihre Tatsachen-Entscheidungen konzentrieren. Wenn es dann zu einem falschen VAR-Einsatz kommt, wäre das die Schuld der beteiligten Trainer selbst.

"Hierarchie ist das Unterschätzteste, was es im Fußball gib."

"Hierarchie oder neudeutsch Rollenverteilung ist ein hammer-hammerwichtiges Thema im Fußball". ZDF-Experte Christoph Kramer dachte über die Basis für ein gutes Miteinander im Team nach und räsonierte öffentlich über Hierarchie und Organisation:

Rolle ist ja so das neue Wort für Hierarchie. Hierarchie ist das Unterschätzteste, was es im Fußball gibt! Hierarchie auf dem Platz ist so krass krass krass wichtig!!

Man kann alles machen. Man kann Spaß haben. Aber in einer Fußballmannschaft, wo Spieler alle ganz viel verdienen, Nationalmannschaft spielen, die alle ein großes Ego haben, ist es wichtig, dass es Hierarchie gibt, dass es ein paar Spieler gibt die sagen: so und so wird das gemacht.

Hierarchie sei unterschätzt. Auf keinen Fall dürfe es eine flache Hierarchie geben: "Das muss schon ganz klar sein. Leistung ist das allerwichtigste in einer Fußballmannschaft." Übers Alter gehe es auch, aber Leistung bestimme die Hierarchie. Aber jede Mannschaft brauche Typen, die vorangehen, sagen, wie es gemacht wird, und an die sich die anderen zu halten haben.

Kramer verwies auf die Missgunst innerhalb jeder Mannschaft: "Wir reden ja immer von einem Mannschaftssport", aber am Ende gebe es keine Teamplayer, "alle sind ja Individuen und wollen alle immer spielen."

2014 sei, so Per Mertesacker, Philipp Lahm in der Hierarchie ganz oben gewesen.

Erwartbares und Überraschungen

Das Achtelfinale mischte Erwartbares und Überraschungen: Österreich spielte einen herausragenden Fußball, und wurde von glücklichen Türken kalt erwischt. Bemerkenswert, dass die Rangnick-Truppe dann kein Gegenmittel hatte.

Die Briten lieferten einen verheerenden Auftritt ab. "Diese Mannschaft darf auf keinen Fall die EM gewinnen" schrieb William Laing auf t-Online:

Dass England mit diesen Weltklasse-Spielern eine einfallslose Performance nach der nächsten präsentiert, ist eine Schande. ... in vier Spielen bei dieser Europameisterschaft hat die englische Mannschaft bisher nur destruktive und völlig unappetitliche Auftritte aufs Parkett gelegt und sich mit diesen dann auch noch irgendwie durch das Turnier gemogelt. Diese Art des Fußballs darf nicht belohnt werden, schon gar nicht mit dem EM-Titel.

Auch Italien bot gegen die Schweiz eine enttäuschende Vorstellung. Die Schweizer zeigten, dass sie in diesem Jahr zu einem Höhenflug in der Lage sind: Die Italiener stellten sich zu Beginn mit neun Leuten hinten rein und wussten nicht, was sie machen sollen.

Wie geht's nun weiter bei der EM? Per Mertesacker: "Von den Franzosen ist noch viel viel zu erwarten."