Das große Keuchen

Chinas Wirtschaftswunderjahre sorgen für dicke Luft

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Heutzutage ist es selten genug, wenn irgendwo die Wirtschaft boomt und man daran teilhaben kann, indem man Produkte in das aufstrebende Land liefert oder gar seine eigene Fertigung dorthin verlagert, um marktfähige Preise zu erreichen. Es will deshalb niemand die Stimmung dadurch verderben, dass er von Zensur oder Umweltschutz zu reden beginnt. Im Gegensatz zu Atomunglücken oder dem sauren Regen der 80er-Jahre, der aus dem Osten nach Westdeutschland kam, bleibt die dicke Luft der übereilten Industrialisierung des Landes der Mitte in selbigem und kommt nicht bis nach Westeuropa. Das macht das Problem allerdings nicht unbedingt kleiner.

Wer den Überblick hatte, sah die Entwicklung bereits vor 20 Jahren kommen: was bei uns aus Umweltschutzgründen oder schlicht Unrentabilität an Fabriken geschlossen wird, wandert in Entwicklungsgebiete. Während bei uns Katalysator und bleifreies Benzin angesagt sind, wandert die alte Technik in die Entwicklungsländer. Wer weiß, was in Ländern wie Indien (Indien boomt) und China mit Motorrädern und Fahrrädern heute bereit für ein heilloses Verkehrschaos herrscht, der möchte gar nicht wissen, was erst passiert, wenn eine Milliarde Chinesen auch noch Auto fahren wollen.

Nicht nur große Firmen wie Siemens und BASF lagern die Fertigung nach China aus (China und die Angst vor der harten Landung) – auch der deutsche Mittelstand zieht mittlerweile um. Der Schaltnetzteilhersteller Puls fährt dabei mehrgleisig: Er hat bereits Fertigungsstätten in Deutschland und in Tschechien – und nun baut das Unternehmen für 10 Millionen Euro in den nächsten 18 Monaten eine Fertigung in Suzhou in China mit 10.000 Quadratmetern Produktionsfläche und 500 Mitarbeitern auf. Dabei hat jeder Standort seine Vorzüge; kleine schnelle Dinge für den europäischen Markt wird Puls auch weiter hier fertigen.

Bernhard Erdl, Geschäftsführer von Puls, hatte bei China laut eigener Aussage anfangs zwar nur an die geringeren Fertigungskosten gedacht, doch ein China-Engagement – und zwar auch mit einer eigenen Entwicklung – erschien ihm doppelt sinnvoll, weil inzwischen auch Wettbewerb, Kunden und Zulieferer dort sitzen. Auch die taiwanesischen Computerfirmen fertigen inzwischen auf dem chinesischen Festland. Vor vermehrtem Nachbau seiner Geräte, eine bei der Fertigung in China oft unterschätzte Gefahr, hat Erdl keine Angst, da dies bereits jetzt passiert: „10% der Stromversorgungsentwickler in China kennen uns“.

Unternehmen, bei denen das Know-How nicht in einer nachbaubaren Schaltung, sondern im Fertigungsprozess selbst steckt, sollten sich jedoch vorsehen, so Erdl – ein Grund für das zögerliche Engagement von Halbleiterherstellern – und auf keinen Fall statt einer eigenen Fertigung einen Dienstleister vor Ort engagieren: Der würde dann nämlich neben der Fertigungslinie für den Investor noch eine zweite identische für die Plagiate aufbauen.

Wie in Deutschland in den 50er-Jahren sorgt Kohle (Die Kohlekraft heute) in China dafür, dass der Schornstein raucht. Und dies wortwörtlich: trotz massivem, in diesem Umfang (Wasserkraft ist nur im Kleinen ökologisch) durchaus auch umweltschädlichen Ausbau der Wasserkraft (Unabsehbare Langzeitfolgen) und ebenso intensivem Ausbau der Kernenergie, was bereits zu einer Hausse bei den Uranpreisen führt (In China gehen die Lichter aus), wird Chinas Industrie größtenteils von Kohle befeuert. Dabei herrscht Stromknappheit; der Strom wird stunden- oder tageweise abgeschaltet. Das Land der Mitte ist mittlerweile nach den USA der zweitgrößte Luftverschmutzer (Waldsterben und Luftverschmutzung) und gibt fast soviel Kohlendioxid ab wie der ganze Rest von Asien. Eine Dunstwolke über Südostasien aus Asche, Staub und giftigen Verbrennungsrückständen beeinflusst das Klima, stört die Vegetation und gefährdet die Gesundheit. Daneben gibt es die großen Sandstürme von Januar bis März.

Die dichte Dunstglocke über China aus dem All – der Blick geht nach Osten Richtung Korea (Bild: NASA)

2000 m3 verfügbares Wasser pro Kopf pro Jahr gilt als am Rande ernsthaften Wassermangels; 1000 m3 werden als existentieller Grundbedarf angesehen, doch in Peking sind mittlerweile weniger als 300 m3 verfügbar. Künstlicher Regen soll helfen: In der ersten Hälfte des Jahres 2004 wurden 16 Flüge durchgeführt und 429 Raketen sowie 1931 Flak-Geschosse abgefeuert, um die Wolken mit Trockeneis zu impfen (Der Krieg der Regenmacher).

China ist größter Stahl-, Kupfer- und Kohleverarbeiter und nach den USA zweitgrößter Öl- und Stromverbraucher der Welt. 3/4 der erzeugten Energie entstammen der heimischen Kohle. Schätzungsweise sterben jährlich eine Million Chinesen an den Folgen der Luftverschmutzung. Im Sommer wird der Strom knapp – in Shanghai wurden auch ausländische Firmen bereits gefragt, ob sie mit einer Woche Stromabschaltung und Betriebsurlaub leben können. Manchmal werden Stromausfälle fünf Minuten vorher angekündigt, manchmal auch nicht (Megatrend China: Stromausfall).

Hilmar Kraus, ebenfalls Geschäftsführer eines mittelständischen deutschen Netzteilherstellers, der MTM Power Messtechnik Mellenbach, sieht in Auslandsengagements deshalb große Probleme: „In vielen Ländern werden Termine nicht eingehalten und in China wird Mittags um 2 der Strom abgeschaltet – erklären Sie das mal Ihrem Kunden, der auf die Geräte wartet!“. Subventionierte Bauteile mangelnder Qualität machten es unmöglich, in China mehr als nur billig zu fertigen. Die Folge: Kunden springen ab. „Erst Tschechien und Ungarn, dann Rumänien und die Ukraine, dann China – und dann die Pleite“ – so beschreibt Kraus das Ende des Traditions-Schuhherstellers Salamander und prophezeit dasselbe für jeden, der nur auf Kostenreduktion aus ist. „Ich habe aber keine Einwände, wenn wirklich für den dortigen Markt produziert wird“, so Kraus. Als Marktführer für vergossene Module in Europa beliefert MTM Power z.B. 65% des Gabelstaplermarktes, hat 35% Exportanteil und baut nun ein zweites Werk – in Deutschland.

Als Chinas Präsident Hu Jintao letzte Woche die USA besuchte, waren Taiwan und die Menschenrechte durchaus ein Gesprächsthema, die Umwelt jedoch nicht: die Amerikaner haben hier selbst – zu Recht – ein schlechtes Gewissen. Doch während Hu Jintao in Washington weilte, litt sein Land unter der schlimmsten Luftverschmutzung seit Jahren: Sandstürme suchten ein Achtel des Landes heim und kosteten in der westlichen Provinz Gansu zwei Arbeitern das Leben. Am 19. April konnten in der Hauptstadt Peking erst 56 Tage klaren blauen Himmels in 2006 verzeichnet werden, 16 weniger als im letzten Jahr, während die Weltbank verkündet, dass 16 der 20 am meisten von Umweltverschmutzung belasteten Städte in China liegen.

Chinesische Umweltwissenschaftler haben unter der Leitung von Honghong Yi an der Tsinghua-Universität in Peking gerade enthüllt, wie schlimm die Situation tatsächlich ist (Energy Policy, DOI: 10.1016/j.enpol.2006.01.019). Zwar hat China in den letzten Jahren viel getan, um die Luftqualität zu verbessern, doch die Effekte wurden vom ungebremsten Wirtschaftswachstum völlig überrannt. So emittiert China mehr Schwefeldioxid als jedes andere Land der Welt, was zu saurem Regen über einem Drittel des Landes führt. Ruß und andere Feinstäube nehmen ebenfalls massiv zu.

Obwohl den meisten Chinesen der Wirtschaftsaufschwung noch gar nicht zugute kommt, leiden sie bereits unter seinen Umwelt-Nebenwirkungen. Wenn nichts getan wird, werden die Gesundheitskosten im Land in den nächsten 15 Jahren astronomische Werte erreichen, so der New Scientist in seiner aktuellen Ausgabe. Eine Besserung in den nächsten Jahren ist nicht zu erwarten: das statistische Amt Chinas berichtet, dass das Land den Energieverbrauch seit 1980 verdreifacht hat und heute 10% des Weltenergieverbrauchs stellt.

An Rohstoffen gibt es jede Menge Kohle im Land, doch nur wenig Öl und Gas. im Jahr 2000 wurden etwa 1,3 Milliarden Tonnen Kohle verfeuert, und wenn das Wirtschaftswachstum weiter so anhält wie momentan, werden es im Jahr 2020 zwei Milliarden Tonnen sein. Die Kohleverbrennung in Kraftwerken und Industrieanlagen ist die Hauptquelle des Schwefeldioxids und der Feinstäube in der Atmosphäre.

Um das Schwefeldioxid in den Griff zu bekommen, hat China viele kleinere Kohlekraftwerke stillgelegt und verbrannt lieber schwefelarme Kohle, reinigt die Kohle vor der Verbrennung oder – wie bei uns üblich – das Rauchgas im Schornstein. Doch viel mehr kann nicht mehr getan werden und der saure Regen, der in China fällt, ist deutlich säurehaltiger als der in Nordamerika oder Nordeuropa, da er vorwiegend aus schwefliger Säure besteht. Mit dem zunehmenden Kraftfahrzeugverkehr nehmen jedoch auch die Stickoxide und damit der Anteil salpetriger Säuren zu. Um die Sandstürme einzudämmen, werden Bäume gepflanzt, bei denen auch nicht ganz sicher ist, ob für die Situation nicht sogar noch verschlimmern, da für ihre Bewässerung die Grundwasservorräte angezapft werden (Die große grüne Mauer).

Währenddessen leiden und sterben immer mehr Leute im Land an Atemwegserkrankungen infolge der Luftverschmutzung: In China elf größten Städten sind es jedes Jahr mindestens 50.000. Weitere 400.000 leiden an chronischer Bronchitis, so Honghong Yi. In besonders betroffenen Gebieten sterben fünf- bis achtmal so viele Leute an Lungenkrebs wie in nicht verschmutzten Gebieten. Auch giftige Kohlenwasserstoffe wie Benzol und Toluol sind in weit größerem Ausmaß in der Luft als in den meisten heutigen Industrieländern.

Nein, nicht das chinesische Werk im Sandsturm, sondern die tschechische Puls-Fertigung in Chomutov (Bild: Puls)

Die Weltbank schätzt, dass China im Jahr 2020 390 Milliarden Dollar ausgeben muss, um die durch die Kohleverbrennung ausgelösten Krankheiten zu behandeln, was 13% des vorausgesagten Bruttosozialprodukt in jenem Jahr sein werden. Auch dem größten Zyniker, dem es nur ums Geld geht, müsste also klar sein, dass etwas getan werden muss. Und der chinesischen Regierung ist das Problem durchaus bewusst, auch wenn man es nicht gerade an die große Glocke hängt. Der Premierminister Wen Jiabao gab auf einem Umweltschutzkongress vorletzte Woche bekannt, dass im letzten Jahr der Schwefeldioxidausstoß in China 27% höher lag als im Jahr 2000, obwohl das gesetzte Ziel eigentlich gewesen war, ihn in diesem Zeitraum vielmehr um 10% zu reduzieren.

Nur der Ausstoß von Kohlenwasserstoffgasen wie Äthan und Propan ist in China geringer als beispielsweise in den USA, weil Erdgas und Erdöl bislang wenig verwendet werden. Damit ist auch das Ozonproblem in China bislang geringer als in den USA. Doch da die Regierung zukünftig mehr Öl anstelle von Kohle zur Energieerzeugung einsetzen will, wird auch dieses nicht von Dauer sein: die Fernsicht wird dann wieder besser werden, und dafür die Ozonkonzentration zunehmen.