Demokratie-GAU: Wie ein scheintotes Parlament hunderte Milliarden Euro Schulden machte

Roter Pfeil durchbricht Deutschlandfahne

Abgewählter Bundestag beschließt größte Kreditaufnahme der Geschichte. Plan von Union, SPD und Grüne geht auf. Das wird Folgen haben. Ein Telepolis-Leitartikel.

Die Krisen werden dramatischer, die politischen Prozesse rasanter: Noch vor wenigen Wochen – die Vertreter der sogenannten Ampelkoalition verstanden sich offiziell noch prächtig – wurde die Schuldenbremse mit Zähnen und Klauen verteidigt.

Vor allem, wenn es um soziale Belange ging, um marode Sozialsysteme von der Kita bis zum Krankenhaus etwa, unter denen die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland täglich leiden, beharrten die Liberalen unter ihrem Vorsitzenden Christian Lindner auf der Regelung im Grundgesetz.

Doch dann änderte sich alles, Schlag auf Schlag.

Die Ampelkoalition zerbrach, am 23. Februar wurde ein neuer Bundestag gewählt, am 4. März einigten sich die wohl künftigen Koalitionäre, Union und SPD, darauf, mindestens 500 Milliarden Euro an Haushaltsmitteln und Krediten freizugeben.

Unehrlich von Anfang an

Der Weg war frei für die lustigste und liquideste Koalition in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.

Das wäre auch alles in Ordnung, wenn es denn ehrlich vonstattenginge. Ehrlichkeit, vorrangig der Bevölkerung gegenüber, aber ließ dieser Prozess von Beginn an missen.

So wird die heutige Grundgesetzänderung und die faktische Abschaffung der Schuldenbremse in Deutschland als ein weiterer disruptiver Moment in die Geschichte unserer erodierenden bundesrepublikanischen Demokratie eingehen.

Projekt von Union, SPD und Grünen

In der heutigen Sondersitzung des Bundestages stimmten vor allem die Abgeordneten von CDU/CSU, SPD und Grünen also für dieses umstrittene Finanzpaket mit einem Volumen von mehreren hundert Milliarden Euro, zumeist Kredite, also Schulden. Damit wurde im Eiltempo eine historische Reform der in Art. 109 GG geregelten Schuldenbremse im Grundgesetz beschlossen.

Zweidrittel erreicht

Um die geplanten Änderungen umzusetzen, waren mehrere Modifikationen des Grundgesetzes notwendig. Dafür war eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag erforderlich, was 489 Stimmen entspricht. Dieses Ziel wurde erreicht: 513 Abgeordnete unterstützten das Vorhaben mit ihrer Zustimmung, während 207 Parlamentarier dagegen stimmten. Enthaltungen gab es keine.

Zugeständnisse an die Grüne

Union und SPD sicherten sich mit Zugeständnissen an die Grünen die nötige Zweidrittelmehrheit im Parlament. Aus den Reihen von FDP, AfD und BSW kam heftige Kritik am intransparenten Verfahren, wie Sahra Wagenknecht für ihre Partei betonte.

Effekte der "Brandmauer"

Die Linken hatten auf weiteren Widerstand verzichtet, um nicht mit der AfD gemeinsam agieren zu müssen – ein vom System aus gesehen praktischer Effekt der sogenannten Brandmauer. Zwar hätten Linke und AfD keine sofortige Konstituierung des neuen Bundestages erzwingen können, der Druck aber wäre wohl erhöht worden.

Durcheinander von Alt und Neu

Man kann diesen gesamten Vorgang auch etwas polemischer umschreiben, vielleicht würde es der Sache sogar gerechter: Wir haben heute einen abgewählten Bundestag erlebt, der über den Finanzrahmen einer künftigen Regierung entschieden hat, mit einer Mehrheit, die offiziell nicht mehr den Wählerwillen repräsentiert, für eine Regierung, die noch nicht gebildet ist, und einen Kanzler Friedrich Merz, der noch nicht gewählt ist.

Es geht um Aufrüstung

Die Konstruktion ist abenteuerlich, der Gegenstand des Beschlusses historisch: Das Finanzpaket wird durch die De-facto-Abschaffung der Schuldenbremse möglich, damit Verteidigungsausgaben möglich werden. Auch die Länder bekommen zusätzliche Spielräume für die Verschuldung.

Straßen für die Armee

Vor allem aber werden 500 Milliarden Euro neue Staatsschulden in einem Sondervermögen "für Infrastruktur und Klimaschutz" ermöglicht. Inwieweit der Klimaschutz durch geplante Megaprojekte in der Infrastruktur und im Straßenbau effektiv ist, sei dahingestellt.

Merz für Europäische Verteidigungsgemeinschaft

Noch-Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz jedenfalls verteidigte das Paket als notwendige Reaktion auf eine veränderte Sicherheitslage in Europa. "Unsere Verbündeten schauen heute genauso auf uns wie unsere Gegner", sagte Merz. Der Beschluss könne ein Schritt hin zu einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft sein.

Alles führt zum Militär

Egal, wie die Debatte läuft und welche Papiere man liest, am Ende laufen die derzeitigen Milliardenpakete in Deutschland und auf europäischer Ebene auf eines hinaus: Aufrüstung und Militarisierung.

Infrastruktur und militärische Planung

Das gilt übrigens auch für auf den ersten Blick harmlose europäische Infrastrukturprojekte wie das Trans-European Transport Network (TEN-T), das zentral in die militärische Planung der EU eingebunden ist, um eine duale Nutzung der Infrastruktur für zivile und militärische Zwecke zu gewährleisten.

Vorgehen rechtswidrig?

Aber unabhängig von diesem Kontext verurteilten FDP und AfD das Vorgehen heute als verfassungswidrig. FDP-Fraktionschef Christian Dürr sprach von einem "Startschuss für hemmungslose Schuldenmacherei" und warf Merz vor, vor SPD und Grünen eingeknickt zu sein.

"Mit einem seriösen parlamentarischen Verfahren hat das nichts zu tun", kritisierte FDP-Geschäftsführer Johannes Vogel den "Schweinsgalopp" bei der Grundgesetzänderung.

AfD-Chef Tino Chrupalla sieht einen Vertrauensbruch gegenüber den Wählern: "Sie haben sich inzwischen die mRNA der SPD einpflanzen lassen, Herr Merz."

Grüne kritisieren und machen mit

Auch aus den Reihen der Grünen kam trotz grundsätzlicher Zustimmung Kritik. Co-Fraktionschefin Britta Haßelmann griff Merz scharf an, der noch im Wahlkampf Reformvorschläge als "anmaßend und populistisch" diffamiert habe.

Letztlich sei man aber froh, dringend notwendige Investitionen durchgesetzt zu haben, so Haßelmann. Linke und BSW lehnen ausufernde Rüstungsausgaben ab. BSW-Chefin Sahra Wagenknecht bezeichnete die Kredite als "Kriegskredite mit Klimasiegel".

BSW protestiert im Plenarsaal

Nach ihrer Rede hielten die Abgeordneten der BSW-Gruppe Schilder hoch, um ihre Ablehnung des Schuldenpakets zu bekräftigen. Auf den Plakaten war die Aufschrift "1914 wie 2025: NEIN zu Kriegskrediten!" zu lesen. Wegen dieser Aktion erhielten alle beteiligten Abgeordneten einen Ordnungsruf von Bundestagspräsidentin Petra Pau.

Kurze Fristen in der Kritik

Rechtliche Bedenken kamen auch von Verfassungsrechtlern. Sie kritisieren vorwiegend die Eile des Verfahrens und die eingeschränkten Mitspracherechte von Ländern, Kommunen und Fachpolitikern. Oh, Sie sehen es kritisch, dass der alte Bundestag mit seinen alten Mehrheitsverhältnissen über Hunderte Milliarden Euro Schulden für eine künftige Regierung entscheidet, ohne die neuen Mehrheitsverhältnisse zu berücksichtigen.

Union und SPD begründen ihr Vorgehen mit dringendem Handlungsbedarf bei – Obacht! –Verteidigung und Infrastruktur. "Wer jetzt zögert, verleugnet die Realität", sagte Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD).

Klingbeil für Mentalitätswandel

"Wir müssen überall effizienter, zielgerichteter und professioneller werden", betonte SPD-Obmann Lars Klingbeil mit Blick auf die angekündigten Reformen. Notwendig seien ein "Mentalitätswandel" und Bürokratieabbau. Auch Merz räumte ein, dass die enorme Neuverschuldung den Spardruck in Zukunft noch erhöhen werde.

Am Freitag muss auch der Bundesrat zustimmen. Erste Konsequenz soll dann laut Merz eine milliardenschwere Aufstockung der Hilfen für die Ukraine sein.

Vorwurf der Wählertäuschung

Über alldem schwebt der Vorwurf der Wählertäuschung. Der wohl nächste Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) sieht sich sogar entsprechender parteiinterner Kritik ausgesetzt, seit er nach der Bundestagswahl plötzlich seine Meinung zur Verschuldung und Militärausgaben geändert hat.

In der ZDF-Sendung "Markus Lanz" fand der CDU-Verteidigungsexperte Roderich Kiesewetter unlängst deutliche Worte: "Ich kann jeden verstehen, der sagt: Das war Wählertäuschung, was wir da gemacht haben."

Kiesewetter gegen Merz

Vor der Wahl habe Merz noch für eine strikte Schuldenbremse plädiert. Jetzt wolle er die Verschuldung für höhere Militärausgaben ausweiten. Kiesewetter selbst hatte seit einem Jahr immer wieder höhere Verteidigungsausgaben gefordert – und war von Merz als "isolierte Einzelmeinung" abgetan worden. Kiesewetter warf Merz vor, seine Position komplett geändert zu haben.

Tatsächlich wird in der CDU nun heftig über die Glaubwürdigkeit von Merz diskutiert. Viele Abgeordnete hatten im Wahlkampf die Linie "keine Schulden und keine Steuererhöhungen" vertreten – und fühlen sich von Merz düpiert.

Geht es um die Weltlage?

Merz verteidigte seine Kehrtwende mit der Weltlage. Wegen des Krieges in der Ukraine und der Spannungen mit den USA seien jetzt massiv höhere Militärausgaben nötig. Deutschland brauche eine "große nationale Kraftanstrengung", so Merz. Kritiker halten ihm allerdings vor: Die sicherheitspolitische Lage sei schon vor der Wahl absehbar gewesen – Kiesewetter habe bereits damals darauf hingewiesen.

Wagenknecht sieht den Skandal

Auf der Plattform X hat indessen BSW-Chefin Sahra Wagenknecht auf Kiesewetters Äußerungen reagiert. "Kiesewetter gibt bei Lanz freimütig zu, dass die CDU vor der Wahl nicht gesagt hat, dass nach der Wahl gigantische Aufrüstungsschulden kommen, damit BSW & AfD nicht stärker werden. So sieht also das Demokratieverständnis der Parteien der 'demokratischen Mitte' aus. Unfassbar!"

Im Wahlkampf andere Töne

Man kann Merz’ Vorgehen also intellektuell zurückhaltend wie der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke, Herausgeber der Blätter für deutsche und internationale Politik, beanstanden: "Zumindest hat er das, was er jetzt getan hat, im Wahlkampf nicht dezidiert so gesagt."

Oder man erklärt es damit, dass die Konstellation im Großen und Ganzen von vornherein klar war: Es lief auf eine Große Koalition mit oder ohne Beteiligung der Grünen hinaus.

Keine parlamentarische Legitimation

Und jetzt ist es genau dieses Bündnis, das bar parlamentarischer Legitimation noch vor der Regierungsbildung in einem abgewählten Parlament Milliardenbudgets schafft und über sie entscheidet.

Wer bisher von Politikverdrossenheit sprach, muss angesichts dieses Vorgangs aufschreien. Die Delegitimierung des parlamentarischen Systems ist ein großes Stück vorangekommen. Und ihr steht eine wachsende Allianz parlamentarischer Kräfte gegenüber, AfD und nun BSW, die mit aller Kraft isoliert werden.

Auf der anderen Seite steht vor allem aber die größte aller Kräfte: die Bevölkerung, der Souverän, der für diese Selbstbedienungspolitik bezahlen wird, die nicht ihm zugutekommt, die keine Krankenhäuser schafft, keine Hausärzte unterstützt, keine Kitas finanziert, sondern die der Aufrüstung und geopolitischen Abenteuern dient.