Demokratie, Zukunft und Solidarität bleiben beim "Wiederaufbau" auf der Strecke

Bild: European Union

Ausgerechnet an Punkten, an denen es besonders im EU-Gebälk knirscht, wurden die Weichen eher für weitere sieben Jahre in die völlig falsche Richtung gestellt

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Die gute Nachricht angesichts des EU-Sondergipfels zum sogenannten "Wiederaufbaufonds" und des Haushalt von 2021 bis 2027 ist, dass der Haushalt vom Europaparlament auf breiter Front abgelehnt wird, der mit dem Fonds unter dem Titel "Next Generation EU" verrührt wurde.

465 Parlamentarier stimmten deshalb am Donnerstag einem überfraktionellen Entschließungsantrag zu, der die Übereinkunft zum "Mehrjährigen Finanzrahmen" (MFR) der EU "in seiner derzeitigen Fassung" ablehnt. Die übergroße Mehrheit droht mit einem Veto für den MFR. Nur 150 der Parlamentarier hatten gegen den fraktionsübergreifenden Antrag gestimmt, während sich 67 enthielten. Eine Zustimmung soll verweigert werden, bis "eine zufriedenstellende Einigung erzielt wird".

Gedroht wird mit einem Veto und das Parlament erinnert daran, dass ein Haushalt ohne Zustimmung des Parlaments unmöglich ist. Und der umfasst mit fast 1,1 Billionen Euro den Großteil der 1,8 Billionen Euro, mit denen gegen die Auswirkungen der Corona-Krise gesteuert werden soll. Das Parlament kann den von den Staats‑ und Regierungschefs vorgelegten Entwurf nur annehmen oder ablehnen, ihn offiziell substanziell aber nicht verändern. Doch mit der Möglichkeit der Ablehnung hat das Europaparlament (EP) eigentlich einen großen Hebel in der Hand, um wichtige Änderungen zu erzwingen. Ob er genutzt wird, bleibt abzuwarten und zu bezweifeln.

Kritisiert wird an dem Beschluss des Sondergipfels allgemein, "dass das Erreichen im allgemeinen Interesse liegender gemeinsamer Lösungen allzu häufig durch das ausschließliche Festhalten an nationalen Interessen und Standpunkten aufs Spiel gesetzt wird". Konkret werden in dem Antrag zum Beispiel die "vorgeschlagenen Kürzungen bei Gesundheits- und Forschungsprogrammen" im Haushalt kritisiert, auch von der konservativen Fraktion der Volksparteien (EVP).

Angesichts der Tatsache, dass man angeblich einen Wiederaufbau wegen einer Virus-Pandemie braucht, sind gerade diese Kürzungen besonders hanebüchen. Es zeigt sich, dass in den Verhandlungen wieder einmal ganz andere Fragen im Vordergrund standen als die, um die es inhaltlich eigentlich gehen müsste.

Zukunftsfragen hintangestellt

In dem Antrag werden auch Kürzungen bei "Bildung, digitalem Wandel und Innovation" kritisiert, welche die Zukunft der nächsten Generation von Europäern gefährde. Vom Ziel, dass die EU-Ausgaben eigentlich hätten "moderner" ausfallen sollen, ist ohnehin nichts zu sehen. Sehr deutlich sieht man das an der Zukunftsfrage des Klimaschutzes.

Und da wurde wahrlich kein Sprung nach vorne gemacht, was man angesichts der ständigen Beteuerungen unserer Politiker eigentlich hätte erwarten müssen, sondern es soll sogar eher eine Rolle rückwärts geben. So würden "die vorgeschlagenen Kürzungen bei Programmen zur Unterstützung der Umgestaltung CO2-abhängiger Regionen der Agenda des Grünen Deals der EU zuwiderlaufen", wird in dem überfraktionellen Antrag ausgeführt.

Statt jetzt in Richtung Nachhaltigkeit und Klimaschutz mit viel Geld umzusteuern, kommen Beobachter allerdings allseits zum Ergebnis, dass am "Klimaschutz massiv gekürzt wird", wie die europapolitische Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion Franziska Brantner erklärt. So wurde der der "Just Transition Fund" für einen sozial verträglichen Kohleausstieg zusammengestrichen. Ganz im EU-Stil wird zwar großspurig behauptet, dass für den Klimaschutz nun statt 25 sogar 30% der EU-Gelder ausgegeben werden sollen, doch real betrachtet, findet man vor allem die große Schere.

Gelder für den bereits beschlossenen Fonds für den Strukturwandel in Kohleregionen wurden von geplanten 40 auf 17,5 Milliarden Euro für die gesamte EU gekürzt. Allein Deutschland will dagegen mit 40 Milliarden dafür mehr als eine doppelte Summe im eigenen Land aufbringen, was die EU nun für alle Mitgliedsländer vorsieht. Doch in Brüssel kann man auch darauf noch einen draufsetzen. Polen bekommt allein die Hälfte der geplanten Gelder für den geplanten Strukturwandel. Das Land wird also dafür auch noch belohnt, dass es sich als einziges Land der Gemeinschaft nicht dazu bekennt, das EU‑Ziel der Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen. Das ist die Realpolitik der EU.

Vom Europaparlament wird auch massiv kritisiert, dass Autokraten in der EU weiter auch an der Stelle keine Abstriche machen müssen, an denen es sie am meisten schmerzen würde, wenn sie gegen die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit verstoßen. Wie Telepolis mehrfach betont hatte, sollten die Ausgaben nach eigenen Angaben der EU-Kommission in den kommenden Jahren eigentlich an die Einhaltung des Rechtsstaatsprinzips gebunden werden.

"Das Pochen auf das Rechtsstaatsprinzip wurde beim Sondergipfel völlig verwässert"

Angesichts der Erfahrungen in dieser EU, die sogar darüber hinwegschaut, dass in Spanien Katalanen bei einer friedlichen Abstimmung verprügelt werden, dass dafür Politiker mit Phantasieanklagen für lange Jahre inhaftiert werden (vgl. Wahlurnen friedlich aufzustellen ist in Spanien nun Aufruhr), in dem Land die Folter nie beendet wurde, dass es politische Gefangene gibt, Madrid sogar einen katalanischen Europaparlamentarier inhaftiert hält, der nach Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) Immunität genießt, war aber kaum etwas anderes als dieses nun verwässerte Ergebnis zu erwarten. Im allgemeinen Geschachere um Milliarden wurde die Rechtsstaatlichkeit wieder einmal geopfert, um eine Einigung zu bekommen.

Und so ist es nun sogar fast erstaunlich, dass sich eine große Mehrheit der Europaparlamentarier findet, die darüber empört ist. In Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit wird im beschlossenen Antrag "zutiefst bedauert", dass der "Europäische Rat die Bemühungen der Kommission und des Parlaments, die Achtung der Rechtsstaatlichkeit, der Grundrechte und der Demokratie im Rahmen des MFR und des Aufbauinstruments der Europäischen Union (Next Generation EU) zu garantieren, nicht hinreichend unterstützt hat". Denn es kam wieder einmal zu einem der üblichen wachsweichen Kompromisse. Der wird in der Praxis jedenfalls in den nächsten Jahren keinerlei Wirkung haben und wird nicht zur Streichung von Geldern bei Verstößen gegen Rechtsstaatsprinzipien führen.

Das geplante Pochen auf das Rechtsstaatsprinzip wurde beim Sondergipfel völlig verwässert. Der Spiegel kommt deshalb zu der Aussage, dass sich zwar wie der Niederländer Mark Rutte einer besonders dafür eingesetzt habe, dass so wenig Geld wie möglich als Zuschüsse an darbende Länder fließe, aber sich niemand gefunden habe, der um sich ernsthaft für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eingesetzt hätte. "Doch niemand hat sich für diese Rolle gefunden. Rutte wollte sie nicht, Kanzlerin Angela Merkel auch nicht."

Eine "Konditionalitätsregelung" zum Schutz des künftigen EU-Haushalts und des Corona-Wiederaufbauplans soll erst irgendwann einmal eingeführt werden. Die Kommission wolle bei Verstößen nur Maßnahmen vorschlagen. Der Spiegel resümiert: "Jetzt findet sich der Mechanismus nicht einmal mehr in abgeschwächter Form im Gipfelergebnis. Er ist komplett verschwunden, vor allem auf Betreiben von Ungarns Regierungschef Viktor Orbán."

Beschlossen werden soll dann irgendwann im Rat der Mitgliedsländer auch über eine Verordnung, die schon seit Mai 2018 auf dem Tisch liegt. Und die sieht vor, dass Maßnahmen nur mit einer qualifizierten Mehrheit verabschiedet werden können. Das bedeutet, dass 15 Länder mit mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung dafür stimmen müssten.

Vor Ungarn und Polen eingeknickt

Dass das sehr schwer wird, ist klar. Für Polen und Ungarn war das schwach genug, weshalb sie dieser schwammigen Lösung zustimmen konnten. Und die wurde zudem noch mit viel Geld erkauft. Das gilt nicht nur im Bereich der Kohle, sondern Polen, das recht unbeschadet durch die Corona-Pandemie kam, soll sogar an vierter Stelle bei der Zuweisung von Geldern aus dem Wiederaufbaufonds sein.

750 Milliarden Euro sollen dazu zusätzlich zum Haushalt in einen Topf geworfen werden. 390 Milliarden sollen nicht rückzahlbare Zuschüsse sein, 360 Milliarden sollen als Kredite vergeben werden, wenn die Länder diese und die damit verbundene verstärkte Kontrolle wollen. Frankreich, das schwer von der Pandemie getroffen wurde, soll nur etwas mehr Geld als Polen erhalten. Die großen Summen entfallen auf Italien und Spanien. Italien erwartet Zuschüsse im Umfang von 81 Milliarden Euro und mögliche Kredite im Umfang von bis zu 128 Milliarden. Spanien erwartet Zuschüsse in der Höhe von knapp 73 Milliarden und dazu kommen mögliche Kredite im Umfang von gut 61 Milliarden.

Zur Frage des Rechtsstaatsprinzips meint die europapolitische Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion deshalb, dass "faktisch die Frage in die Zukunft vertagt" worden sei, die Auszahlung von Geldern an die Einhaltung zu binden. Man habe Ländern wie Ungarn weiterhin ein Vetorecht eingeräumt. "Über die Ausgestaltung, also was wie sanktioniert werden soll, soll der Europäischen Rat entscheiden und dort gilt das Einstimmigkeitsprinzip", erklärte Brantner.

Sie ist sich darin weitgehend einig mit der Vizepräsidentin des Europaparlaments und früheren Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD). Auch sie kritisiert den Beschluss des EU-Gipfels als "enttäuschend vage". Man sei vor Ungarn und Polen eingeknickt, erklärte sie. Allerdings ist sie der Ansicht, "das Schlimme" sei, dass man ist "schon sehr früh eingeknickt" sei. Wieder einmal ist nicht das Umfallen für die SPD das Problem, sondern dafür in den Verhandlungen nicht genug als Gegenleistung rausgeholt zu haben.

Barley ist aber trotz allen der Ansicht, dass zu Rechtsstaatlichkeit "schöne Worte" gesprochen werden, es "aber wahrscheinlich sehr wenig Inhalt" gibt. "Kleinere Länder haben natürlich ihr gutes Recht, ihre Interessen durchzusetzen. Nur man darf sich nicht erpressen lassen von jemandem, der europäische Gelder für ganz andere Zwecke verausgabt, als sie gedacht sind, wie zum Beispiel Viktor Orbán", sagte Barley und deutet an, dass es an der Kontrolle hapern wird.

Interessant ist bei der ehemaligen Justizministerin aber auch die völlige Fixierung auf Ungarn und Polen, als gäbe es undemokratische Vorgänge nicht auch in anderen Ländern. Vom großen Spanien spricht sie jedenfalls nicht, obwohl sie im Rahmen des katalanischen Exil-Präsidenten und seiner verweigerten Auslieferung an Spanien mit hanebüchenen spanischen Vorgängen konfrontiert war (vgl. Justizministerin Barley dementiert ihre Äusserungen zu Puigdemont).

"Wenn wir Rechtsstaatlichkeit, korrekte Mittelverwendung und Korruptionsbekämpfung in Europa nicht sicherstellen, wird die EU als Wertegemeinschaft keinen Bestand haben"

Klar ist, dass "Viktor Orbán gewonnen hat", wie auch die Süddeutsche Zeitung anmerkt, die allerdings ebenfalls über Spanien kein Wort verliert. Dass Merkel der Frage ausweicht, ob in Zukunft EU-Gelder bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit gekürzt werden können, sagt eigentlich schon fast alles. Sie erklärt nur, dass an einem entsprechenden "Rechtsakt jetzt weitergearbeitet werden muss". Nach unbestätigten Berichten soll Merkel ihm besonders weit entgegengekommen sein. Orbán behauptet, die Kanzlerin habe ein Ende des laufenden Rechtsstaatsverfahrens gegen Ungarn angekündigt.

In Ungarn und Polen herrscht Siegesstimmung, in Spanien natürlich auch, was man in Madrid aber nicht zu offen zeigt, wo man ebenfalls an einer Bindung an das Rechtsstaatsprinzip keinerlei Interesse hatte. "Ungarn und Polen ist es nicht nur gelungen, die Zusage für enorme EU‑Gelder für ihre Länder zu erhalten, sie haben auf dem viertägigen EU‑Gipfel in Brüssel auch ihren Nationalstolz geschützt", erklärten Ministerpräsident Viktor Orbán und sein polnischer Amtskollege Mateusz Morawiecki nach den Verhandlungen über den EU‑Haushalt und den Wiederaufbaufonds.

Man darf gespannt sein, ob angesichts großer Worte, die nicht nur von den Grünen und der SPD zur Frage der Rechtsstaatlichkeit kommen, am Ende das Europaparlament dann doch auch wieder mit kleineren Nachbesserungen im Haushalt einknickt und dann ebenfalls das Rechtsstaatsprinzip in den Verhandlungen opfert. Eigentlich sollte das angesichts der harschen Worte und des Inhalts unmöglich sein.

Da aber auch im Parlament alles möglich ist, sollte man sich nach dem Sommer an die Worte von Barley erinnern, die gerade erklärt hat: "Nur in einem funktionierenden Rechtsstaat ist sichergestellt, dass europäische Steuergelder nicht in dubiosen Taschen verschwinden." Sie kündigte an, alles dafür tun, dass es an diesem Punkt Rechtsstaatlichkeit Nachbesserungen gibt.

Und man sollte sich auch an die Worte des CDU-Abgeordneten Daniel Caspary erinnern, der in die gleiche Kerbe schlägt: "Wenn wir Rechtsstaatlichkeit, korrekte Mittelverwendung und Korruptionsbekämpfung in Europa nicht sicherstellen, wird die EU als Wertegemeinschaft keinen Bestand haben", sagte er. Bisher hatte die CDU jedenfalls mit der spanischen Schwesterpartei trotz deren massiven Korruptionsskandalen kein Problem.

Die Volkspartei (PP) hat, so ist längst gerichtsfest, ein "effizientes System institutioneller Korruption" betrieben. Allerdings blickt auch die SPD gerne über die Schwesterpartei in Spanien hinweg, die ebenfalls massive Probleme mit der Korruption hat. Dass sie nicht mal die des Königshauses ermitteln will, sollte Anlass genug sein, auch dieser Truppe stärker auf die Finger zu schauen (vgl. "Raus, raus Du Dieb").

Unklar ist, für welche Projekte Geld ausgegeben wird

Und man sollte sich zudem an die Worte des Vorsitzenden der Fraktion der Volksparteien (EVP) erinnern. Sogar der CSU-Mann Manfred Weber ist alles andere als zufrieden damit, wie die Corona-Hilfsgelder verwendet werden sollen. So ist Weber insbesondere dagegen, dass 90 Prozent der Mittel aus dem Corona-Hilfsfonds direkt in die nationalen Haushalte der EU-Mitgliedstaaten fließen und nicht projektgebunden vergeben werden sollen.

Für das EU-Parlament sei nicht nur die Höhe der Ausgaben entscheidend, sondern es müsse auch klar sein, "für was wir das Geld ausgeben". Wie wäre es, wenn die EU auf den Telepolis-Vorschlag drängt, dass man Hilfsgelder zunächst nur als Kredite vergibt, um sie nach gelungener Durchführung und Erreichung der Ziele in Zuschüsse umzuwandeln, um einen effizienten Einsatz zu gewährleisten?

Und da in vielen Fällen völlig unklar ist, für welche Projekte Geld in diversen Ländern ausgegeben werden soll, würde Weber gerne – ganz der EU-Bürokrat – eine zentrale EU-Agentur einrichten, die die Verwendung der Gelder überprüfen solle: "Es darf keine Korruption geben, es darf nicht in die Schattenwirtschaft gehen und ineffizient verwendet werden." Ob eine EU-Behörde das verhindern kann, ist jedenfalls sehr zweifelhaft. Angesichts der bisherigen Planungen ist davon allerdings ohnehin nichts zu sehen. Es ist sogar höchst zweifelhaft, ob in dieser Richtung etwas passiert.

Klar ist, dass ein Großteil der Zuschüsse – 312,5 der 390  Milliarden Euro – ausgeschüttet werden sollen, um staatliche Investitionen und Reformen zu unterstützen. Die Regierungen sollen entsprechende Pläne und Projekte für die nächsten beiden Jahre vorlegen, man darf gespannt sein. Die Kommission wolle schließlich prüfen, ob darüber das entsprechende Land und die EU vorangebracht werden können.

Vorgesehen ist auch, dass die Regierungen Zwischenziele erreichen sollen. Real blockiert können Auszahlungen aber nicht. Ein Land, das massive Zweifel oder Probleme mit bestimmten Ausgaben hat, kann bei Bedenken nur einen Aufschub einer Auszahlung erzwingen. Dann müssen sich die 27 Staats- und Regierungschefs darüber erneut verständigen. Nach einer Wartezeit von nur drei Monaten kann die EU-Kommission die Gelder aber trotz allem freigeben.

Einen wichtigen Durchbruch konnte die EU-Kommission allerdings im Rahmen der Corona-Hilfen nun erreichen. Erstmals darf die Kommission im Namen der EU nun in nennenswerter Höhe gemeinsame Schulden aufnehmen und erreicht damit eine Quasi-Staatlichkeit. Und das ist eines der Ziele, die im Vordergrund des gesamten Theaters standen, aber kaum benannt wurden. Und zu dieser Quasi-Staatlichkeit gehört eben auch, dass nun durchgesetzt wird, dass sich die EU eigene Einnahmequellen schafft. Dabei darf die EU eigentlich gar keine Steuern und Abgaben erheben, wie Telepolis schon mehrfach ausgeführt hatte.

Frist zur "Rückzahlung" bis 2058

Und wie ebenfalls schon dargelegt, weist die extrem lang gestreckte Frist zur "Rückzahlung" bis 2058 darauf hin, dass an eine reale Rückzahlung ohnehin nicht gedacht wird. Wir haben es vielmehr damit zu tun, den Finanzmärkten und Banken neue Geschäftsfelder zu eröffnen, für die dann bis zum St. Nimmerleinstag Zinsen bezahlt werden müssen.

Wie schon mehrfach ausgeführt, wurden auch Staatsschulden nicht zurückbezahlt, sondern nur immer weiter umgewälzt. Da nur gut 10 Jahre vergangen sind, dass nach Beginn der letzten schweren Krise die nächste noch schwerere aufgebrochen ist, wäre es eigentlich an der Zeit, die Mär von der Rückzahlung der Schulden zu beerdigen.

Es glaubt doch wahrscheinlich in Brüssel niemand ernsthaft, dass mit der geplanten Abgabe auf Plastikmüll ab 2021 und einer Einfuhrgebühr auf Produkte aus Drittstaaten mit geringeren Umweltauflagen ab 2023 diese Schulden abbezahlt werden könnten. Bestenfalls reicht das eher dafür, die Zinsen zu bedienen. Und ob die Ausweitung des Emissionshandels etwa auf Luft‑ und Schifffahrt sowie eine Digitalsteuer dazu ausreichen, darf ebenfalls bezweifelt werden. Diese beiden Maßnahmen werden ohnehin schon lange innerhalb der EU diskutiert und scheiterten bisher immer an Widerständen einzelner Regierungen.

Klar ist, und das ist zum Beispiel auch die Kritik vieler Linken, dass hier zum Teil Gelder einfach nur von einer Tasche in die nächste geschoben werden. Dass der EU-Haushalt insgesamt niedriger ausfällt, weist schon in diese Richtung. Dabei wäre es nun an der Tagesordnung gewesen, dass die Europäische Zentralbank (EZB) endlich damit beginnt, direkt Vorhaben und Firmen zu finanzieren, wie es die Chefin des portugiesischen Linksblocks (BE) im Telepolis-Gespräch gefordert hatte.

Sie hatte zudem darauf hingewiesen, dass die Summe des "Wiederaufbaufonds" für die EU insgesamt niedriger ausfällt, als die Summe, mit der allein Deutschland seine Wirtschaft stützt. Dass mit 750 Milliarden Euro ein durchgreifendes Werkzeug geschaffen wird, um die bevorstehende massive Krise zu bekämpfen, darf nicht erwartet werden.

Catarina Martins hatte dabei auch schon kritisiert, dass vor allem wieder die Finanzmärkte bedient werden, die natürlich ihren Tribut fordern. Durch die danach beschlossene Ausweitung der Kredite von 250 Milliarden Euro auf 360 Milliarden wird dieser Effekt sogar noch stärker. Das ist es, was die sogenannten "sparsamen Vier" erreicht haben. Für eine wahre Solidarität und Demokratisierung haben sie nichts erreicht, genauso wenig wie für ein Umsteuern zu Nachhaltigkeit und Klimaschutz.

Die "Solidarität" der "sparsamen Vier"

Sie sind vor allem solidarisch mit sich selbst, verlangen dabei Sparsamkeit anderen ab. Denn sie ziehen wie die Niederlande über Steuerdumping Firmensitze ins Land. Diese Steuereinnahmen fehlen anderen Ländern. Und es ist ohnehin dramatisch, dass nicht jetzt über eine EU-Fiskalpolitik und ein gemeinsames Vorgehen gegen Steuervermeidung und Steuerhinterziehung gesprochen wurde.

Das ist ganz offensichtlich genauso wenig auf der Tagesordnung der "sparsamen Vier", wie eine reale Demokratisierung. Sie haben vor allem dafür gesorgt, dass von den geplanten Zuschüssen im Umfang von 500 Milliarden nun nur noch 390 Milliarden übriggeblieben sind, womit der Einfluss der Finanzmärkte auf die Politik nicht begrenzt, sondern mit der erhöhten Verschuldung der Staaten sogar noch deutlich ausgeweitet wird.

Von einer langfristigen Planungssicherheit von Staaten, die in der letzten Krise ausgeblutet wurden, ist auch keine Rede. Statt jetzt viel Geld in die Hand zu nehmen, um die EU in Richtung einer demokratischen, transparenten und nachhaltigen Gemeinschaft umzubauen, darf befürchtet werden, dass viel Geld zur Stützung der alten Wirtschaft verschleudert wird und viel Geld vor allem wieder bei den üblichen Verdächtigen landet und wenig davon produktiv eingesetzt wird und zur Verbesserung der Lebensbedingungen der breiten Masse beiträgt.

Und sehr solidarisch ist es auch nicht, dass die Nettozahler aus dem Norden nun auch noch erreichen konnten, dass deren Beitragsrabatte weiter erhöht werden. Diese Rabatte, die man Großbritannien stets als Extrawürste angekreidet hatte, wurden nicht wie geplant abgeschafft, sondern auf fast acht Milliarden Euro pro Jahr ausgeweitet. Und besonders hat sich hier Deutschland bedient. Der Nachlass beträgt nun fast 3,7 Milliarden Euro im Jahr. Österreich steigert seinen Rabatt um fast 140% auf knapp 600 Millionen.

Insgesamt kann man im Fazit Politikern wie Martin Schirdewan zustimmen. Der Ko-Vorsitzender der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) im Europäischen Parlament spricht angesichts der Gipfel-Ergebnisse von einem "schwarzen Tag für Europäische Union" angesichts des Siegs nationaler Egoismen über gemeinsame Interessen. Dass er die aber vor allem bei "nationalstaatlichen Interessen der unsolidarischen Vier" verortet, ist ein Fehler. Das Problem ist, dass viele in dieser EU vor allem ihr nationalstaatliches Süppchen kochen.