Der Prozess des Jahrhunderts: Showdown in Venedig

Seite 2: Wo ist die Gerechtigkeit?

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Im Frühjahr 1955 erklärt Amintore Fanfani, jetzt Generalsekretär, die Umstrukturierung der Democrazia Cristiana für abgeschlossen. Nach der Parteireform, sagt er, könne er sich wieder mehr der Politik widmen. Fanfani sitzt fest im Sattel. Seine Gruppe Iniziativa Democratica arbeitet mit anderen DC-internen Gruppierungen wie der Concentrazione zusammen, der Vertreter des rechten wie des linken Flügels angehören. Am 21. Juni teilt Fanfani Ministerpräsident Scelba mit, dass ihn das Exekutivkomitee der Partei leider nicht mehr unterstützen kann. Am Tag darauf tritt Scelba zurück. Er habe sein Amt nicht durch das Wählervotum verloren, sagt er, sondern durch Intrigen und persönliche Rivalitäten in der DC. Als Strippenzieher im Hintergrund macht der Corriere della Sera Pater Messineo aus, den Chefredakteur der Jesuitenzeitung Civiltà Cattolica. Einige Kommentatoren erinnern daran, dass es zwei für die Civiltà schreibende Patres waren, die Anna Maria Caglio den Termin beim damaligen Innenminister Fanfani besorgt haben.

Nach den Machtkämpfen der vergangenen Jahre sehnt sich die Partei nach Ruhe und innerer Geschlossenheit. Davon profitiert auch der Ex-Außenminister Attilio Piccioni, Fanfanis ehemaliger Rivale, der in die Politik zurückkehrt und seine Karriere in einer Reihe von hohen Ämtern ausklingen lassen darf. In Hintergrundgesprächen wird Scelbas Ablösung als letzter Schritt zur - auch moralischen - Erneuerung der Partei verkauft. Sei es, dass es sich wieder um einen dieser Zufälle handelt, sei es, dass nach der Versöhnung der Lager (mit Scelba als Sündenbock) und der inneren Konsolidierung der DC durch neue Enthüllungen keiner mehr etwas zu gewinnen hat, es aber viel zu verlieren gibt: aus der Montesi-Affäre ist damit die Luft raus. Man weiß es nur noch nicht, als Raffaele Sepe seine seit 16 Monaten andauernden Untersuchungen am 20. Juli 1955 für beendet erklärt.

Dr. Sepe legt der italienischen Öffentlichkeit ein Dokument mit 400 Seiten vor, in denen er zu dem Ergebnis gelangt, dass die Fußbad-Theorie Unsinn ist. Wilma wurde ohnmächtig, vermutlich unter Drogeneinfluss, sexuelle Akte sind trotz ihrer vaginalen Jungfräulichkeit nicht auszuschließen, also sollte sie vielleicht doch vergewaltigt werden. Die Ohnmächtige wurde zum Strand von Torvaianica gebracht und dort abgelegt, wo sie ertrank. Weil es keinen Beweis für eine Mordabsicht gibt, soll die Anklage auf Totschlag lauten. Der Täter, glaubt Sepe, war Piero Piccioni. Montagna hat Beihilfe geleistet. Polito, der Polizeipräsident von Rom, hat beim Vertuschen geholfen. Sepes Dokument nötigt sogar dem kommunistischen Paese Sera Bewunderung ab: "Hier ist der Beweis dafür, dass sich unser Land in Ordnung bringen und die Wunden von zwanzig Jahren Diktatur mit den Mitteln heilen kann, die es bereits besitzt."

Piccioni, Polito und Montagna während des Prozesses

Dann geht wieder Zeit ins Land. Viel Zeit. Seit dem Tod Wilma Montesis sind fast vier Jahre verstrichen, als am 20. Januar 1957 der "Prozess des Jahrhunderts" gegen Piccioni, Montagna und Polito beginnt. Auf Beschluss des Kassationsgerichts wird in Venedig verhandelt, weil das einer der verschlafensten Flecken von Italien ist und in Rom Ausschreitungen befürchtet werden. Angelo Roncalli, der katholische Patriarch von Venedig, hat vergeblich versucht, das Spektakel mit allerlei dubiosen Halbweltfiguren von seiner Stadt fernzuhalten. Seit der Präsentation von Sepes Dokument hat sich die Berichterstattung verändert. Es gibt weiter Artikel in parteipolitisch gebundenen Blättern, aber es dominieren jetzt die zu großen Medienkonglomeraten mit Sitz in Mailand gehörenden, wöchentlich erscheinenden Illustrierten. Sie präsentieren den Fall als einen jener Photoromane, die Wanda in Fellinis Der weiße Scheich so liebt - mit sich selbst spielenden Akteuren, die es jederzeit mit Fernando Rivoli aufnehmen könnten und mit vielen erfundenen Geschichten. Die Darstellung komplexer politischer Zusammenhänge würde der Auflage schaden, mit einem Aufzeigen von Verbindungen zwischen Wirtschaft und organisiertem Verbrechen würde man die Anzeigenkunden verärgern. Aus der Montesi-Affäre ist die Vorläuferin der heutigen Telenovelas geworden.

Silvano Muto hat sein Magazin Attualità eingestellt. "Wo genau ist die Gerechtigkeit?" fragt er frustriert. "Ich habe versucht, den angelsächsischen Journalismus in Italien einzuführen. Dabei habe ich viele unangenehme Fakten über wichtige Persönlichkeiten entdeckt, und im Gegensatz zum normalen italienischen Reporter habe ich diese Tatsachen veröffentlicht; jetzt habe ich viele Feinde. […] die Schreiberlinge, die sich hier Journalisten nennen, werden mich nie bei einer ihrer Zeitungen oder einem ihrer Magazine mitarbeiten lassen. In Italien habe ich keine Zukunft. Meine Hoffnung ist, auswandern und für eine Zeitung in England oder den Vereinigten Staaten arbeiten zu können. Dann kann ich ein echter Journalist sein." Das klingt wehleidig. Ganz unrecht hat Muto aber nicht. Trotz vereinzelter Publikationen in Buch- oder Broschürenform wird es bis ins nächste Jahrtausend dauern, ehe sich italienische Autoren fundiert mit der Affäre beschäftigen. Die Briten sind da viel schneller. 1957 erscheinen The Montesi Scandal von Wayland Young und All Rome Trembled von Melton S. Davis.

Die mediale Auseinandersetzung mit der Montesi-Affäre in Italien ist - wie manche Haupt- oder Nebenfigur der Geschichte auch - ein Produkt der faschistischen Diktatur. Nach Jahrzehnten, in denen nichts berichtet werden durfte, was den Mächtigen peinlich war, brechen mit der toten Schreinerstochter am Strand von Torvaianica alle Dämme. Der Furor, mit dem nun nachgeholt wird, was so lange verboten war, hat die Funktion eines reinigenden Gewitters und legt ein Fundament, auf dem eine nachfolgende Generation von Journalisten aufbauen kann, endet aber zunächst als Strohfeuer. Das Einüben der Regeln einer kritischen Berichterstattung und der journalistischen Sorgfaltspflicht braucht Zeit. Bei der Montesi-Affäre wird viel ausprobiert. Das kann erklären, warum sich auch seriöse Blätter so schwer damit tun, zwischen harter Nachricht, Gerücht und gezielt gestreuter Falschinformation zu unterscheiden. Aber warum ist das bei den Vertretern der Justiz genauso?

Affentheater mit ein wenig Glamour

Mit einer Ausnahme (Adriana Bisaccia reagiert nicht auf die Vorladung) marschieren in Venedig so gut wie alle auf, die Dr. Sepe bei Hunderten von Vernehmungen befragt hat: die Angeklagten, die Angestellten von Capocotta, die Zauberer und die Selbstdarsteller, die Verrückten und die Jesuiten, Piccionis Ärzte und Wilmas Angehörige. Leute, die schon früher gelogen haben, streiten jetzt ab, was in Sepes Protokollen steht, geben widerwillig die alten Lügen zu oder erfinden neue. Einige der Zeugen werden noch im Gericht wegen Meineids festgenommen, im Schnellverfahren zu Haftstrafen verurteilt und früher oder später begnadigt, weil sie widerrufen haben. Michele Simola, ein junger Sizilianer, hat Sepe berichtet, dass Wilma reiche Römer mit Drogenpaketen belieferte, sitzt seither wegen Irreführung der Behörden hinter Gittern und wird in Handschellen vorgeführt, um sich vom Gericht sagen zu lassen, dass er ein dreister Lügner ist. Natalino Del Duca, der Autor von Documenta Zeta, sieht seine Glaubwürdigkeit zerstört, weil herauskommt, dass ihm die Welt die Enthüllungen über Hitler mit Vollbart am Nordpol verdankt. In der Urteilsbegründung des Gerichts wird das viel Platz einnehmen, was man auch nicht recht versteht.

Einmal fährt das Gericht nach Rom, zur Rekonstruktion des möglichen Tathergangs. Am Strand von Torvaianica wird eigentlich nur festgestellt, dass da jetzt viel mehr los ist als 1953, weil eine wichtige Verbindungsstraße für den Verkehr freigegeben wurde. Bei der Ortsbesichtigung in Capocotta bleibt die Frage offen, ob ein Gebäude abgerissen wurde, in dem die Orgien stattgefunden haben könnten oder ob das Gebäude nie existierte. Ein andermal, in Venedig, sitzt der aus Turin angereiste Signore Ceppi vor dem Richter. Niemand weiß, warum er vorgeladen wurde. Schließlich findet man heraus, dass er von Politos Verteidigern als Entlastungszeuge benannt wurde. Also fragt ihn der Richter, ob er Polito kennt. Signore Ceppi sagt aus, dass ihn Polito nach der Befreiung durch die Alliierten verhaften ließ. Nach mehreren Monaten im Gefängnis wurde er entlassen, weil niemals Anklage erhoben oder auch nur das Verbrechen benannt wurde, das er begangen haben sollte. Das wird protokolliert, dann darf der Zeuge nach Hause fahren.

Hier kann man wieder spekulieren. War es ein folgenschwerer, nicht mehr korrigierbarer Fehler, die ganze Angelegenheit in einem Aufwasch erledigen zu wollen, statt die diversen Nebenklagen vom Hauptverfahren abzutrennen (bei einigen der etwa dreißig Advokaten, die für die Angeklagten und die Nebenkläger im engen Gerichtssaal sitzen, weiß man bis zum Schluss nicht so genau, wen sie repräsentieren)? Kam die endlos lange Zeugenliste dadurch zustande, dass sich die Behörden nicht dem Vorwurf aussetzen wollten, dass etwas vertuscht werden sollte? Ist das im Lauf des Prozesses größer und nicht kleiner werdende Durcheinander den Mysterien des italienischen Rechts geschuldet? Oder gibt es geheime Regieanweisungen im Hintergrund, um aus dem "Prozess des Jahrhunderts" ein Affentheater zu machen, das irgendwann keiner mehr sehen will? Falls Ja, ist es gelungen.

Für etwas Glamour sorgt Alida Valli. Sie hat sich vorübergehend ins Privatleben zurückgezogen und überlegt, die Filmkarriere ganz aufzugeben, bis sie von Luchino Visconti eine neue Chance erhielt. In Senso (1954) hat sie die ursprünglich Ingrid Bergman zugedachte Hauptrolle übernommen. Der Film spielt um das Jahr 1866, zur Zeit des Risorgimento, im von den Österreichern besetzten Venedig und erzählt von einer tragisch endenden Mesalliance. Als verheiratete Contessa Livia Serpieri verliebt sich Valli in den liederlichen Leutnant Franz Mahler (Farley Granger), der mit anderen Frauen schläft, unter seltsamen Stimmungsschwankungen leidet, mal nicht ohne die Contessa leben will und sie mal von sich stößt. Der Film ist auch ein Kommentar zu Vallis Affäre mit Piero Piccioni. Man hat den Eindruck, als spiele sie sich eine Last von der Seele. Wenn man sich Piccioni an die Stelle von Leutnant Franz denkt, wird aus der von Visconti als große Oper inszenierten Geschichte ein intimes Kammerspiel.

Senso

In der Wirklichkeit endet die Liebesbeziehung anders als im Film. Valli wirkt nicht glücklich über das, was sie mit Piccioni erlebt hat, bleibt aber bei ihrer Aussage. In der Nacht des 29. April 1953 war Piccioni nicht, wie von Caglio behauptet, mit Montagna im Innenministerium, um einen Plan zur Vertuschung der wahren Umstände von Wilma Montesis Tod zu schmieden, sondern bei ihr, Alida Valli, zuhause. Am 8. April war sie mit Piero auf der Party in Carlo Pontis Villa in Amalfi. Was sie sich dabei dachte, als ihr Liebhaber am Morgen des 9. April, dem Tag von Wilmas Verschwinden, Hals über Kopf abreiste und im Auto nach Rom raste, erfährt man nicht. Jemand wird später durchzählen und herausfinden, dass Alida Valli über hundertmal "Non ricordo" gesagt hat - "Ich erinnere mich nicht." Andere erinnern sich umso besser, sogar an kleinste Details. Mit Hilfe der Ärzte, die sich um Piccioni und seine Mandelentzündung gekümmert haben, gelingt es der Verteidigung, ein praktisch lückenloses Alibi des Angeklagten nachzuweisen - zu lückenlos und zu perfekt, finden einige Skeptiker, gestützt von zu vielen Koryphäen, die scheinbar nichts Wichtigeres zu tun hatten, als Piccionis Mandeln zu begutachten und dem Patienten strikte Bettruhe zu verordnen.

Familie mit Geheimnissen

Anna Maria Caglio, Schwarzer Schwan und Tochter des Jahrhunderts, trägt das Haar jetzt kürzer als 1954. Sie ist schlanker, wirkt zunächst reifer und damenhafter. Bei ihrem ersten Auftritt in Venedig hat sie blond gefärbte Haare, die bis zu einer späteren Zeugenaussage leuchtend rot geworden sind, falls das Rot nicht der Phantasie eines Prozessbeobachters entsprungen ist, von dem etliche Chronisten abgeschrieben haben. Caglio ist weniger bestimmt, fahriger, nicht mehr so überzeugend wie früher, oder zumindest berichten das die Korrespondenten. Die Präzision, mit der sie beim Muto-Prozess aussagte, ist verflogen. Vielleicht hat sie sich zu sehr auf ihr Gedächtnis verlassen (vier Jahre nach der Tat) und es versäumt, sich so gut vorzubereiten wie Piccionis Alibi- und Entlastungszeugen. Vielleicht hat die junge Frau die früher zur Schau gestellte Selbstsicherheit verloren, weil ihr inzwischen klar geworden ist, was für eine Lawine sie da losgetreten hat. Und vielleicht hat sie tatsächlich aus ein paar Fakten und vielen Erfindungen eine wüste Räubergeschichte fabriziert, wie ihr die Anwälte von Piccioni und Montagna vorwerfen.

In jedem Fall wird sie das Opfer einer Dramaturgie, die man miserabel nennen müsste, wenn das ein Film und nicht die Wirklichkeit wäre. Kein Regisseur würde die wichtigste Belastungszeugin irgendwo zwischen Okkultisten, durchgeknallten Pfarrern und Torwächtern von Capocotta auftreten lassen, deren Akzent keiner versteht. Des Glanzes ihrer früheren Darbietungen beraubt wird nun offenbar, dass ihre Einlassungen - mit Ausnahme des Treffens im Innenministerium, und da hat Piccioni in Alida Valli eine Alibizeugin - auf Hörensagen und Deduktionen beruhen. Beim Muto-Prozess spielte das keine Rolle, jetzt aber schon. Nur: Ist die ganze Geschichte deshalb auch erfunden? Der Venedig-Prozess insgesamt leidet unter den Schwächen in der Dramaturgie. Zeuge um Zeuge sagt aus, was seit Sepes Untersuchung bekannt ist und immer wieder breitgetreten wurde. Das langweilt das Publikum.

Neues gibt es erst im April, als plötzlich Wilmas Hinterbliebene im Mittelpunkt des Interesses stehen, nicht mehr die Angeklagten. Sepe hat viel Banales und wenig Sympathisches über die Montesis herausgefunden, die er im Verdacht hat, etwas zu verbergen. In seinem Auftrag wurden Telefonate abgehört, in denen Maria Montesi mit Journalisten über Honorare feilscht und sie drängt, mit ihrem Namen gezeichnete Artikel aufzupeppen. Und dann ist da noch Onkel Giuseppe. Sepe hat ohne Aufforderung einen Polizeibericht erhalten, in dem geraunt wird, dass Giuseppe Montesi in Wilmas Tod verwickelt sein könnte. Dem hat er keinen Glauben geschenkt. Aber für die Verteidiger ist Onkel Giuseppe ein willkommenes Geschenk.

Giuseppe Montesi ist Angestellter im Finanzministerium. Im Nebenjob erledigt er die Buchhaltung einer Druckerei. Sein Alibi bisher: Am 9. April 1953 war er lange in der Druckerei, weil die Lohngelder fällig waren. Den Rest des Abends hat er mit seiner Verlobten Mariella Spissu und einigen ihrer Verwandten verbracht. Allerdings hat Giuseppe 1955 ein paar seiner Arbeitskollegen wegen übler Nachrede verklagt. Diese haben der Polizei und Journalisten gegenüber unter etwas merkwürdigen Umständen behauptet (die Erinnerung kam spät, und der Besitzer der Druckerei kennt Piero Piccioni gut), dass er das Gelände bereits um 5 Uhr verlassen hat, mit seinem Auto und nach dem Anruf einer Frau (fünfzehn bis zwanzig Minuten später ging Wilma aus dem Haus ihrer Eltern).

Ida Montesi, Giuseppe Montesi und Mariella Spissu

Der unerfahrene, von einem Prozess dieser Größenordnung etwas überforderte Staatsanwalt Cesare Palminteri hat Anlaufschwierigkeiten und wirkt dann plötzlich so, als habe er die Seiten gewechselt. Von Palminteri in die Mangel genommen, gibt Maria Montesi zu, was sie unbedingt verbergen wollte: Giuseppe hat Wilma öfter zu Spritztouren in seinem Auto mitgenommen. Der Altersunterschied zwischen den beiden war gering, Giuseppe gibt sich gern als Casanova. Vielleicht hatte Maria Montesi Angst vor Gerüchten über eine Beziehung zwischen Onkel und Nichte. In der Version der Verteidiger hatten Maria und Wanda Montesi den Onkel von Anfang an in Verdacht, wollten das aber nicht eingestehen, um Schande von der Familie abzuwenden. Und Giuseppe? Der bricht unter der Last der Verhöre zusammen und ändert sein Alibi. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit erzählt er dem Gericht, wie es wirklich gewesen ist. Eine Stunde später melden die nach Venedig entsandten Reporter ihren Redaktionen, was er gesagt hat.

Ladykiller

Onkel Giuseppe hat am 9. April 1953 seinen Arbeitsplatz tatsächlich um 5 Uhr verlassen wie von den Arbeitskollegen behauptet. Aber er hat sich nicht mit Wilma getroffen, sondern mit Rossana Spissu, der Schwester seiner Verlobten Mariella. Die beiden haben ein Verhältnis, und Rossana ist inzwischen schwanger, wovon Mariella nichts weiß. Am 9. April waren sie in einem Stundenhotel in der Via Appia. Das ist das Liebesnest, mit dem Giuseppe Bekannten gegenüber geprahlt hat. Rossana fasst sich ein Herz und bestätigt sein revidiertes Alibi. Die neue Wendung schlägt ein wie eine Bombe. Weil man schon dabei ist, wird auch noch durchgestochen, dass die Polizei bei einer Durchsuchung von Giuseppes Zimmer in der Wohnung seines Vaters ein Bild von Wilma, die Mitgliedskarte für einen Privatstrand und Damenunterwäsche gefunden hat, Souvenirs von seinen Eroberungen.

Aus den bisherigen Hassobjekten Piero Piccioni und Ugo Montagna wird das Hassobjekt Giuseppe Montesi. Auch der Rest des Montesi-Clans kriegt sein Fett weg, während die in sehr einfachen Verhältnissen lebenden Spissu-Schwestern als Opfer eines gewissenlosen Frauenverderbers gesehen werden. Die spätere Star-Interviewerin Oriana Fallaci beschreibt den Onkel als "einen jungen Mann mit listigen Augen und Stiernacken, der mit einer Eleganz lebt und sich kleidet, die dem sonntäglichen Glanz eines Jungen ähnelt, der in Trastevere an irgendeiner Ecke steht". In der Presse wird missbilligend vermerkt, dass Onkel Giuseppe gebrauchte Anzüge wegwirft, statt sie aufzutragen und dass er nicht das billigste Fiat-Modell fährt, sondern eines aus der oberen Preisklasse, den Fiat Topolino. Woher, wollen die Kommentatoren wissen, hat er das Geld dafür? "Giuseppe", resümiert Stephen Gundle, "war ein Beispiel wie aus dem Bilderbuch für die Art, wie dem publizierten Hedonismus der Privilegierten von der unteren Mittelschicht nachgeeifert wurde. Jeder wollte seinen Anteil am süßen Leben und ganz besonders Leute mit einem geschärften Bewusstsein für Statusfragen."

Der Eindruck drängt sich auf, dass da einer für etwas geprügelt wird, was viele wollen, sich aber nicht zuzugeben trauen. Der Blick hinter die Fassade der Montesis gibt etwas preis, das man so oder so ähnlich auch in anderen Familien finden könnte. Weil das nicht sein darf, werden sie mit Verachtung gestraft, als wären sie ein Sonderfall. Während das Gericht seine Exkursion nach Torvaianica und Capocotta absolviert, erscheint in der Wochenzeitung L’Espresso ein zweiter offener Brief von Fabrizio Menghini, dem Medienberater der Montesis, an Giuseppe. In den vier Jahren, in denen er sich nun mit dem Fall beschäftigt, schreibt der Journalist, sei er zu der Überzeugung gelangt, dass der Onkel schuldig sei. Auch sein zweites Alibi sei falsch. Er solle gestehen, dass er Wilma am 9. April im Auto zum Strand von Ostia gebracht habe. Was dort geschehen sei, wisse er allein. Ostia gehört eigentlich zur widerlegten Fußbad-Theorie. Vielleicht ist Menghini im Eifer des Gefechts ein Fehler unterlaufen.

Zur Stützung von Menghinis These, denn mehr ist es nicht, bringt sein Kollege Luciano Doddoli neue Zeuginnen an. Signor und Signora Piastra, Bekannte von Rossana Spittu, sagen aus, dass sie mit dieser am 9. April gegen 6 oder 7 Uhr am Bahnhof Termini waren, um gemeinsam Signora Piastras Mutter zu verabschieden. Rossana wird wieder vorgeladen und beharrt darauf, dass sie zu der Zeit mit Giuseppe in dem Stundenhotel in der Via Appia war. Allerdings gibt sie zu, dass sie Giuseppe nicht aus Wahrheitsliebe das Alibi gegeben hat, sondern von ihm zur Aussage gezwungen wurde. In Italien hat ein uneheliches Kind, das der Vater nicht anerkennt, kaum Chancen. Giuseppe hat der von ihm schwangeren Rossana versprochen, dem Kind seinen Namen zu geben - im Austausch für das Alibi. Ob sie deshalb auch gelogen hat, oder ob die neuen Zeugen lügen, oder ob sie sich falsch erinnern, bleibt ungeklärt. Die Piastras legen ein von der Mutter der Signora benütztes Fahrscheinheft vor, das beweist, dass sie am 9. April 1953 tatsächlich in der Stazione Termini den Zug genommen hat. Das sagt zwar gar nichts darüber aus, ob Rossana am Bahnsteig war oder nicht, ist aber etwas Handgreifliches und angesichts der vielen Lügen und Halbwahrheiten in diesem Prozess sehr wirkungsvoll.

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