Der Prozess des Jahrhunderts: Showdown in Venedig

Seite 3: Hormontopf

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Dann haben alle genug von der Montesi-Affäre. Der "Prozess des Jahrhunderts" wird in dem Gefühl beendet, dass er endlos weitergehen könnte und man deshalb lieber Schluss machen sollte. Also rasch die Plädoyers. Einer von Piccionis Verteidigern greift die Jesuiten an, die schuld daran seien, dass Anna Maria Caglio je Glauben geschenkt wurde. Einer der Verteidiger des Marchese zeichnet das Bild eines Märtyrers, der um ein Haar den Ränken einer eifersüchtigen Furie zum Opfer gefallen wäre und malt ihn grellen Farben aus, wie Montagna vor ihm auf die Knie gegangen ist und seine Unschuld beteuert hat. Der alte und gebrechliche Polito ist so überwältigt von den tollen Dingen, die sein Anwalt über ihn zu sagen hat, dass er aus dem Saal geführt werden muss. Aber den Vogel schießt Staatsanwalt Palminteri ab, der die Angeklagten verteidigt und deren Ankläger attackiert.

Caglios Femininität, meint Gundle, die sich beim Muto-Prozess zu ihren Gunsten auswirkte, ist in Venedig zu ihrem großen Manko geworden. Der Staatsanwalt kann sie nicht leiden, beschimpft sie als heimtückische Person, die Spaß daran habe, andere mit Dreck zu bewerfen. Es sei eine Beleidigung der anderen Italienerinnen, erklärt er, Caglio als "Tochter des Jahrhunderts" zu bezeichnen, denn: "Solche Frauen hat es all die Jahrhunderte hindurch gegeben, Frauen, die sich für Geld hingegeben haben." Einer Person wie dieser, der Geliebten von fast jedem und einem "Hormontopf", könne man nicht glauben. Der erfahrene Sepe freilich hat es getan. Gleich nach dem Ende des Prozesses, in dem ausschließlich Männer über die Aussagen einer jungen Frau verhandelt haben, treten in Italien die ersten Richterinnen ihren Dienst an. Auch das gehört mit zur Geschichte.

Anna Maria Caglio

Interessant ist Palminteris Bewertung der Alibis von Piccioni und Onkel Giuseppe. Beide haben zuerst gelogen. Beide haben für das zuletzt präsentierte Alibi fünf Zeugen. Die von Piccioni sind angesehene Mediziner und Freunde der Familie des früheren Außenministers. Die von Giuseppe Montesi wohnen in Blechhütten in einem Elendsviertel von Rom. Piero nutzt eine Wohnung, die Montagna seinem Vater überlassen hat, als kostenloses Liebesnest. Giuseppe prahlt mit einem solchen Liebesnest, geht aber in ein Stundenhotel oder hat Sex im Auto, weil er für mehr kein Geld hat. Piccioni glaubt der Staatsanwalt, Montesi nicht. Vielleicht ist Palminteri überzeugt davon, dass den Angeklagten schweres Unrecht widerfahren ist, will das revidieren und tut dabei des Guten zuviel. Jedenfalls glättet er nach Kräften die Widersprüche, Ausflüchte und Lügen in den Aussagen der Angeklagten, als sei er ihr Verteidiger.

An dem Tag, an dem Palminteri auf Freispruch plädiert, tritt wieder einmal ein Ministerpräsident zurück. In Antonio Segnis Regierungszeit, am 25. März 1957, wurden die Römischen Verträge unterzeichnet, wurde das Fundament für Euro und EU gelegt. Viele haben das gar nicht mitbekommen, weil der Prozess in Venedig die Schlagzeilen beherrschte. Die Regierungen gehen, sagen Spötter, aber die Montesi-Affäre bleibt. Am 28. Mai 1957 zieht sich das Gericht zur Beratung zurück. Nach siebeneinhalb Stunden gibt es ein Urteil. Das Gericht ist überzeugt davon, dass Wilma Montesi Opfer eines Verbrechens geworden ist. Piccioni kann es aber nicht gewesen sein, weil er ein Alibi hat. Ohne ihn als Täter keine Beihilfe durch Montagna und keine Vertuschung durch Polito. Also Freispruch auch für diese - genauso wie für die drei Torwächter von Capocotta, die Sepes Überzeugung nach gelogen haben, um den Marchese, ihren Arbeitgeber, zu decken. Verurteilt wird nur Adriana Bisaccia, die in Venedig nie erschienen ist. Sie wird zu zehn Monaten auf Bewährung verdonnert, weil sie Sepe unter Eid von durch Piccioni erzwungenen Abtreibungen und von zwei Kokainhändlern erzählt hat, die sie in eine Wohnung gesperrt und krankenhausreif geschlagen haben sollen, weil sie die Polizei informieren wollte.

Alles nichts gewesen, meldet der regierungsfreundliche Messaggero: "keine Orgien, kein Mädchenhandel, keine Bootsladungen voller Prostituierter, kein gar nichts". Die Wut eines Teils der Öffentlichkeit richtet sich gegen die Presse, die aus Sensationsgier einen Skandal aufgebauscht habe, wo keiner war. Ein anderer Teil ist frustriert darüber, dass der Prozess nur eine der vielen Fragen rund um das Schicksal der Wilma Montesi beantwortet hat: sie ist am Strand von Torvaianica und nicht von Ostia ertrunken, es war kein Unfall und kein Suizid, und irgendwer ist schuld an ihrem Tod. Das kommunistische Boulevardblatt Paese Sera entschuldigt sich dafür, dass es wohl etwas zu parteiisch war, gibt aber zu bedenken, dass es Anna Maria Caglio, einer jungen Frau von etwas mehr als zwanzig Jahren, gelungen sein müsste, die Jesuiten, den derzeitigen Generalsekretär der Democrazia Cristiana (Fanfani) und die Carabinieri zu täuschen, wenn der Staatsanwalt mit seiner Auffassung recht haben sollte.

Nachspiel

Täglich wird damit gerechnet, dass Onkel Giuseppe verhaftet wird, weil er schuld am Tod seiner Nichte ist. Aber hinter Gittern landet er wegen etwas ganz anderem. Die Klage gegen seine Arbeitskollegen, die angegeben haben, dass er die Druckerei am 9. April 1953 um 5 Uhr verlassen hat, wird zum Bumerang. Wegen Verleumdung seiner Kollegen und seines Arbeitgebers wird er in Einzelhaft gesteckt. Offenbar soll er unter Druck gesetzt werden, um ihm ein Geständnis abzupressen. Das misslingt. Nach 97 Tagen im Gefängnis wird er auf freien Fuß gesetzt. Das Verfahren gegen ihn läuft weiter. Im Dezember 1960 beginnt der Prozess. Einleitend stellt der Richter klar, dass Giuseppe zweifellos in die Ereignisse verwickelt war, die zum Tod seiner Nichte Wilma geführt haben. Er ist zumindest mitschuldig, soll das heißen, aber weil man das nicht beweisen kann, macht man ihm erst mal den Prozess wegen eines angeblich besonders schweren Falles von Rufmord.

Alles konzentriert sich jetzt auf die Montesis. Wilma, führt der Staatsanwalt aus, war ein krankhaft ehrgeiziges junges Mädchen und fasziniert von Autos, "diesen großen Verlockungen der modernen Zivilisation". Ihr Vater hatte eines, musste es aber verkaufen, weil die Schreinerei schlecht lief. Das hat ihm die Tochter nie verziehen, weiß der Staatsanwalt (woher bleibt sein Geheimnis). So ein Auto hätte sie über ihre Freundinnen und die anderen Mieter in der Via Tagliamento erhoben. Dann kam ihr Onkel, der Verführer, mit seinem Fiat. Und so weiter. Während der Verhandlung stellt sich heraus, dass der Onkel einer Mordanklage entgangen ist, weil die Nichte nach Überzeugung des Gerichts in Venedig nicht am 9., sondern am 10. April gestorben ist. An dem Tag hat er mit seinen Verwandten nach Wilma gesucht. Das steht fest.

Das Fahrscheinheft von Signora Piastras Mutter, das in Venedig Giuseppes Alibi erschütterte und als wichtiges Beweismittel gegen Rossana Spissu gewertet wurde, ist inzwischen verloren gegangen. Trotzdem wird Rossana wegen Meineids zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie Giuseppes Alibi Nr. 2 bestätigt hat, das nach Meinung der Staatsanwaltschaft erfunden war. Giuseppe erhält ebenfalls zwei Jahre, wegen Verleumdung. Beide müssen die Strafe nie antreten, weil sie in den Genuss einer routinemäßigen Amnestie kommen. Obwohl sich das Gericht ganz sicher war, dass Onkel Giuseppe in Wilmas Tod verstrickt ist, werden keine weiteren Ermittlungen angestellt. Recherchierenden Journalisten wird bedeutet, dass das Sache der Behörden sei. Einmischung unerwünscht. Reporter können immer noch wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung angeklagt werden, es ist nur nicht mehr ganz so einfach wie bei Muto. Das Knebelgesetz Mussolinis wurde entschärft, nicht abgeschafft.

Rossana Spissu

Die von Ugo Montagna gegen Caglio und Muto angestrengte Verleumdungsklage führt zu einem Prozess, der 1964 endlich stattfinden kann, nachdem er vorher viermal verschoben wurde. Inzwischen interessiert das keinen mehr. Die Richter in Rom widersprechen ihren venezianischen Kollegen und verkünden, dass ein Unfall keineswegs auszuschließen, ja sogar wahrscheinlich sei. Damit sind die Behörden wieder bei der längst verworfenen Fußbad-Theorie angelangt, mit der 1953 alles begonnen hat. Muto wird zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, Caglio zu zwei Jahren und sechs Monaten. Beide gehen durch alle Instanzen, können keine Aufhebung der Urteile erreichen, müssen aber auch nie hinter Gitter. Silvano Muto wandert doch nicht aus, findet jahrelang keine Arbeit und wird in den 1980ern in den Stadtrat von Rom gewählt. Im März 2010 wird Anna Maria Caglio - inzwischen verheiratet, geschieden und Mutter einer Tochter, die wie sie selbst Jura studiert hat (Anna Maria durfte wegen ihrer Vorstrafe nicht praktizieren) - ankündigen, noch einmal gegen das Urteil kämpfen zu wollen. Einem Reporter des Corriere della Sera wird sie ein Buch mit einer Widmung zeigen: der Richter, der sie verurteilt hat, hat es dem Marchese geschenkt.

Onkel Giuseppe lässt sich in den Tagen seines Prozesses mit den Spittu-Schwestern und seinem kleinen Sohn Riccardo photographieren. Er hat sich noch nicht entschieden, welche der Schwestern er heiraten will (die Wahl fällt dann doch auf Mariella, die Verlobte, und nicht auf Rossana, die Mutter seines Sohnes). Der Rest der Montesis will nie mehr mit Reportern sprechen. Mit der Strategie, unter allen Umständen den schönen Schein zu wahren und den Ruf der Familie zu schützen, haben sie das genaue Gegenteil erreicht. Als Piero Piccioni 2004 stirbt, wird sein Beitrag zur italienischen Filmmusik zurecht gewürdigt; manch ein Nachrufschreiber reserviert jedoch einen Absatz oder mehr für seine Rolle in der Montesi-Affäre. Alida Valli sagt nach dem Prozess in Venedig, dass sie sich von ihrem Ex-Geliebten benutzt fühlt. Den Makel, dass sie für ihn gelogen haben könnte, um ihm ein Alibi zu geben, wird sie nie mehr ganz los. Auch bei ihr wird an die Affäre erinnert, als sie 2006 stirbt - es ist nur inzwischen einiges durcheinander geraten wie bei der FAZ.

Ugo Montagna, der Marchese von San Bartolomeo, verschwindet nach und nach aus der Öffentlichkeit, kehrt zu seinen Geschäften und zu seinem Leben in den oberen Rängen der römischen Gesellschaft zurück. Seine steuerliche Belastung ist erträglich, aber doch deutlich höher als zuvor. Der Bericht von Oberst Pompei, dem zufolge er jahrelang gar keine Steuern zahlen musste, hat zu neuen Regelungen beigetragen. Die Montesi-Affäre hat auch zu einer stärkeren Reglementierung des Immobilienmarkts geführt. Es gibt mehr Kontrollen bei der Zuteilung von Bauland. Wer an staatlichen Förderprogrammen partizipieren will, braucht eine notarielle Beglaubigung seiner Integrität. Einen wie den Marchese kann das nicht lange ausgebremst haben. Auf dem Photo, das seine Grabplatte auf dem Flaminio-Friedhof in Rom schmückt (er starb 1990), zeigt er unverdrossen sein Vittorio-De-Sica-Lächeln.

Während die Montesis die Wohnung wechseln, um in der Anonymität zu verschwinden, dürfen sich die Grundstücksbesitzer von Torvaianica über stetig steigende Preise freuen. Mit dem Auffinden von Wilma Montesis Leiche, dem Anbringen eines provisorischen Kreuzes im Wasser und einem geschäftstüchtigen jungen Mann, der am Tor von Capocotta Hot Dogs und Coca Cola verkauft, beginnt dort der Tourismus. Giuseppe Sotgiu, der über einen Sexskandal gestolperte Anwalt von Silvano Muto, setzt als eine seiner letzten Amtshandlungen als Chef der Provinzialverwaltung durch, dass in Torvaianica ein Ferienheim für die Kinder Roms errichtet wird. Als 1954 die Straße zwischen Anzio und Ostia für den Verkehr freigegeben wird, ist der Strand von Rom aus bequem mit dem Auto zu erreichen. Die Entwicklung ist damit nicht mehr aufzuhalten. Überall schießen Wohn- und Wochenendhäuser, Bars, Restaurants und Strandcafés aus dem Boden, mal mit und öfter ohne Baugenehmigung.

Der Strand von Torvaianica - der Ort, an dem Wilma Montesis Leiche gefunden wurde

Viele Römer, die nicht zur Schickeria gehören, kommen durch die häufige Erwähnung der Via Veneto in der Montesi-Berichterstattung auf die Idee, dass sie da auch mal hingehen könnten. In der Straße mit ihren eleganten Cafés und teuren Geschäften drängeln sich die Bürger aus der Mittelschicht neben den Aristokraten und den Starlets, treffen die Selbstdarsteller auf die Voyeure, bald kommen die Touristen, und die Straße ist jetzt so überlaufen wie bei Fellini. Der Corriere d’Informazioni prägt den Begriff "das süße Leben" und ist eines jener am Nachmittag erscheinenden Klatschblätter, für das Marcello und Paparazzo in La dolce vita arbeiten. Die Straße, auf der die Reichen in ihren Luxuskarossen hin und her fahren, wird zur Aufreißmeile Nr. 1 von Rom. Die Hotels in der Via Veneto und um sie herum vermieten ihre Zimmer jetzt auch stundenweise. Anfangs sind Italiens Klatschreporter fast so diskret wie die Hoteliers und üben sich in Euphemismen, aber das US-Magazin Confidential schildert in deutlichen Worten, was in der Via Veneto geboten wird, Italiens Presse zieht bald nach.

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