Der erste Liberale

"Was ist Wahrheit?", Christus und Pilatus. Bild (1890): Nikolai Ge / gemeinfrei

Pontius Pilatus, eine der am meisten verleumdeten historischen Personen der Weltgeschichte, praktiziert jene Diskursbereitschaft und Toleranz, auf die moderne Gesellschaften mit Recht stolz sind

But what is truth? Is truth unchanging law? / We both have truths – are mine the same as yours?

Pontius Pilatus in "Jesus Christ Superstar" (1970)

Pontius Pilatus ist eine der am meisten verleumdeten historischen Personen der Weltgeschichte. Ähnlich wie ein paar andere Gestalten, die eine differenziertere Betrachtung verdienen, wie Nero, Richard III. oder zurzeit gerade Wladimir Putin, hat er in unseren Breitengraden nur wenige Verteidiger oder Menschen, die für ihn Verständnis haben, und Fans gibt es so gut wie gar keine.

Der Einzige, der hier gegen den Strom schwimmt, ist der Philosoph Friedrich Nietzsche. In einer berühmten Passage seines Spätwerks "Der Antichrist" schreibt Nietzsche:

Habe ich noch zu sagen, daß im ganzen Neuen Testament bloß eine einzige Figur vorkommt, die man ehren muß? Pilatus, der römische Statthalter. ... Der vornehme Hohn eines Römers, vor dem ein unverschämter Mißbrauch mit dem Wort 'Wahrheit' getrieben wird, hat das Neue Testament mit dem einzigen Wort bereichert, das Wert hat – das seine Kritik, seine Vernichtung selbst ist: 'Was ist Wahrheit!'"

Friedrich Nietzsche

Hat Pontius Pilatus recht?

Was hat Nietzsche gemeint? Hat Pontius Pilatus recht? War er gar ein anständiger, ehrenwerter Mann? Das Christentum zeichnet Pontius Pilatus normalerweise, wenn nicht als bösen, korrupten Menschen, dann zumindest als eine schwache, traurige Figur, als jemanden, der wider seine besseren Instinkte gehandelt, dem Druck der lokalen Autoritäten und der aufgeheizten Massen nachgegeben und Jesus zum Tode verurteilt hat.

Wenn man an die Göttlichkeit Christi glauben kann, dann ist dieses Pilatus-Bild so ziemlich das Günstigste, das man sich von ihm machen kann.

Aber was ist, wenn man das nicht tut? Wenn man, wie inzwischen über die Hälfte aller Deutschen, nicht glaubt, und wie der überwiegende Teil der Menschheit mit der christlichen Heilsgeschichte bestenfalls eine menschengemachte Mythologie unter vielen sehen kann, die ein paar historische Figuren auftreten lässt, wie den unter Kaiser Tiberius ernannten Präfekten von Judäa, der dort übrigens ungewöhnlich lange – mindestens die zehn Jahre zwischen 26 und 36 n.Chr. – amtierte, was dafür spricht, dass seine Tätigkeit in der notorisch unruhigen Provinz einigermaßen erfolgreich war.

"Seht, welch' ein Mensch!" oder: Die Perspektive des Pilatus

Was also, wenn man seine möglicherweise vorhandenen religiösen Überzeugungen beiseite lässt und versucht, die ganze Geschichte einmal aus der Perspektive von Pilatus zu sehen? Dann ist dieser Jesus Christus nicht der "Sohn Gottes". Er ist nur ein seltsamer, in bürgerlichen Kreisen unbeliebter, bettelarmer, schlecht riechender, zottelbärtiger und auch sonst unzivilisierter Provinzler, der mit seinen seltsamen esoterischen Geschichten Blasphemie übt und die Leute aufwiegelt; und der, soweit man das beurteilen kann, offenbar behauptet, der "König der Juden" zu sein – was den Tatbestand des Hochverrats erfüllte.

Seine jüdischen Landsleute beschuldigen ihn der Gotteslästerung und schreien nach seinem Blut. Aber es ist auch klar, dass hier eine Priesterkaste urteilt, die ganz im Dienst der konservativen Händlerklasse steht und vor allem daran interessiert, das Volk ruhig zu halten und ihre Geschäfte zu machen.

Es ist ebenso klar, dass hier auch ein Kampf der Autoritäten ausgetragen wird: Zwischen der traditionellen Priesterkaste und den zahlreichen neuen Sekten, die sie herausfordern. Einen solchen Konflikt kann man sich als römischer Präfekt durchaus zunutze machen – "divide et impera", teile und herrsche, lautet seit jeher eines der wichtigsten Prinzipien römischer Machtausübung.

Als römischer Statthalter hat man also kühl abzuwägen, zwischen der Möglichkeit, den lokalen Oligarchen das Blutopfer zu geben, das sie möchten, und damit ihre Ansprüche ein wenig still zu stellen, und der Möglichkeit, sie in die Schranken zu weisen, indem man einen Konkurrenten schützt und stärkt.

"Wollt ihr Jesus oder Barabbas?" oder: Die Lust der Massen

Soweit Pilatus im folgenden Verfahren erkennen konnte, hat der im Verhör überaus wortkarge Charismatiker nichts Wichtiges und nach römischem Gesetz Unrechtes getan. Aber die lokale Bevölkerung und ihre Führer sind entschlossen, an diesem Provokateur ein Exempel zu statuieren. Mit seinem hohen Ton, den schönen wohlfeilen Reden und dem unübersehbaren Talent, das nichtsnutzige Pack der Tagelöhner, Hilfsarbeiter und des Rotlichtmilieus mitzureißen, geht er ihnen ungemein auf die Nerven.

Sie drohen Pilatus einen Aufstand anzuzetteln, wenn er am Leben bleibt. Ihn zu verschonen oder ihn zu töten, ist unter den gegebenen Umständen gleichermaßen legal, und obwohl Pilatus erstere Möglichkeit gerechter erscheint, ist Gerechtigkeit ja nicht alles. Es erscheint wichtiger, weiteren Streit und Blutvergießen zu verhindern und die Leute durch ein Bauernopfer zu beschwichtigen. Ganz wohl fühlt sich Pilatus mit dieser pragmatischen Entscheidung nicht wohl.

Darum gibt er den lokalen Behörden jede Chance, ihre Meinung noch zu ändern, und signalisiert durchaus, dass man dem Volk auch durch die Hinrichtung des Mörders und Berufskriminellen Barabbas ein unterhaltsames Spektakel bereiten könnte. Aber sie erweisen sich als stur wie immer, und so ließ Pilatus die Hinrichtung zu, wobei er nochmal öffentlich sehr klarstellte, dass es nicht seine Entscheidung sei, sondern ihre.

"Ich wasche meine Hände in Unschuld" oder: Die Stärke des Souveräns

Indem er also seine Hände in Unschuld wusch, zeigte Pilatus Stärke. Es ist die Stärke des Souveräns, der über dem (lokalen) Gesetz steht, der über seine Geltung oder Außerkraftsetzung entscheidet, das auch hier könnte, dies aber aus Staatsraison unterlässt. Es ist nichts Schwaches daran, etwas Unangenehmes zum Wohle der Allgemeinheit zu tun und in seinem Handeln die wahrscheinlichen Folgen des Missfallens des Volkes zu berücksichtigen.

Genau dies bestätigt auch ein durchaus zugunsten Christus parteiischer Berichterstatter, der Evangelist Markus, der die ganze Sache kommentiert: "Und so ließ Pilatus, der das Volk zufriedenstellen wollte, Barabbas frei und übergab Jesus, nachdem er ihn gegeißelt hatte, um ihn zu kreuzigen."

In den Berichten anderer ist Pilatus weniger ein "williger Vollstrecker", als einer, der sich dem Druck beugt. Dies aber nur, wenn man fälschlicherweise annimmt, dass Duldung immer Unterwerfung oder gar passive Zustimmung bedeutet. Es kann sich auch um herrschaftliche Gleichgültigkeit handeln, besonders wenn die Person, die sie an den Tag legt, viel mehr Macht hat als diejenigen, denen sie sie zeigt.

An dieser Stelle kommt nun wieder Nietzsche ins Spiel.