Der erste Liberale

Seite 6: Der Vorrang der Demokratie über die Philosophie

Darum müsste unser Verhältnis zu dieser historischen Figur, über die wir weitaus mehr und besser informiert sind als über Jesus Christus – über den neuesten Stand der historische Forschung informiert hier verlässlich eine relativ neue britische Dokumentation. Wer kein Englisch versteht, dem muss hier der ZDF-"Faktencheck mit Petra Gerster" genügen –, etwas ganz anderes sein.

Denn Pontius Pilatus war nicht weniger als der erste Liberale.

Er war ein modern denkender, pragmatischer Politiker. Seine Geschichte ist eine Geschichte über genau die Konflikte, denen Handelnde bis heute ausgesetzt sind. Pilatus verdient vielleicht nicht unser Mitleid, aber unsere Neugier und unser Verständnis.

Pontius Pilatus ist ein Liberaler, weil er für die Freiheit von Denken und Meinung, also auch für Redefreiheit eintritt. Weil er in Moral und Wertefragen die Tugend der Gleichgültigkeit an den Tag legt. Er ist ein Liberaler, weil er auch gegenüber dem Überzeugungstäter Jesus Christus Dialogbereitschaft und Toleranz gegenüber Andersdenkenden praktiziert. Weil er bereits vor 2000 Jahren die moderne rechtsstaatliche Überzeugung praktiziert, dass ein Mensch nur durch seine Taten zum Verbrecher wird, nicht durch Weltanschauungen und Meinungen.

Schließlich weil er als einer der Ersten in der Menschheitsgeschichte die moderne Auffassung formuliert, dass Wahrheit ist eine Konstruktion ist. Dass Wahrheit im Auge des Betrachters liegt.

Pontius Pilatus praktiziert genau jene Diskursbereitschaft, Toleranz und weltanschaulichen Skeptizismus, auf die moderne Gesellschaften mit Recht stolz sind. Auch im fundamentalistischen Aufwiegler Jesus sah er eher einen Spinner als einen Verbrecher.

Doch indem er zugleich die letzte Entscheidung über dessen Verurteilung der Volksmasse anheimstellte, gab er ein erstes Beispiel für den "Vorrang der Demokratie über die Philosophie", die der US-Philosoph Richard Rorty für eine wesentliche Errungenschaft unseres Zeitalters ansieht.

Zum Weiterlesen:
Alexander Demandt: "Hände in Unschuld. Pontius Pilatus in der Geschichte". Böhlau Verlag, Köln 1999. 290 Seiten (vergriffen)
Alexander Demandt: "Pontius Pilatus"; Beck Verlag, München 2012. 128 Seiten
Jens Herzer: "Pontius Pilatus. Henker und Heiliger"; EVA, Leipzig 2020; 280 Seiten
Richard Rorty: "Kontingenz, Ironie und Solidarität"; Suhrkamp, Frankfurt 1991