Der erste Liberale

Seite 2: "Was ist Wahrheit?" Oder: Sklavenmoral und Wutbürger

Friedrich Nietzsche prangerte beim Christentum vor allem dessen "Sklavenmoral" an, eine Wendung des Ressentiments der Schwachen gegen die Starken, eine Rache der Niedrigen an den Hohen, die widernatürlich alles Sklavische – Schwäche, Sanftmut, Nachsicht, Gleichgültigkeit gegenüber der Welt – zum "Guten" und alles Herrische – Macht, Stolz, Liebe zum Leben – zum "Bösen" erklärte (vgl. hierzu "Genealogie der Moral", besonders I.Abhandlung, §10).

Pilatus, als römischer Statthalter, ist die Verkörperung der Macht und Vornehmheit. Er möchte zwar nicht, dass Jesus hingerichtet wird, aber es stört ihn auch nicht sonderlich. Er sieht keinen Grund, Jesus hinzurichten, er respektiert ihn sogar. Er ist erstaunt und vielleicht sogar ausreichend angewidert vom unvernünftigen, bigotten Hass des Pöbels, um auf seine eigenen besseren Instinkte zurückzugreifen, aber letztlich findet er, dass es ihn auch nichts angeht, was die Einheimischen einander antun.

Andere Länder, andere Sitten. Er erwartet sowieso nicht, dass sich diese Barbaren und verrückten Monotheisten sonderlich vernünftig verhalten – das tun sie schließlich sonst auch nicht. Deshalb lässt er geschehen, was sie von ihm verlangen. Wenn ihm das Schicksal Jesu wirklich am Herzen gelegen hätte, hätte er darauf bestanden, ihn zu verschonen, und den Mob der Wutbürger krakelen lassen.

Natürlich hatte Pilatus alle Mittel, um seinen Willen durchzusetzen. Er hatte nur nicht den Willen dazu. Verdient er deshalb unsere Achtung? Im Sinne Nietzsches unbedingt, denn für ihn verkörpern die Zivilisierten, Starken das Gute, vor allem wenn sie sich nicht durch Mitleid schwächen lassen, sondern sich von allem Schwachen fernhalten.

Pontius Pilatus' Frage nach der Wahrheit ist natürlich Ausdruck von Skeptizismus und agnostischer Überlegenheit über jene primitive Vorstellung, dass es nur einen, absolut herrschenden Gott geben könnte und nicht einen vielstimmig-diversen Götterhimmel.

Die dahinter stehende Haltung ist aber vor allem eine erzliberale Toleranz gegenüber weltanschaulichen Disputen, die doch eher in den Bereich persönlicher Händel fallen, und die radikal-republikanische, laizistische Überzeugung, einer weltanschaulichen Neutralität von Staat und Verwaltung interpretieren.

Wahr ist, was funktioniert

Das ist überaus modern. In der Gegenwart sind die Idee der Wahrheit und der dahinter liegenden Wahrheitsansprüche philosophisch "kleingeschrieben" (Richard Rorty). Trotz einer gewissen modischen Konjunktur des Begriffs durch das politisch relevant gewordene Thema der "Fake News" und der "Alternativen Wahrheiten" ist es wissenschaftlicher Konsens, dass sich ein wissenschaftlich haltbarer Begriff von Wahrheit nicht denken lässt. Wahr ist, was funktioniert.

Das heißt: Man weiß, wie man ein bemanntes Raumschiff zum Mond schießt und wieder auf die Erde zurückkommen lässt. Man weiß aber auch, dass die dahinterliegenden Theorien eben bloße Theorien sind. Also zum Teil unbewiesene, vielleicht unbeweisbare, jedenfalls noch nicht bewiesene Annahmen sind, und dass das dahinterliegende Weltbild modellbasiert und überaus reduktionistisch ist und zahlreiche entscheidende Fragen offenlässt.

Das bedeutet nicht, dass diese Theorien unwahr sind. Es bedeutet nur, dass das Kriterium Wahrheit hier nicht greift. Und es bedeutet das Wissen, dass selbst manches, was bewiesen werden kann, für das es also einen wissenschaftlichen Beweis gibt, deswegen keineswegs "wahr" ist.

Darauf zielt Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Begriff der Wahrheit, die sich durch sein komplettes Werk zieht. Nietzsche ist kein Gegner der Wissenschaft. Im Gegenteil interessierte und informierte er sich sehr genau über die modernsten Wissenschaften seiner Zeit, insbesondere über die ersten Ansätze zu Psychologie und Psychoanalyse modernen Sinnes, sowie auf die während seiner Lebensspanne modische naturwissenschaftliche Theorie, die Evolutionstheorie und deren Übertragung von der Biologie auf den Bereich des Sozialen und der Kultur.

Gerade diese Wissenschaften führten Nietzsche zu einer grundsätzlichen neuen Weltsicht. Sie basiert auf dem Grundgedanken, alles Existierende, also auch Mythen und Narrative – zu denen er Religionen aller Art ebenso rechnet, wie Weltanschauungen, Werte oder Ideale (wie, in heutigen Begriffen ausgedrückt: Gerechtigkeit, Diversität, Inklusion) – pragmatisch und nicht idealistisch zu betrachten. Das bedeutet, dass alles Existierende auf seinen Nutzen für die Natur, in diesem Fall die Natur des Menschen hin befragt wird. Und befragt werden muss.

Es geht also selbst bei dem Begriff bzw. dem Kriterium der Wahrheit, das bereits eine Art Grundlage des erkenntnistheoretischen Gerüsts darstellt, letzten Endes darum zu fragen, ob Wahrheit nützlich oder schädlich ist? Oder wozu sie nützt? "An sich" ist Wahrheit für Nietzsche, ganz unabhängig von der Frage, ob sie überhaupt "existiert" und ob wir sie finden und bestimmen können, völlig ohne Wert. Sollte es eine erkannte Wahrheit geben, die den Menschen, bzw. der Gattung Mensch, bzw. dem "Leben" schadet, wäre diese Wahrheit nach Nietzsches Ansicht sogar zu bekämpfen.

Aber dies ist alles ist mit Nietzsche gedacht sowieso nur ein theoretisches Modell. Denn Wahrheit im Sinne Nietzsches ist überhaupt nicht an sich, also losgelöst von subjektiven Perspektiven und vor allem losgelöst von Interessen zu denken. Wahrheit ist denkbar nur als Funktion eines triebgestützten Systems von Bedürfnissen. Also als Funktion des einzelnen Menschen oder seiner Gesellschaft oder einer wie immer formierten, zum Beispiel religiös organisierten Gemeinschaft.

Umgekehrt können Irrtümer, also Unwahrheiten, nützlich sein. Wir kleiden sie dann nicht in enttäuschende, pessimistische Begriffe, sondern nennen sie zum Beispiel "Ideen" und "Utopien" (in Wissenschaft und Politik), "Illusionen", "Fiktionen" und "Narrative" (in Ästhetik und Kunst). Ihre Funktion besteht in Komplexitätsreduktion und Leitfunktion, also darin, den Blick auf die Welt zu vereinfachen und zu lenken, also darin, dem menschlichen Leben Kraft und Energie zu geben.

Man kann die Frage des Pilatus durchaus als Ausdruck einer solchen nietzscheanischen Auffassung von Wahrheit verstehen. Auch Pilatus stellt die rigiden Ansprüche einer religiös geprägten Moral oder einer mit Immanuel Kant begründeten Sittenlehre und die entsprechenden traditionalistischen, alteuropäischen (Niklas Luhmann) Wissenschafts- und Erkennstnistheorien infrage. Seine Frage "Was ist Wahrheit?" macht uns in Fragen von Prinzipien und Moral elastisch und anpassungsfähig.

Paradoxien und Widersprüche zwischen Werten sind keine tragischen Verstrickungen und Probleme mehr, die unbedingt gelöst werden müssen. Man muss sie aushalten. Insofern ist Pilatus überaus modern, als dass er das bereits vor fast 2000 Jahren erkennt: "Was ist Wahrheit?" heißt eigentlich: Wahrheit ist in vielen konkreten menschlichen Zusammenhängen unwichtig.

Im Gegenteil: Menschen, die fortwährend durch die Gegend laufen und allen anderen erzählen, dass gerade sie und nur sie die Wahrheit mit Löffeln gefressen und für sich gepachtet haben, und Dinge von sich geben, wie "Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme", zugleich dass ihr Reich nicht von dieser Welt ist, solche Menschen sind mindestens asozial. Wir alle kennen diese "Dreiviertel-Verrückten".

Pilatus banalisiert die Tragik der Existenz dagegen, indem er die Wahrheit banalisiert. Er ist ein Ironiker im Sinne von Richard Rorty.