Der erste Liberale

Seite 4: "Ich finde keine Schuld an ihm" oder: Gegen den Moralismus

Pilatus war zwar kein Postmodernist, sondern ein Römer, trotzdem bleibt es unklar, ob er seine Frage nur als rhetorischen Spott oder resignativ gemeint hatte – das wäre überaus zeitgemäß – oder als eine echte philosophische Frage, die wörtlich gemeint ist – das wäre fast schon frühe Neuzeit – oder vielleicht am ehesten im Sinne des 20.Jahrhunderts.

Als Frage nach der Unterscheidung zwischen "der Wahrheit" und "Wahrheit", zwischen dem, was tatsächlich wahr ist, und den Kriterien, die wir verwenden, um es zu identifizieren, eine Unterscheidung, die Jesus seiner Meinung nach verwischt hatte, die aber in bestimmten philosophischen Schulen seit dem Linguistic Turn (Richard Rorty) als zentral gilt.

Nachdem er seinen Standpunkt durch die ohne Erwartung einer Antwort gestellte Frage dargelegt hatte, hielt er es zweifellos nicht für nötig, die Diskussion fortzusetzen, nicht zuletzt, weil Jesus, wenn man sich in Pilatus' Position versetzt, wie ein beliebiger Fanatiker geklungen haben muss.

Angesichts dieser Tatsache gibt es keinen Grund, ihn für leichtfertig zu halten. Im Gegenteil: Indem er die Frage, ob Jesus die Wahrheit sagt, zugunsten der pragmatischeren, abstrakteren Frage, wie man das herausfinden könnte, übergeht, beweist er erneut seine vornehme Souveränität, und erhebt sich über den banalen Streit der Einheimischen.

Wenn er hinausgeht und dem Wutbürger-Mob deutlich sagt: "Ich finde keine Schuld an ihm", dann bedeutet das natürlich nicht, dass Jesus aus seiner Sicht recht hat, sondern nur, dass Meinungsäußerungen allein kein Verbrechen sind. Derartige Passagen kann man direkt auf heutige Debatten über die Grenzen der Meinungsfreiheit und den Umgang mit Querdenkern übertragen.

Der Querdenker von Galiläa

Irrtum und Esoterik, auch der Glaube an Verschwörungstheorien sind weder verboten, noch ein asoziales Verhalten. Sie sind auch kein Straftatbestand. Bestraft wird man für gesetzeswidrige Handlungen, und die hat der Querdenker Jesus Christus nicht begangen, jedenfalls nicht nach römischem Recht, sondern nur nach den überholten Traditionen der Einheimischen – die einem Präfekten des Imperiums herzlich egal sind.

Dies ist die Antwort auf den von Christen und anderen Sklavenmoralisten gern zu hörenden Einwand, dass Pilatus, wenn er seines Amtes wirklich würdig gewesen wäre, es genutzt hätte, um Gerechtigkeit walten zu lassen.

Wer das behauptet, hat nichts verstanden! Denn die Frage, was ist Wahrheit? Ließe sich selbstverständlich genauso umformulieren in die pragmatisch praktische Frage: Was ist Gerechtigkeit? Auch diese wurde in über 2000 Jahren Moralphilosophie noch nie zureichend beantwortet. Es ist noch nicht mal klar, ob das Ziel menschlichen Handelns überhaupt in Gerechtigkeit liegt, und nicht vielmehr in der Herstellung von Gleichheit oder der von Freiheit oder in der menschlichen Solidarität und Fairness.

Pilatus setzt sich dafür ein, dass Jesus verschont wird. Er beschränkt seinen Einsatz lediglich auf die Sphäre seiner Autorität, auf die Beziehungen zwischen Regierenden und Regierten, im Gegensatz zu den Beziehungen zwischen den Regierten selbst. Es geht hier also auch darum, dass Pilatus einen Sinn für die Grenzen und die Begrenzung der Macht hat.

Seine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die Einheimischen seine Autorität respektieren. Sie liegt nicht darin, ihnen seine Vorstellungen von Gerechtigkeit aufzuzwingen.

Wäre denn das wiederum gerecht? Das ist ein weiterer aktueller Kern der Frage des Pilatus. Christen; Islamisten, amerikanische Neokonservative und deutsche Nationalisten und manche Linke haben absolute Prinzipien, die sie auch auf alle anderen übertragen wollen.

Liberale Skepsis

Im Gegensatz dazu besteht die römische Tradition in einem liberalen Skeptizismus, wie er sich im Denken von Cicero und Seneca ausdrückt. Beide argumentierten, dass abstrakte Prinzipien zu unsicher seien, um das Handeln zu leiten, zu fremd und ungewohnt, um in den neu eroberten Provinzen mit ihren fremdartigen, auf Römer oft bizarr wirkenden Kulturen Zuneigung zu gewinnen. Gewohnheiten, die sich bewährt haben und vertraut sind, seien eine weitaus sicherere Sache. Und Gewohnheiten variieren natürlich von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit, was darauf hinführt, dass unterschiedliche politische Vorgehensweisen für unterschiedliche Völker geeignet sind.

Es spricht viel dafür, dass dies ein Grund für Pilatus' Politik der wohlwollenden Vernachlässigung gewesen ist, einer toleranten Nachsicht des "leben und leben lassen", die eine grundsätzliche Zufriedenheit mit der Welt und die optimistische Bereitschaft zur Toleranz bezeugt, und auf der bis in die Gegenwart anhaltende Erfolg des römischen Herrschafts- und Gesellschaftsmodells und des Römischen Rechts beruht.

Pilatus ist Rationalist. Er überprüft, fragt nach und bildet sich sein eigenes Urteil. Dieser moderne liberale Skeptizismus trägt auch dazu bei, die mögliche Empörung zu lindern, die manche von uns modernen (oder modischen) Postimperialisten angesichts der Gleichgültigkeit von Pilatus gegenüber lokalen Empfindlichkeiten empfinden mögen. Denn wenn er ein Imperialist war, dann war er ein Imperialist der bestmöglichen Art - einer, der sich nur dort einmischte, wo es unumgänglich war.

Pontius Pilatus hat aus der leidigen Angelegenheit um den Aufrührer Jesus Christus das Beste gemacht.