Der erste Liberale

Seite 3: Verachtung für religiösen Fundamentalismus

Man muss jedoch nicht unbedingt überzeugter Nietzscheaner sein, um in der olympischen Heiterkeit des Pilatus, seiner kolonialen Gelassenheit und seiner souveränen Verachtung für religiösen Fundamentalismus, die Traditionen und Überlieferungen lokaler Kulturen und die Empörungsbereitschaft der niederen Stände gewisse Tugenden und ein fortgeschrittenes modernes Bewusstsein zu erkennen.

Stellen wir uns im Gegensatz dazu eine Mutter vor, der sich in die Streitereien ihrer Kinder einmischt und Partei ergreift – würde sie nicht damit aus der Rolle fallen, den Respekt der Kinder verlieren und ihre Position nachhaltig schädigen? Ein kaiserlicher Statthalter hat eine noch viel höhere, unbestreitbare, durch Recht und Macht gestützte Autorität: Indem er es unterlässt, persönlichen Vorlieben für Einheimische kraft seiner Autorität Lauf zu lassen, stärkt er diese Position und vermeidet es, sein Amt zu einem persönlichen Vehikel zu degradieren.

Er handelt vernünftig, akzeptiert die rechtsstaatlich gesetzten Grenzen der Macht ebenso wie die Privilegien, die er genießt, und bestätigt sie gerade damit und erweist sich damit ihrer würdig. Und dies – einer hohen Position würdig zu sein – ist die ursprüngliche Bedeutung der von Nietzsche gegen die Sklavenmoral ins Feld geführten "Vornehmheit" ("Jenseits von Gut und Böse"; Neuntes Hauptstück).

In diesem Licht müssen wir die berühmte Frage des Pilatus "Was ist Wahrheit?" verstehen. Der Evangelist Johannes schildert sie eher als eine flapsige, spöttische Bemerkung, geäußert aus überlegener, höherer Position denn als eine echte Frage:

"Dazu bin ich geboren und dazu bin ich in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der in der Wahrheit ist, hört meine Stimme. Pilatus spricht zu ihm: Was ist Wahrheit?"

Verständigungsprobleme oder: Πόντιος Πιλάτος & ܝܶܫܘܽܥ ܡܫܺܝܚܳܐ

Wie haben sich die beiden eigentlich verständigt? Pilatus sprach Latein und Griechisch, aber nicht aramäisch, die Sprache von Christus. Und Christus war ungebildet. Er sprach nicht Griechisch oder Latein. Das macht klar, dass das angebliche Treffen zwischen Pilatus und Christus höchstwahrscheinlich eine nachträgliche Konstruktion von interessierter Seite war.

Umso interessanter, dass hier, von christlich-interessierter Seite der zentrale Satz der Pilatus-Geschichte steht: "Was ist Wahrheit?" Dieser Ausdruck, die komplette Relativierung von Wahrheit und allen Geltungsansprüchen, steht deshalb problemlos in der Bibel – obwohl ihn, erinnern wir uns, Nietzsche das "einzige Wort, das Wert hat, das seine Kritik, seine Vernichtung selbst ist" nennt –, weil er schon für früheste Christen, also für philosophisch ungebildete, des Lesens unkundige, jederzeit zum Selbstmord ("Marthyrium") bereite Unterklassen, komplett unbegreiflich war, und nur als Machtzynismus verstanden werden konnte, nicht als Äußerung eines aufgeklärten Geistes.

Christen und andere gläubige Anhänger einer Religion konnten und können genau genommen bis heute nicht denken, dass die Wahrheit relativ ist, und dass jemand sich für Wahrheit gar nicht interessieren könnte. Dass jemand tolerant gegenüber widersprüchlichen Ansichten sein könnte.