Despot von Gottes Gnaden

Seite 2: Echoraum

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Mitunter frage ich mich, ob die Aufklärung in den ländlichen Gebieten der USA besser vorangekommen wäre, wenn es nicht den von 1930 bis in die 1960er Jahre hinein geltenden (und danach weiter wirksamen) Production Code gegeben hätte, also einen von erzkonservativen Katholiken formulierten und von reaktionären Protestanten gebilligten Moralkodex, der in Hollywoodfilmen alles verbot, was nicht in ein extrem verengtes "christliches" Weltbild passte? Der Code erschuf nicht etwa eine ideale Welt auf der Leinwand, sondern trug zu dem bei, was Hannah Arendt die "Entwirklichung" genannt hat, indem alles aus dieser Welt verbannt wurde, was für konservative Christen Sünde war.

Für Leute wie mich ist der vom Jesuitenpater Daniel A. Lord aufgeschriebene Kodex eine durchaus lustvolle Angelegenheit. Mir bereitet es ein intellektuelles Vergnügen, im Nachhinein zu entdecken, wie es Regisseuren, Drehbuchautoren und Produzenten gelungen ist, die Zensur auszutricksen und Dinge zu sagen oder zu zeigen, die weder gesagt noch gezeigt werden durften. Aber was ist mit Zuschauern, denen für so etwas das Sensorium fehlt, weil beispielsweise die Homosexualität in ihren Denkmustern nicht vorkommt, oder wenn doch, dann nur als Sünde oder - entgegen aller Evidenz - als etwas Widernatürliches?

Seit dem Aufstieg der Populisten und der Hassprediger ist viel vom Internet als einem Echoraum die Rede, in dem der besorgte Bürger seine eigenen Meinungen und Vorurteile gespiegelt findet und ihm ein Instrumentarium zur Festigung seines geschlossenen Weltbildes (also das Vorantreiben der Entwirklichung) zur Verfügung gestellt wird. Was, wenn bereits der Production Code einen Echoraum für Scheinheiligkeit und Intoleranz geschaffen hätte, mit Ausbruchsmöglichkeiten, die je nach Zuschauer mal mehr, mal weniger oder gar nicht wahrgenommen wurden? Auch deshalb sind die Filme aus der ersten Hälfte der 1930er, als der Code mit zunehmender Rigidität durchgesetzt wurde, heute wieder so interessant.

In der aufgeheizten Stimmung, die derzeit in den Vereinigten Staaten herrscht, wird von einigen Kommentatoren bereits das Gespenst eines Attentats an die Wand gemalt. Jemand könnte auf Donald Trump schießen, wie weiland Lee Harvey Oswald oder wer auch immer auf John F. Kennedy schoss. Sollte es dazu kommen oder - weit weniger dramatisch - der Präsident nach ersten Misserfolgen den Spaß am neuen Amt verlieren, säße plötzlich Mike Pence im Weißen Haus, nachdem er bereits jetzt kräftig bei der Zusammenstellung des Kabinetts und der Besetzung hoher Regierungsposten mitmischt.

Der President-elect mag ein ideologiefreier Selbstvermarkter und Egomane sein. Sein Vizepräsident ist es nicht. So weit wie in Gabriel Over the White House wird es weder unter Trump noch unter Pence kommen. Trotzdem kann einen ein eher mulmiges als religiöses Gefühl beschleichen, wenn man an diesen alten Film von 1933 denkt und dabei überlegt, was schon einmal alles mit dem wahren Christentum und der göttlichen Sendung gerechtfertigt wurde, weil die Zeit dafür günstig war und es eine Stimmung gab, die nach dem starken Mann und den einfachen Lösungen der Rechtspopulisten verlangte.

Kurze Hosen in Athen

Louis B. Mayer geriet stark unter Druck, nachdem Will Hays dem in der Hierarchie über ihm stehenden Nicholas Schenck und dem Vorstand der Produzentenvereinigung kundgetan hatte, was er von Gabriel Over the White House hielt. Er flüchtete sich nun in die Ausrede, dass es sich nur um eine vorläufige Fassung gehandelt habe, die selbstverständlich nicht so bleiben werde. Wanger brauchte einen knappen Monat, um den Film so zu bearbeiten, dass Dr. Wingate vom Hays Office sich erfreut zeigte, weil nun alle Probleme mit Zensur und Production Code gelöst seien. Tatsächlich wurde die neue Version von den Zensurbehörden der einzelnen Bundesstaaten und auf lokaler Ebene mit kleineren Schnittauflagen durchgewinkt.

Nachdrehs und Montage hatten zusätzliche 30.000 Dollar gekostet, ohne dass sich etwas Prinzipielles geändert hätte. Einiges ist jetzt nur weniger deutlich als zuvor. Schon aus dramaturgischen Gründen musste ein eklatanter Unterschied zwischen der US-Regierung vor und nach der göttlichen Botschaft bestehen. Auch wenn man weiß, dass sich der von der Filmindustrie bezahlte Will Hays dieser Einsicht nicht verschließen konnte, ist man doch erstaunt darüber, was alles möglich war, nachdem Hays mehr Weisheit und Pflichterfüllung und weniger Kindereien eingefordert hatte.

Gabriel Over the White House

Hammond durfte sich mit seinen Ministern nicht mehr zur Pokerrunde treffen, doch die erste Kabinettssitzung findet noch immer in zwangloser Atmosphäre statt. Parteifreund Hargreaves, sagt einer von den neu bestallten Würdenträgern, ist ziemlich sauer, weil er keinen Posten abbekommen hat. "Was schlägst du vor?", fragt der Präsident. "Botschafter in Griechenland", sagt der Minister. "Mir recht, wenn es den Boys auch recht ist", sagt der Präsident. Die Boys aus dem Kabinett haben nichts dagegen. Hammond unterschreibt die Ernennungsurkunde.

"Auch eine Möglichkeit, ihn loszuwerden", meint er. "Hoffentlich hat er schöne Beine. Wenn nicht sieht er bestimmt lustig aus in den kurzen Hosen, die sie dort tragen müssen, wenn sie bei Hof erscheinen." Das findet nicht nur der Präsident zum Schreien komisch. Solche Respektlosigkeiten - mehr gegenüber der eigenen Regierung als den Griechen gegenüber - sollte es im amerikanischen Film bald nicht mehr geben. Ein Präsident, der anderen Ländern und Kulturen mit der Verachtung des engstirnigen Provinzlers begegnet, war vom Production Code verboten.

Einem von Hays’ Gutachtern platzte bei der Lektüre des Drehbuchs der Kragen. Er sagte voraus, dass der Film überall für eine antiamerikanische Stimmung sorgen werde und hielt es für "verdammt unverschämt, so etwas in einen unserer Filme zu tun" und gleichzeitig die US-Botschaften in anderen Ländern zu bitten, "herumzujammern bis zum Gehtnichtmehr, wenn wir nicht bevorzugt behandelt werden". Der Witz mit den kurzen Hosen blieb drin. Hargreaves wird jetzt aber nach Athen abgeschoben und nicht, wie ursprünglich, nach London. Ärger mit den Briten war schlecht. Beleidigte Griechen waren nicht so wichtig.

Offener Brief an Amerika

Ein Präsident muss auch mal Dokumente unterzeichnen. Jud Hammond sitzt im Oval Office, hört Musik und findet es komisch, dass er mit der Feder, mit der Abraham Lincoln einst die Sklaven befreite, den Beschluss zum Bau eines Abwassersystems in Puerto Rico unterschreibt. Wahrscheinlich weiß er gar nicht, wo Puerto Rico liegt. Kurz davor, bei der ersten Pressekonferenz im Weißen Haus, hat ihn sein Sekretär vor einer Blamage bewahrt. Beekman überspielt da sehr geschickt, dass der Präsident nicht weiß, wie der Führer von einer Million Arbeitslosen heißt (John Bronson), die ihre Wohnung verloren haben und in öffentlichen Parks campieren müssen.

Gabriel Over the White House

Die Lage von Puerto Rico gehörte zum erweiterten Allgemeinwissen, seit Herbert Hoover (als zweiter US-Präsident nach Theodore Roosevelt 25 Jahre davor) im März 1931 das Land besucht hatte, das 1898, im Spanisch-Amerikanischen Krieg, von den Vereinigten Staaten besetzt und dann deren "Außengebiet" oder "Territory" wurde. Zur Zeit von Gabriel Over the White House galt es als ausgemacht, dass Hearst mit der Hetze in seinen Revolverblättern der entscheidende Kriegstreiber gewesen war, ohne den es den Spanisch-Amerikanischen Krieg vermutlich nie gegeben hätte (heutige Historiker zeichnen ein differenzierteres Bild).

Das von Präsident Hammond unterzeichnete Kanalisations-Dokument kann man also als Spitze gegen Hearst verstehen, oder meinetwegen auch als Schmeichelei. Erst sorgt der König der Hetzkampagnen dafür, dass Puerto Rico erobert wird, und keine 35 Jahre später kriegen die Leute da auch schon einen Abwasserkanal. Mit Lincolns Feder, meint Pendie, könnte der Präsident große Dinge tun. "Ich fürchte, du bist eine Idealistin", antwortet Jud. "Die Partei hat einen Plan. Und ich bin nur ein Mitglied der Partei." Das ist praktisch, weil Hammond sein Detektivmagazin mehr am Herzen liegt als sein Volk. Der Kriegsminister soll ein Flugzeug nach New York schicken, damit er nicht zu lange auf die neueste Ausgabe warten muss. Wozu ist man schließlich Präsident?

Gabriel Over the White House

Nachdem Hammond seine Pflicht als Dokumentenunterschreiber erledigt hat wird die Tanzmusik unterbrochen. Das Radio bringt eine Live-Übertragung aus dem New Yorker Central Park. Im Namen der Arbeitslosen verliest John Bronson einen "Offenen Brief an Amerika". Der Präsident hört gar nicht hin, weil er jetzt mit seinem Neffen Jimmy "Schatzsuche" spielt und mit Sebastian, dem schwarzen Butler, darüber reden muss, welchen Mantel er anziehen soll, wenn er das Weiße Haus verlässt. Die Szene kontrastiert Hammonds private Zufriedenheit (Bild) mit dem Elend der Obdachlosen (Ton). Das sind zwei komplett getrennte Welten.

LaCava überfrachtet die häusliche Idylle mit dem liebevollen Onkel und seinem süßen Neffen so sehr mit Aktion, Dialog und Geräuschen, dass der Führer der hungernden Arbeitslosen fast darin untergeht und zwischendurch nicht mehr zu hören ist. Das ist kein plattes Agitprop-Theater, sondern sehr gut inszeniert. Sehr böse ist es auch. Im Radio fragt Bronson den Präsidenten, ob er schon mal die Verfassung gelesen hat, die dem amerikanischen Volk das Recht auf Leben, Freiheit, Besitz und das Streben nach Glück garantiere. Der Präsident kriegt es nicht mit, weil er gerade mit Jimmy auf dem Teppich herumtollt. Im Hintergrund steht eine Lincoln-Büste.

Make America white again

Bronson spricht von der Demokratie und von den Freiheitsrechten, die den amerikanischen Bürgern durch die Verfassung garantiert werden. Der Präsident krabbelt noch immer auf dem Teppich herum und hört wieder nicht hin, Gregory LaCava aber schon. In seinen Filmen tauchen regelmäßig die Angehörigen ethnischer Minderheiten auf, oft in einem gesellschaftskritischen Kontext. Man sollte da keine flammenden Reden über Emanzipation und Rassismus erwarten, weil das sowohl die Bewahrer des Production Code als auch die um ihre Geschäfte besorgten Studiobosse sofort unterbunden hätten.

Mischa Auer als anklagender Reporter empört sich in Gabriel Over the White House über das Elend der Arbeitslosen. Dann sieht man aber nur Weiße, die für ihre Rechte und ein besseres Leben marschieren - und eine kurze Einstellung mit einem schwarzen Komparsen, die der Regisseur mit Hilfe seines Cutters eingeschmuggelt hat. Meistens bei LaCava sind es kleine subversive Elemente, die gleich wieder vorbei sind und doch herausragen, weil sie im Hollywoodfilm der 1930er so selten sind.

Gabriel Over the White House

Im Radio spricht Bronson über das "Vertrauen in die amerikanische Demokratie". Wie aufs Stichwort kommt Sebastian herein, der schwarze Butler. Vom linken Bildrand aus schaut die Lincoln-Statue dabei zu, wie Sebastian einen Diener macht und fragt, welchen Mantel er für die Fahrt zur Marineakademie in Annapolis bringen darf. Annapolis ist gut gewählt. Die Hafenstadt war lange Zeit ein Zentrum des Sklavenhandels. Im Bürgerkrieg gab es dort ein großes Gefangenenlager. LaCavas Inszenierung, verbunden mit dem "Vertrauen in die amerikanische Demokratie" auf der Tonspur, stellt die Verbindung zur Gegenwart her.

Gabriel Over the White House

Beinahe 70 Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs sind die Nachkommen der Sklaven bestenfalls die Butler, die den Weißen den Mantel holen dürfen. Seit dem Wahlsieg von Donald Trump ist die Frage wieder aktuell, wie weit die USA inzwischen gekommen sind. Es waren beileibe nicht nur Rassisten, die ihm ihre Stimme gegeben haben. Das Wahlergebnis bestätigt aber die Befürchtung, dass es eine signifikante Zahl von Amerikanern gibt, für die die vergangenen acht Jahre eine Demütigung waren, weil da ein Mann Präsident im Weißen Haus war, der im Weltbild der Rassisten nur einer von den Dienstboten sein dürfte. Trumps Slogan "Make America great again" haben sie so verstanden: "Make America white again".

Ausgehend von Jud Hammonds schwarzem Butler ließe sich eine Geschichte der Diskriminierung ethnischer Minderheiten im Hollywoodfilm erzählen, die das kulturelle Bewusstsein viel nachhaltiger geprägt hat, als es acht Jahre mit einem schwarzen Präsidenten je könnten. Als Butler ist John Larkin zu sehen. Namentlich genannt wurde er nicht - so wie bei gut drei Vierteln seiner rund 50 Kinorollen. Schwarze Darsteller wurden am liebsten als komische, etwas dämliche Figuren eingesetzt und waren generell nicht so wichtig.

Leider ist dem sich liberal gebenden Hollywood unserer Tage als Wiedergutmachung für die jahrzehntelange Diskriminierung nichts Klügeres eingefallen als ein überwiegend quantitativ (und nicht qualitativ) ausgerichteter Diversifizierungszwang. Jede Postkutsche, jedes Raumschiff, jedes Großraumbüro und jedes Eingreifteam sind mittlerweile in den Farben des Regenbogens besetzt. Das ist erfreulich bunt und abwechslungsreich, aber auch genau jene Art von politischer Korrektheit in Form einer Abhakliste, die es den Rechtspopulisten so leicht macht, zum Sturm auf die multikulturelle Gesellschaft zu blasen.

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