Deutschland muss klimaneutral werden: Was heißt das konkret?

Symbolbild: Gerd Altmann / Pixabay Licence

Deutschland hat sich verpflichtet, bis 2045 klimaneutral zu werden. Ist das etwas anderes als CO2-neutral? Und kann es funktionieren? Ein Überblick.

"Wir haben uns verpflichtet: Bis 2045 muss Deutschland klimaneutral sein." Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wird nicht müde, dieses politische Ziel neu und neu und dann noch einmal neu zu formulieren.

Zuletzt erklärte der Regierungschef Ende April beim Petersberger Klimadialog, einem informellen Treffen von 40 Staaten, die sich selbst als "Klimaschützer" sehen, in Berlin: "So wie Deutschland wird jedes Ihrer Länder seinen eigenen Pfad in Richtung Klimaneutralität gehen." Als ob die Bundesrepublik ihrem Ziel quasi schon ganz nahe sei.

Aber kann das tatsächlich gelingen? Das wiedervereinigte Deutschland war 1990 für 1.248 Millionen Tonnen Treibhausgase verantwortlich, nach vorläufigen Daten sank Deutschlands Treibhausgaslast im Jahr 2023 auf 673 Millionen Tonnen.

Das ist eine Reduktion von 54 Prozent unter das Niveau von 1990 – in 33 Jahren. Beschlusslage nicht erst der Scholz-Regierung ist, dass Deutschland im Jahr 2045 klimaneutral sein wird, also in 21 Jahren nicht mehr zum menschengemachten Klimawandel beiträgt. Es fehlen 46 Prozent Reduktion, aber die sogenannten "low hanging fruits" – also die einfachsten Schritte wie den Ausbau der Erneuerbaren Energien – die sind bereits abgeerntet.

Erste Klima-Herausforderung: Lebensmittelproduktion

Wissen Kanzler Scholz, sein Vize Robert Habeck (Bündnisgrüne) oder die FDP eigentlich, was "klimaneutral" bedeutet? Schließlich wollen die Deutschen auch 2045 noch irgendetwas essen.

Bei der Produktion von Lebensmitteln fallen aber sehr viele Emissionen an, aktuell sind es um die 60 Millionen Tonnen pro Jahr allein in diesem Land. Düngen, Tierhaltung, Bodenbearbeitung – in der Landwirtschaft entstehen Treibhausgase, die unvermeidbar sind.

Zementherstellung: Klimakiller im Bausektor?

Genauso wie auf dem Bau. Die Zementherstellung ist einer der emissionsreichsten Industrieprozesse: In der Bundesrepublik werden jährlich 27,5 Millionen Tonnen Zement verbaut, was zu 25 Millionen Tonnen Treibhausgas führt.

"Wir müssen aufhören, mit Beton zu arbeiten oder das bei der Herstellung entstehende Kohlendioxid wird Teil einer Kreislaufwirtschaft", sagt Klimaforscher Mojib Latif, der schon seit den 1980er-Jahren über den Klimawandel aufklärt.

Das aber bedeute eine Revolution im Bausektor: Hochhäuser, Brücken, Windradtürme werden schon aus Holz gebaut, schwieriger wird es bei Tunneln, Eisenbahnschwellen oder Straßen.

Klimaforscher hält Revolution im Bau für nötig

"Jedenfalls muss die Revolution im Bau bald kommen", fordert Latif. Brücken aus Beton müssen irgendwann genauso wie Straßen aus Beton repariert werden – mit Beton. Latif: "Die herkömmliche Zementherstellung können wir uns in einem klimaneutralen Deutschland nicht mehr leisten."

"Wir müssen die Moore wiedervernässen", sagt Annie Wojatschke, Moormanagerin der Stadt Greifswald. Die Torfschichten der Moore enthalten gigantische Mengen an Kohlenstoff. Jahrhunderte lang galt es als Kulturleistung, sie trockenzulegen, leider werden dabei aber sehr viele Treibhausgase freigesetzt.

"Ungefähr 30 Prozent aller Treibhausgase kommen in Mecklenburg-Vorpommern aus den Mooren", so Wojatschke. Damit ist nicht die Industrie, der Energiesektor oder der Verkehr der schlimmste Klimasünder im deutschen Nordosten, sondern es sind die trockengelegten Moore. Auch in Niedersachsen, Brandenburg, Bayern und Schleswig-Holstein schlagen trocken gelegte Moore als Treibhausgas-Quelle zu Buche: Sie sind für mehr als 48 Millionen Tonnen Kohlendioxidäquivalent verantwortlich.

Denkbar wären Aufforstung und CCS

60 Millionen Tonnen Treibhausgase aus der Landwirtschaft, 25 Millionen aus dem Bau, 48 Millionen Ausgasung der Moore: Das entspricht etwa 25 Prozent der aktuellen deutschen Treibhausgasproduktion.

Um wirklich klimaneutral zu werden, müssen diese Emissionen an anderer Stelle wieder eingespart werden. Was theoretisch tatsächlich auf zwei Wegen machbar ist: einem natürlichen und einem technischen.

Der natürliche bedeutet in erster Linie "Aufforstung". Bäume wandeln durch die Photosynthese das Treibhausgas Kohlendioxid in Holz um und speichern es so.

Kranke Bäume setzen Kohlendioxid frei

Allerdings ist diese Methode umstritten, seit die sommerlichen Dürren immer mehr Waldbrände hervorrufen und auch den deutschen Wald in die Mangel nehmen: Der jüngste Waldzustandsbericht ergab, dass der Klimawandel bereits jetzt 80 Prozent aller hiesigen Bäume geschädigt hat. Kranke Bäume setzen aber jenes Kohlendioxid wieder frei, das sie zuvor aus der Atmosphäre gefiltert hatten.

Nicht nur in Deutschland: Wissenschaftler des Atmosphärenüberwachungsdienstes Copernicus bilanzierten die Auswirkungen der Waldbrandsaison des Jahres 2021 auf der Nordhalbkugel: Zusätzlich gelangten damals 6,45 Milliarden Tonnen Kohlendioxid in die Atmosphäre.

Das ist fast doppelt so viel, wie die Staaten der EU in einem Jahr insgesamt ausstoßen. Aufforsten ist also keine sicherere Methode. Bleibt der technische Weg: Es gibt Technologien, die der Atmosphäre Treibhausgase wieder entziehen und dann im Boden zu lagern.

CCS-Technologie: Habeck hält sie für unverzichtbar

Beispielsweise das Verfahren "carbon dioxide capture and storage" – abgekürzt CCS: Mittels chemischer Absorber wird Kohlendioxid direkt aus der Luft oder aus Industrieabgasen gefiltert, verflüssigt und dann in poröse Gesteinsschichten im Erduntergrund verpresst.

Tatsächlich hält Vizekanzler Robert Habeck die umstrittene Technologie für unerlässlich. Experten allerdings warnen. "CCS braucht sehr viel Energie und ist sehr teuer", sagt Klimaforscher Mojib Latif. Zuletzt wurden pro Tonnen Kohlendioxid 550 Euro kalkuliert, die Verpressung noch nicht eingerechnet.

Eine Kompensation würde Deutschland bei den aktuell 60 Millionen Tonnen allein aus dem Nahrungsbereich jährlich 33 Milliarden Euro kosten.

Selbst wenn sich Deutschland entschließen sollte, solch horrende Summen zu zahlen: Könnte Deutschland tatsächlich 2045 "klimaneutral" werden? "Der Begriff wird in der Regel falsch verwendet", kritisiert Jochen Luhmann, Experte am Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie. "Eigentlich ist 'treibhausgasneutral` gemeint", sagt Luhmann. Das sei ein bisschen "schwächer" als klimaneutral, "bei der Treibhausneutralität werden andere Klimaeffekte ausgeblendet."

Mit den Gletschern schrumpft das Rückstrahlvermögen

Beispielsweise der Albedo-Effekt, also das Rückstrahlvermögen heller Oberflächen. Deutschlands größter Gletscher - der "Schneeferner" - bedeckte Mitte des 19. Jahrhunderts mit einer Ausdehnung von 300 Hektar noch das gesamte Zugspitzplatt, heute messen seine Reste nicht einmal mehr 20 Hektar, bis 2050 wird er wohl gänzlich geschmolzen sein. Wollte Deutschland klimaneutral werden, müsste diese verschwundene Fähigkeit, die Sonnenenergie zurück ins All zu strahlen, an anderer Stelle ersetzt werden.

Aber Deutschland will gar nicht "klimaneutral" werden – obwohl es der Kanzler das immer wieder so sagt: Paragraph 3 des Bundesklimaschutzgesetzes definiert, dass bis zum Jahr 2045 "Netto-Treibhausgasneutralität" hergestellt wird. Anders als die EU, die bis 2050 klimaneutral werden will, wie übrigens auch Großbritannien oder Japan.

Keine UN-Definition für Treibhausgasneutralität

"Die UNO hat es versäumt, Treibhausgasneutralität zu definieren", sagt Oliver Geden von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Er schätzt, dass es mittlerweile 30 verschiedene Arten von "Klimaneutralität" gibt. China zum Beispiel habe sich zum Ziel gesetzt, bis 2060 Kohlendioxid-neutral zu werden. "Das bedeutet nicht klimaneutral, denn die anderen Treibhausgase sind ja nicht adressiert", sagt Geden.

Frankreich oder Finnland hätten sich zum Ziel gesetzt, bis 2050 Kohlendioxid-neutral zu werden, "beide Länder meinen aber, dass sie treibhausgasneutral werden wollen". Neuseeland wiederum hat in seinem Ziel formuliert, bis 2050 bestimmte Treibhausgase auf null zurückfahren zu wollen.

Methan: Das unterschätzte Treibhausgas

"Nicht aber Methan, ein 28 Mal so intensives Treibhausgas verglichen mit Kohlendioxid", sagt Geden. In Neuseeland ist die Schafzucht ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, Methan bildet sich im Verdauungstrakt der Tiere. Geden: "Regierungen jedenfalls finden diese Mehrdeutigkeit gut." Einfach, weil Mehrdeutigkeit Schlupflöcher biete.

Das Ziel sei ohnehin illusorisch, urteilt Mojib Latif: "Mit der aktuellen Politik von Olaf Scholz und seinem Kabinett wird es unerreichbar". Beispielsweise sei das Heizungsgesetz zuletzt derartig verwässert worden, dass es für den Klimaschutz kaum noch etwas bringt.

Nicht nur Leugner boykottieren Klimaschutz

Latif vermutet, dass die Politik noch nicht begriffen hat, welche Kraftanstrengungen notwendig sind, um Treibhausgas-Neutralität zu erreichen. "Wer immer nur behauptet, bis 2045 klimaneutral zu werden, aber nichts Wesentliches dafür unternimmt, der boykottiert das Klimaziel!"

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